22. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2019

Mehr Vergangenheit wagen

von Bernd Greiner und Bernd Rother

Seit dem Ende des Kalten Krieges vor jetzt dreißig Jahren hat sich die Erde nicht nur weitergedreht, die Welt ist eine komplett andere geworden. Die alte Bipolarität hat abgedankt, Multipolarität ist an ihre Stelle getreten, wer die Rolle einer neuen Ordnungsmacht übernimmt, weiß niemand. Die USA können nicht mehr, wie sie wollen, siehe Obama, oder wollen nicht mehr, wie sie es doch noch könnten – siehe Trump. Und China kann noch nicht, wie es möglicherweise will.
Auch auf regionaler Ebene werden die Karten völlig neu gemischt. Die Zeiten, in denen Sicherheitspolitik bilateral ausgehandelt werden konnte – etwa zwischen Bonn und Moskau oder zwischen Warschau und Bonn – sind unwiderruflich vorbei. Kleinstaaten und Mittelmächte verbitten sich nicht nur eine Politik über ihre Köpfe hinweg, sondern verfügen mittlerweile auch über die Instrumente zur Selbstbehauptung.
Die neue Unübersichtlichkeit wird seit Jahren kommentiert und analysiert. Aber selbst die klügsten Analysen treten auf der Stelle, weil sie Probleme nur beschreiben, ohne sich Gedanken über deren Lösung zu machen.
Seit Jahren streitet man speziell in Deutschland über außenpolitische Verantwortung und hauptsächlich um die immer gleiche Frage: Ob eine Erhöhung der Rüstungsausgaben um ein, anderthalb oder zwei Prozent angemessen ist. Oder wer mit Panzern, Schnellfeuerwaffen und U-Booten beliefert werden darf und wer nicht. Oder wie die Nato zu reformieren ist, wenn die USA als verlässlicher Partner ausfallen.
Frieden schaffen mit mehr Waffen im Beraterjargon unserer Tage: „Dem Realismus freie Bahn“. Man muss gerüstet sein, wer es versäumt, wird über kurz oder lang die Rechnung bekommen.
Wenn dagegen diplomatische „soft power“ überhaupt zur Sprache kommt, dann im Gestus verschämter Leisetreterei – als betrete man eine Spielwiese für ewig gestrige Idealisten.
Ein bekanntes Phänomen: In Zeiten, in denen das Alte abgedankt hat und Neues noch nicht greifbar ist, prämieren Verzagtheit oder deuten Ideenarmut als Zeichen höherer Einsicht. Doch worüber nicht diskutiert wird, sagt oft mehr über eine Zeit als viele wortreiche Debatten.
Was immer heute daraus folgt, eines liegt auf der Hand: Eine tragfähige Sicherheitsarchitektur für das 21. Jahrhundert ist mit derlei Hasenfüßigkeit nicht zu haben.
Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick auf den Kalten Krieg. Im Vergleich zu heute mutet ausgerechnet diese Zeit wie eine Schatzkammer politischer Phantasie an.
Entmilitarisierte Zonen, gemeinsame Sicherheit, Wandel durch Annäherung: Die Stichworte sind bekannt, ihre Protagonisten ebenfalls. Mal preschten Friedens- und Zukunftsforscher vor, mal Diplomaten und Spitzenpolitiker, vereinzelt auch Militärs. In Deutschland, Schweden und Österreich, schließlich auch in der UdSSR beglaubigten Willy Brandt, Olof Palme, Bruno Kreisky und Michail Gorbatschow eine ebenso einfache wie folgenreiche Maxime: Realpolitik betreibt, wer sich den Realitäten seiner Zeit nicht fügt, sondern die Bruchstellen im vermeintlich Alternativlosen sondiert. Und wer das Risiko des Scheiterns nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung versteht. Ohne ihr Auftreten, samt der Inspiration für zahlreiche Nachfolger, wäre der Kalte Krieg vermutlich anders verlaufen und weniger glimpflich zu Ende gegangen.
Nachdem im August 1968 die UdSSR dem reformkommunistischen Experiment in Prag den Garaus gemacht hatte, forcierte Willy Brandt die Entspannungspolitik – nicht trotz, sondern gerade wegen des Einmarschs der Roten Armee in der CˇSSR. Wären Brandt und seine Mitstreiter dem Geist ihrer Zeit gefolgt, hätten sie Sanktionen verhängen oder einen Krieg der Worte entfachen müssen – und eine historische Chance verspielt.
Ein ähnliches Bild boten die frühen 1980er Jahre. Sowjetische Truppen besetzten Afghanistan, in Polen sollte die unabhängige Gewerkschaftsbewegung Solidarność mit den Mitteln des Kriegsrechts unterdrückt werden. Unbeeindruckt vom Gepolter aus Washington hielten europäische Regierungen – allen voran Frankreich und die Bundesrepublik – am Ost-West-Dialog fest und entgifteten damit die üblen Propagandaschlachten zwischen Moskau und Washington. Dass weiterhin über Strittiges verhandelt wurde, drückte der Zeit einen nachhaltigeren Stempel auf als das Raketenschach der Supermächte.
Nicht zu vergessen das Jahr 1987. Hartnäckig hält sich die Mär, dass der Kreml seine Politik nur unter dem Druck westlicher „Nachrüstung“ änderte. Von wegen. Michael Gorbatschow sah ein, dass mit der Fixierung auf das Militärische keiner Seite gedient ist. Darum drehte sich sein neues Denken, deshalb erweckte er die scheinbar absurdeste aller Ideen zu neuem Leben: einseitige Vorleistungen. Er ging dieses Wagnis ein, indem er die amerikanische Weltraumrüstung vom Streit um Mittelstreckenraketen in Europa entkoppelte. Erst wegen dieses Anstoßes konnte sich der mittlerweile kompromissbereite Ronald Reagan im eigenen Lager durchsetzen. Danach dauerte es keine zwei Jahre bis zur Unterschrift unter den ersten Abrüstungsvertrag nach 1945 und die Verschrottung einer kompletten Generation nuklearer Waffen.
Und heute? Gewiss, der Einwand ist naheliegend und kommt entsprechend gefällig daher: Jede Zeit braucht ihre eigenen Antworten, was gestern richtig war, kann heute grundfalsch oder schlicht wirkungslos sein. Doch das Jammern über das Offensichtliche (dass neue Antworten eben viel Zeit brauchen) oder der Appell an das Selbstverständliche (dass unsere liberale Ordnung energisch geschützt werden muss) hilft nicht viel. Im Gegenteil: Sie suggerieren wieder einmal militärische Antworten, ohne über die politischen Fragen nachgedacht zu haben. Eben deshalb ist die hemdsärmelige Entsorgung von Ideen und Erfahrungen zurückliegender Epochen nicht allein geschichtsvergessen, sondern fahrlässig.
Was also lässt sich aus einer untergegangenen Welt in unsere heutige Zeit übersetzen? Wohlgemerkt: Nicht einfach übernehmen, sondern aufnehmen und an geänderte Umstände anpassen.
In der intellektuellen Asservatenkammer des Kalten Krieges finden sich vor allem zwei bedenkenswerte, hoch aktuelle Stichworte: „Gemeinsame Sicherheit“ und „diplomatisches Dauergespräch“.
Angestoßen vom schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme und der von ihm geleiteten „Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit“ kam in den frühen 1980er Jahren Bewegung in die sicherheitspolitische Debatte. Insbesondere wurde eine behutsame Abkehr vom Katechismus der Nato in die Wege geleitet. Nämlich von dem Dogma, dass Stabilität nur durch die Verkoppelung von politischer Entspannung und militärischer Abschreckung zu bewerkstelligen ist. Dem setzte Palme eine historisch zigfach bestätigte Erkenntnis entgegen: Rüstung ist eine permanente Quelle von Instabilität, sie untergräbt die Arbeit von Diplomaten, weil sie auf Misstrauen fußt und noch mehr Misstrauen sät.
Was umgekehrt bedeutet: Vertrauen entsteht nur, wenn der diplomatischen Regulierung von Konflikten eine höhere Wertigkeit beigemessen wird als Investitionen ins Militär – wenn also Sicherheit in erster Linie als politisches Problem verstanden wird. Tatsächlich war seit Mitte der 1980er Jahre weniger von „nationaler Sicherheit“ als von „gemeinsamer Sicherheit“ die Rede – und davon, dass alle zusammen verlieren, wenn sie nicht gemeinsam gewinnen wollen. Und für kurze Zeit wurde der Überbietungswettbewerb um die stärksten Waffen zwischen Ost und West auf Eis gelegt. Ob der Kalte Krieg auch ohne diese Wende friedlich zu Ende gegangen wäre, darf bezweifelt werden.
Das allein ist ein guter Grund, den Impuls von Olof Palme wieder aufzugreifen, ganz davon abgesehen, dass noch niemand eine schlüssigere Antwort auf die Frage gegeben hat, wie Politik im Wettlauf mit Waffentechnologie aus der Rolle des Igels herauskommen soll.
Vertrauensbildung bedarf einer auch und gerade in Schlechtwetterperioden haltbaren Grundlage. Dazu leisten Gipfeltreffen und sonstige Kontakte zwischen Staats- und Regierungschefs, so unverzichtbar sie zweifellos sind, nur einen bescheidenen Beitrag – weil Symbolik oft wichtiger ist als Substanz oder weil die Agenda so häufig wechselt wie das Spitzenpersonal. Den Dialog zu verstetigen und unabhängig vom Diktat des Tagesgeschäfts zu institutionalisieren, ist die eigentliche Herausforderung.
Auch hier steht der Kalte Krieg mit einer Anregung Pate: in Gestalt der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“, die Mitte der 1970er Jahre mit großem Aplomb eröffnet wurde und in der Folge vergleichsweise geräuschlos fast zwanzig Jahre weiterarbeitete. Im Vergleich zu den heutigen Schrumpfversionen des Ost-West-Dialogs nimmt sich die Bilanz der „KSZE“ noch eindrucksvoller aus.
Sich damals auf ein Experiment mit offenem Ausgang einzulassen, war bemerkenswert genug. Die USA hielten wenig davon, auch in Westeuropa gab es gewichtige Stimmen, die unter Verweis auf die vermeintliche Unkalkulierbarkeit der UdSSR keine Perspektive erkennen konnten. Noch erstaunlicher ist indes, dass die Geschichte der „KSZE“ und ihrer Nachfolgekonferenzen im Nachhinein wie eine Gebrauchsanleitung für ertragreiche Vertrauensbildung gelesen werden kann. Zum einen, weil die „Kleinen“ mit den „Großen“ an einem Tisch saßen und tatsächlich eine Stimme hatten. Zum anderen, und das war der Clou, weil auch Spitzenmilitärs eingebunden wurden und erfolgreich über Waffeninspektionen vor Ort, Manöverbeobachtung und andere „Kontrollregime“ verhandelten.
Diese Dauergespräche entwickelten ihre eigene Dynamik, förderten Transparenz und gegenseitiges Verständnis. Nicht zuletzt sozialisierten sie eine Generation von Diplomaten, die auf nationaler und internationaler Ebene ein Wissensreservoir zur Moderation von Konflikten und Krisen aufbauten, bisweilen auch als politisches Korrektiv gegen ideologische Scharfmacher in Erscheinung traten. Trotz dieser Erfahrungen den „Nato-Russland-Rat“ de facto aufzukündigen, gehört zu den gravierenden – aber durchaus korrigierbaren – Fehlleistungen in jüngster Zeit.
Willy Brandt beharrte als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission in den frühen 1980er Jahren darauf, dass es mit einer Aufwertung der Diplomatie oder kreativen Gesprächsforen keineswegs getan ist. Sein Vokabular – Sozialverträglichkeit, verbrauchsreduzierte Wirtschafts-, Energie- und Klimapolitik – klingt noch immer vertraut. Weitgehend in Vergessenheit geraten ist indes die politische Pointe: Um nachhaltig zu sein, muss sich Sicherheitspolitik nicht allein von der Fixierung auf militärische Machtprojektion, sondern auch von der Vergötzung wirtschaftlichen Wachstums lösen. Stattdessen plädierte Brandt für einen Wiederaufbau der südlichen Halbkugel durch Ressourcentransfer aus dem Norden. Womit nichts anderes als Umverteilung von Macht zugunsten ehedem schwacher und zu Lasten traditionell starker Staaten gemeint war. Oder der endgültige Abschied vom Recht des Stärkeren. Warum diese Vision damals keine praktischen Konsequenzen hatte und heute wie ein klassenkämpferischer Anachronismus klingt, liegt auf der Hand. Dass eine zeitgemäße Sicherheitspolitik an ihr auf Dauer nicht vorbeikommt, ebenfalls.
Kann man die Gegenwart tatsächlich mit Melodien der Vergangenheit zum Tanzen bringen? Die Frage erübrigt sich. Wer sie nicht stellt, wird auch keine Antwort bekommen.

Aus den Blättern für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 11/2019 (www.blaetter.de). Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autoren und des Verlages.