Anfang Juni 2020 informierten die russischen Medien über einen Erlass des Präsidenten zu den „Grundlagen der staatlichen Politik der russischen Föderation auf dem Gebiet der nuklearen Abschreckung“. Die deutschen Medien reagierten zunächst verhalten und unsicher. Wenn sie denn überhaupt darüber berichteten, lief das unter dem Motto „Russland hat eine neue Nukleardoktrin und die ist besonders aggressiv“. Tatsächlich ergibt sich die Frage, was daran neu ist und warum das Dokument gerade zu diesem Zeitpunkt veröffentlicht wurde.
Das Verständnis der russischen Position macht eine Vorbemerkung erforderlich. Unter den Bedingungen der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges war es etwa ab Mitte der 1980er Jahre eine in Ost und West weitgehend akzeptierte Erkenntnis, dass ein Kernwaffenkrieg weder führbar noch gewinnbar ist. Bereits zuvor hatte die völkerrechtliche Vereinbarung eines umfassenden nuklearen Abrüstungs- und Rüstungskontrollsystems begonnen – mit dem Ziel, eine weitere Verbreitung von Kernwaffen zu verhindern und zugleich ein annäherndes nukleares Gleichgewicht zwischen den beiden damals bestehenden Hauptmachtblöcken in der Welt – der NATO und dem Warschauer Pakt – zu wahren und damit die Gefahr eines ungewollten Atomkriegs reduziert werden. Zu diesem internationalen Abrüstungs- und Rüstungskontrollsystem gehörten insbesondere der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NPT) von 1968, der ABM-Vertrag über eine Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen von 1972, der INF-Vertrag zur Beseitigung der landgestützten nuklearen Mittelstreckenwaffen in Europa von 1987, die beiden Verträge zur Begrenzung der strategischen Raketenrüstung (START 1 1991 und START 2 1993) sowie der Kernwaffenteststopp-Vertrag (CTBT) von 1996. Am Ende der Blockkonfrontation und kurz danach existierte also eine weitgehend funktionierende normative Vertragsordnung zur Begrenzung der Gefahr eines Atomkrieges. Beide Blocksysteme hatten ein Selbstverständnis ihrer Militärdoktrinen als defensiv und respektierten sich gegenseitig auf Augenhöhe.
Inzwischen haben sich die internationale Lage und das geopolitische Kräfteverhältnis grundlegend geändert. Die Organisation des Warschauer Vertrages hat sich mit dem Scheitern des realen Sozialismus selbst aufgelöst; die NATO ist bis unmittelbar an die russische Grenze vorgerückt; China hat sich wirtschafts- und militärpolitisch zu einem „global Player“ entwickelt; die USA haben ihre unangefochtene Rolle als Weltpolizist verloren und das internationale Rüstungskontrollsystem ist zerbrochen, respektive weitgehend außer Kraft gesetzt worden. Neue Kernwaffenmächte sind entstanden und beteiligen sich an einem vorwiegend qualitativen nuklearen Wettrüsten. Technologische Entwicklungen begünstigen neue Optionen zur Kriegführung, die die Schwelle zwischen Krieg und Frieden verwischen lassen. Insbesondere die Tendenz zur Miniaturisierung von Kernwaffen bei gleichzeitiger Entwicklung neuer Raketenabwehrsysteme begünstigt das Wiederaufleben der Debatte über die Führbarkeit von begrenzten Atomkriegen. Die NATO und der transatlantische Westen insgesamt geben die Alleinschuld an dieser Entwicklung Russland und China und bewerten deren Verhalten als aggressiv.
Auf die Rolle von China soll hier nicht weiter eingegangen werden.
Russlands Sicht auf die genannten Veränderungen und Vorwürfe des Westens wird in dem genannten Dokument vom 2. Juni 2020 zur nuklearen Abschreckung klar erkennbar. Die erste Frage, die sich hierbei stellt, ist die Frage, was an den russischen Aussagen zur nuklearen Abschreckung tatsächlich neu ist. Für sicherheitspolitisches Fachpersonal in Deutschland sind die entsprechenden Aussagen nämlich keineswegs überraschend. Dennoch sollen zwei Aspekte besonders hervorgehoben werden:
- Erstens: Mit diesem Dokument werden erstmals die offiziellen Positionen Russlands über die Grundlagen der staatlichen Politik auf dem Gebiet der nuklearen Abschreckung öffentlich gemacht. Bisher waren diese Aussagen Bestandteil einer geheimen Anlage zum Grundsatzdokument der Russischen Föderation über die Militärdoktrin von 2014. Zugleich werden mit dem Dokument vom 2. Juni 2020 die Bedingungen und Ziele des Einsatzes von Kernwaffen entsprechend der eingetretenen Veränderungen der internationalen Situation präzisiert. Insofern versteht sich das Dokument nicht als neue Nukleardoktrin, sondern als Untersetzung der seit 2014 gültigen Militärdoktrin.
- Zweitens: Der Erlass legt die letzte Entscheidungsgewalt über einen Kernwaffeneisatz in die Hand des Präsidenten. Damit soll offensichtlich die Fähigkeit Russlands für eine schnelle Entscheidungsfindung und entschlossenes militärisches Handeln demonstriert werden. Diese Rolle Putins dürfte die potenziellen militärischen Gegner Russlands am ehesten beunruhigen und für eigenständigen Diskussionsstoff und Erklärungsbedarf
Was aber bewegte die Kreml-Spitze, dieses Dokument gerade jetzt, also im Frühsommer 2020, der internationalen Öffentlichkeit zu übergeben? Ganz offensichtlich diente das russische Regierungsdokument der unmittelbaren Vorbereitung von offiziellen Gesprächen zwischen den USA und der Russischen Föderation zur strategischen Stabilität. Diese Gespräche haben am 22. Juni dieses Jahres in Wien auf der Ebene der Außenministerien begonnen und sollen im Rahmen von Arbeitsgruppen weitergeführt werden. Diese Gespräche können jedoch nur als unmittelbarer Anlass der Publikation gewertet werden. Die Hintergründe liegen tiefer und berühren vor allem die inhaltlichen Aussagen des Dokuments.
Dmitri Trenin, der Direktor des Carnegie Moscow Center, schreibt in einem Aufsatz zur Erklärung des Dokuments: „Der Zeitpunkt der Veröffentlichung legt […] nahe, dass der Kreml eine Welt ohne Rüstungskontrolle ernst nimmt und sich darauf vorbereitet.“ Das heißt, Russland ist dabei, sich darauf einzustellen, dass die Welt ohne die bisher bestehende und auch funktionierende normative Vertragsordnung zur nuklearen Rüstungskontrolle auskommen muss und zu einer unregulierten Politik der nuklearen Abschreckung als Instrument der Friedenssicherung zurückkehren wird.
Trenin wertet den Präsidentenerlass insbesondere als Reaktion auf die Präzisierung der amerikanischen Kernwaffendoktrin von 2018 (Nuclear Posture Review – NPR), die Optionen für eine begrenzte Anwendung von Kernwaffen geringen Kalibers in realen militärischen Operationen vorsehe und die Notwendigkeit frühzeitiger Nuklearoperationen betone. Russland lehne die amerikanischen Vorstellungen zur Führung eines begrenzten Atomkriegs ab, da dieser, so Trenin, „auf dem Territorium Russlands oder in dessen Nähe ausgetragen“ werden solle. Für den Moskauer Experten ist der Erlass mit der Offenlegung ihrer Rahmenbedingungen ein Zeichen für die Transparenz der Nukleardoktrin Russlands und zugleich der Bereitschaft zum Start eines neuen Dialogs.
Trenin macht auf drei „Botschaften“ aufmerksam, die das Dokument enthalte:
- In Auseinandersetzung mit der westlichen Unterstellung, dass Russland eine Politik der nuklearen „Eskalation zur De-Eskalation“ betreibe und damit zu einem frühzeitigen Kernwaffeneinsatz neige, orientiere das Dokument auf das genaue Gegenteil: Russland vertraue unverändert auf seine Kraft der Abschreckung ohne sich auf einen realen Kernwaffeneinsatz festzulegen.
- Eine zweite Botschaft richte sich an jene Verbündeten der USA, die es zulassen, dass Kernwaffen (insbesondere Mittelstreckensysteme), Raketenabwehrsysteme oder andere strategischen High-Tech-Waffen der USA (mit oder ohne Nuklearsprengstoff) auf ihrem Territorium in Grenznähe zu Russland stationiert werden. Das würde diese Systeme und Einrichtungen zu Objekten der russischen Zielplanung machen und würde als „äußerst gefährliche Entwicklung“ angesehen.
- Die dritte Botschaft bezieht sich auf den Verweis, dass Angriffe gegen die kritische Infrastruktur Russlands, die für die Kontrolle und den Einsatz von Kernwaffen verantwortlich ist, eine Reaktion mit Atomwaffen hervorrufen könnte. Das könnten zum Beispiel Cyberangriffe auf strategische Befehls-und Kontrollsysteme Russlands sein.
Zu den Hintergründen des russischen Präsidentenerlasses gehören aber nicht nur die offiziellen doktrinären Aussagen der USA sondern auch reale politische Aktivitäten des Westens, die Russland beunruhigen. Russland fühlt sich insbesondere seit 2014 durch eine zunehmend russlandfeindliche Politik des Westens bedroht, ausgegrenzt, verleumdet, gedemütigt, provoziert, missioniert, sanktioniert und isoliert.
Irritierend ist dabei die Scheinheiligkeit, mit der die USA und einige ihrer Verbündeten sowie NATO-Repräsentanten Russland mit Vorwürfen über einseitig aggressives und völkerrechtswidriges Verhalten belegen und sich selbst keineswegs anders verhalten. Insbesondere trifft das auf solche Aktivitäten zu wie die Flottenmanöver, die die NATO im Frühjahr 2020 im Schwarzen Meer, in der Ostsee und im Nordmeer durchgeführt hat und die von Russland als Bedrohung wahrgenommen werden. Dazu gehört auch das Logistikmanöver „Defender Europe 2020“, bei dem zum Zeitpunkt des 75. Jahrestages der Beendigung des zweiten Weltkrieges NATO-Truppen bis unmittelbar an die russische Staatsgrenze herangeführt wurden. Als i-Punkt dieser als Provokation wahrgenommenen Aktivitäten erscheint das Manöver „Defender Europe 2020 Plus“, das speziell enge polnisch-amerikanische Beziehungen demonstrieren sollte.
Dazu gesellt sich die auffällige Unberechenbarkeit des amerikanischen Präsidenten, der gerade während der Coronakrise statt auf Kooperation voll auf Konfrontation geschalten hat. Trump hat nunmehr auch den „Open Skies“-Vertrag von 1992 einseitig gekündigt. Dieser Vertrag ermöglichte gegenseitige Beobachtungsflüge und wirkte vor allem vertrauensbildend. Die US-Vertragskündigung war – ohne Zutun Russlands – der bisher jüngste Schritt zur Zerstörung des internationalen militärpolitischen Vertragssystems. Es muss nicht der letzte gewesen sein, denn bekanntlich wird in Washington auch der New Start-Vertrag zur Disposition gestellt.
Was ist das Fazit einer nüchternen und sachlichen Beurteilung des Dokuments über die Grundlagen der nuklearen Abschreckungspolitik Russlands?
Russland hat gezeigt, dass es bereit ist, sich auf die neue Situation einzustellen, aber auch für einen neuen Dialog zur Verfügung steht. Russland legt seine Karten offen auf den Tisch. Den Defensivcharakter seiner Nukleardoktrin nimmt man Russland eher ab als den USA. Dafür sprechen vor allem historische Erfahrungen. Russland hat seit dem Beginn seiner Staatlichkeit nie einen Krieg gegen den europäischen Westen angezettelt, wurde aber mehrfach (1812, 1914 und 1941) aus dieser Richtung in seiner Existenz bedroht.
Russland will vor allem seine eigenen Probleme lösen. Zu mehr ist es ökonomisch auch gar nicht in der Lage. Ein Vergleich seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und seiner Militärausgaben mit denen der NATO macht das überdeutlich. Russland handelt nicht aus einer Position der ökonomischen und militärischen Stärke. Es will keinen neuen Rüstungswettlauf. Das ist seine Grunderfahrung aus der Zeit der Blockkonfrontation.
Insofern ist Russlands Abschreckungspolitik eine Politik der Minimalabschreckung, die auf ausgewählte qualitative Bereiche fokussiert ist und vor allem auf den Erhalt der nuklearen Zweitschlagfähigkeit abzielt. Russland will keineswegs einen frühen Einsatz von Kernwaffen sondern zeigt Entschlossenheit, einen Kernwaffenkrieg zu verhindern und alle potenziellen Gegner davor abzuschrecken. Russland hält die Begrenzung eines Nuklearkriegs – zumal auf seinem eigenen Territorium – für eine Illusion. Allerdings widerspiegelt das neue Grundlagendokument auch Veränderungen im militärpolitischen Denken Russlands sowie die Suche nach Antworten auf die geostrategischen Entwicklungen. Man darf also auch darauf gespannt sein, wie sich die Debatte in Russland selbst entwickelt.
P.S.: Als Mitglied der NATO wäre Deutschland mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Teilnehmer und Betroffener einer nuklearen Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland. Wer – wie der Autor – schon zu Zeiten der Blockkonfrontation mit dieser Frage befasst war, verfügt dabei über die Erfahrungen und auch über das Vorstellungsvermögen, was ein großer Krieg in Europa bedeuten würde, und weiß zugleich, dass eine Politik der Abschreckung im High-Tech-Zeitalter und ohne wirksame Rüstungskotrollmechanismen noch weitaus fragiler wäre als während des Kalten Krieges vor mehr als 30 Jahren. Die Alternative zur nuklearen Abschreckung kann letztlich nur ein System der gemeinsamen Sicherheit in Europa – wie auch in anderen Regionen der Welt – sein.
Das erfordert von allen geostrategischen Rivalen ein Umdenken. Statt zu einer allgemeinen Wiederbelebung der nuklearen Abschreckung muss es zu einer Intensivierung des politischen Dialogs kommen. Genau darauf sollte es allen an Frieden und Stabilität interessierten Kräften in den USA, in Russland und auch in Deutschland ankommen. Es geht um die Durchsetzung des Primats der politischen Logik gegenüber der militärischen. „Schon ein erneutes Bekenntnis zum Statement der Präsidenten Gorbatschow und Reagan“, da kann Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) nur zugestimmt werden, wäre in diesem Zusammenhang „ein wichtiges politisches Signal: Ein Atomkrieg kann nie gewonnen und darf nie geführt werden.“
Schlagwörter: Abschreckung, Atomwaffen, Frieden, Krieg, Nukleardoktrin, Russland, USA, Wilfried Schreiber