22. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2019

Bemerkungen

Der schnelle Snell

Die Olympischen Spiele in Tokio werfen ihre Schatten voraus, und aus gegebenem Anlas sei ein Blick ins Jahr 1964 zurückgeworfen, als die Riesenstadt schon einmal olympischer Gastgeber war. Eine der Helden der 64er Spiele war der neuseeländische Mittelstreckenläufer Peter Snell.
Als neunjähriger Dreikäsehoch sah ich zum ersten Mal olympische Leichtathletik im Fernsehen. Zeitversetzt in flackerndem Schwarz-Weiß waren die ersten Bilder, an die ich mich deutlich erinnere, die vom 800-Meter-Lauf: Zunächst am Ende des Feldes liegend, überspurtete Snell alle Rivalen und verteidigte seinen Olympiasieg von Rom 1960. Wenige Tage später dominierte er im Start-Ziel auch den 1500-Meter-Lauf und gewann sein drittes olympisches Gold. Wie ich waren viele meiner Klassenkameraden vom schnellen Snell beeindruckt.
Mit eiserner Energie erkämpfte sich Snell seinen Weg an die Spitze – im Sport wie im Beruf. Der gelernte Bauarbeiter erwarb im Abendstudium das A-Level (das Äquivalent zum Abitur), studierte in den USA Medizin und brachte es in Dallas an der hoch renommierten University of Texas zum Professor für Sportwissenschaft. Seine zahlreichen Publikationen reichten thematisch vom Zusammenhang von Stoffwechselvorgängen und Trainingsabläufen in mehreren Sportarten bis hin zu sporttherapeutischen Übungsmodellen in der pränatalen Diagnostik. Er lernte Spanisch, um Patientinnen in ihrer Muttersprache hilfreich zu sein. Die neuseeländische Massey University verlieh ihm ein Ehrendoktorat.
Nach seiner Emeritierung blieb Snell als Gastprofessor seiner Universität in Texas verbunden, forschte und publizierte weiter. Auch sportlich blieb er aktiv, so brachte er es zum amerikanischen Senioren-Meister im Orientierungslauf. Am 12. Dezember 2019, fünf Tage vor seinem 81. Geburtstag, ist er aus seinem Nachmittagsschlaf nicht mehr erwacht.

Mario Keßler

Film ab

Ein Film für ein spezielles Publikum, und doch hat er in Frankreich eine halbe Million Zuschauer ins Kino gelockt. Die titelgebenden „Glitzernden Garnelen“ sind eine Mannschaft schwuler Wasserballer. Rekordschwimmer Matthias hat einen Fernsehreporter als „Schwuchtel“ bezeichnet, zur Bewährung zwingt ihn sein Verband, die „Garnelen“ zu trainieren. Die Regisseure Maxime Govare und Cédric Le Gallo, auch am Szenarium beteiligt und im Regiefach wenig erfahren, haben offenbar einen Drehbuchratgeber gelesen und im Bemühen, es allen Zuschauern recht zu machen, keinen Aspekt ausgelassen. Der eigentlich nicht homophobe Matthias ist ehrgeizig, aber sonst ein netter Kerl. Seine kleine Tochter darf zum Training mitkommen und ist von den Sportlern fasziniert. Unter ihnen gibt es hübsche junge und nicht auf den ersten Blick schöne ältere. Einer hat Familie und zu wenig Zeit für sie, ein anderer hat eine tödliche Krankheit, was niemand wissen soll, es gibt ein schüchternes Landei, das schließlich auch aus sich herausfindet, und auch eine Transgender-Sportlerin ist dabei, für jeden Geschmack etwas. Oft tragen sie ihre Probleme aus, schwuchteln aber auch gern mal herum. Weil es allen recht getan sein muss, führt die Sportler ihr Weg zu den Gay Games an Dachau vorbei, und da wird kurz daran erinnert, dass dort auch Homosexuelle gequält wurden. Ob die „Garnelen“ bei den Gay Games in Split gewinnen, soll hier nicht verraten werden, aber wer solche Filme kennt, weiß es schon.
Statt einer starken Handlung gibt es eine Kette von Einzelcharakteren. Das fesselt nicht knappe zwei Stunden – es sei denn, man ist Wasserballer, schwul oder beides. Dass das auf eine halbe Million Franzosen zutrifft, könnte allerdings sein.
Die glitzernden Garnelen – Les crevettes pailletées, Regie Maxime Govare und Cédric Le Gallo. Frankreich. 2018/19, Verleih Edition Salzgeber, seit 5.12. in ausgewählten Kinos

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Deutsche Regisseure, wie Detlef Sierck (Douglas Sirk) und Rainer Werner Fassbinder, die sich geschickt dem Melodram widmeten, nennt der in Berlin lebende brasilianische Regisseur Karim Aïnouz als seine Vorbilder. Mit seinem Film „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ nach einem Roman von Martha Batalha bedient er sich einerseits der Versatzstücke des Genres, entwickelt sie aber gleichzeitig weiter. Mit seiner grandiosen Bildgestalterin Hélène Louvart erzählt er die Geschichte modern, realistischer, verzichtet auch auf schmalzigen Musikeinsatz. Was geschieht, geht doch aber ans Herz. Zwei fast erwachsene Schwestern in Rio de Janeiro der 50er Jahre sind aufeinander eingestimmt. Eine kann ohne die andere nicht lange sein. Als aber Guida der Versuchung nicht standhält und mit einem Matrosen durchbrennt, beginnt das Verhängnis. Er lässt sie geschwängert sitzen, und bei der Rückkehr ins Elternhaus wird sie vom Vater für immer aus dem Haus und aus dem Leben der Familie verbannt. Sie findet in einem heruntergekommenen Viertel in Rio Unterschlupf und gute Freundinnen, arbeitet in einer Fabrik. Die andere Schwester, Eurídice, geht eine ordentliche bürgerliche Ehe ein, in der sie sich nicht verwirklichen kann. Jede der Schwestern versucht vergeblich, der anderen auf die Spur zu kommen. Guidas Briefe erreichen Eurídice nicht, weil der Vater sie nicht weitergibt.
Aïnouz baut Szenen, deren Spannung durch die Psychologie der Figuren entsteht, und mit Carol Duarte und Júlia Stockler hat er zwei außerordentliche Debütantinnen gefunden, die die Story glaubhaft machen. Dazu kommt die große, mittlerweile 90-jährige Fernanda Montenegro („Central Station“) in den Szenen der Gegenwart.
Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão. Regie Karim Aïnouz. Original mit Untertiteln, Verleih Piffl Medien, ab 26.12. in ausgewählten Kinos.

bebe

Schauspielerleben

Wer Filme aus der DDR gern sieht, vermisst einige Lieblinge von damals, die sich aus dem Beruf zurückzogen. Zu ihnen zählt Regina Beyer, die seit ihrer Hauptrolle im ersten 70mm-Spielfilm der DEFA „Hauptmann Florian von der Mühle“ (1967) neben Manfred Krug Heerscharen vornehmlich männlicher Zuschauer in den Bann schlug. Krug begegnete sie 1997 mit 50 noch einmal in „Liebling Kreuzberg“, ehe sie sich für viele zu früh aus dem Beruf verabschiedete. Was sie seitdem gemacht hat, gehört zu den Geheimnissen, die sie jetzt in ihrem Erinnerungsbuch „Ein Schauspieler spielt selten allein“ ausplaudert. Mit Hilfe von Andreas Püschel haben sie und ihr Ehemann Volkmar Kleinert ihre Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Dass die Beyer die Frau an der Seite von Charakterstar Kleinert ist, stellt auch so ein „offenes Geheimnis“ dar, gerade für die Älteren, die sich noch erinnern, dass Regina Beyer vor fast 50 Jahren eine Art „Traumpaar“ mit Frank Obermann (gemeinsamer Film: „Hart am Wind“, 1970) bildete. Die Ehe hielt nur kurz – das Leben mit Volkmar Kleinert, der aus einem musikalischen Elternhaus stammt und doch lieber Schauspieler wurde, währt schon Jahrzehnte. Wie Kleinert (jüngster Kinofilm: „Lara“, 2019), der in Karl-Marx-Stadt erste Sporen verdiente, ans Deutsche Theater Berlin kam und für Jahrzehnte blieb, erzählt er selbst sehr plastisch. Er stand in fast 150 Produktionen bei Film und Fernsehen vor der Kamera, immer in großen, selten in Hauptrollen. Zu den Ausnahmen zählt die Stanislaw-Lem-Adaption „Der getreue Roboter“, in der er 1977 in der Titelrolle faszinierte. Schade, dass der Band kein Rollenregister hat, aber lesenswert ist dieses Stück DDR-Kulturgeschichte (und ein wenig danach) allemal!
Volkmar Kleinert, Regina Beyer: Ein Schauspieler spielt selten allein. Mitarbeit Andreas Püschel. Verlag neues leben, Berlin 2019, 208 Seiten, 20 Euro.

fbh

WeltTrends aktuell

Europa müsse auch die Sprache der Macht lernen, verlangte die neue EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen jüngst in Berlin. Man müsse eigene Muskeln aufbauen, zum Beispiel in der Sicherheitspolitik. Ihre Antwort auf die im Thema von WeltTrends gestellte Frage ist damit ziemlich klar. Die in diesem Heft gegebenen Antworten sind andere. Es geht um Realitätssinn, Perspektivwechsel, aber auch um den nötigen Blick in die Geschichte. André Brie erinnert zum Beispiel an den „Spinelli-Entwurf“ zur Gründung der Europäischen Union von 1984 – wer kennt den noch?
Der WeltBlick beschäftigt sich mit Aspekten türkischer Außenpolitik. Hatte Staatsgründer Kemal Atatürk noch auf besonnene Neutralitätspolitik gesetzt, so praktiziert der heutige Präsident Erdogan eine Politik des Neo-Osmanismus. Opfer dieser Politik sind die Kurden, wird im zweiten Artikel beklagt.
Im Kommentar charakterisiert MdB Sevim Dağdelen die jüngste Militäraktion des NATO-Staates Türkei in Nordsyrien als einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Auf die außenpolitische Agenda hierzulande sollte an die Stelle großstrategischer Geisterfahrten der Verteidigungsministerin endlich die diplomatische Unterstützung der UN-Aktivitäten in Syrien gesetzt werden.
Im Forum geht es in Fortsetzung des November-Themas um Polen nach den Wahlen wie auch um das polnisch-russische Verhältnis.
Als ein Vorbild einer Reihe universeller Verträge schätzt Völkerrechtsexperte Gunter Görner in der Historie den 1959 abgeschlossenen Antarktisvertrag ein.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 158 (Dezember) 2019 (Schwerpunktthema: „Polen und sein Osten“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

Ein vertraulicher Fundus von Regierungsdokumenten, die der Washington Post zugänglich wurden, enthüllt, dass hochrangige Regierungsvertreter der USA während des 18-jährigen Krieges in Afghanistan über dessen Verlauf systematisch gelogen und über unwiderlegbare Beweise geschwiegen haben, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist.
Die Dokumente über diesen längsten bewaffneten Konflikts in der Geschichte der USA umfassen mehr als 2000 Seiten mit über 400 Interviews von am Krieg direkt Beteiligten – von Generälen und Diplomaten bis hin zu afghanischen Beamten. Gespräche mit hochrangigen Militärs etwa verdeutlichen, dass den entsandten Truppen die eigentlichen Ziele unklar waren. Douglas Lute, Generalleutnant unter Bush und Obama, gab 2015 zu Protokoll: „Uns fehlte ein grundlegendes Verständnis von Afghanistan – wir wussten nicht, was wir taten.“
Craig Whitlock: At war with the truth, washingtonpost.com, 09.12.2019. Zum Volltext hier klicken.

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„Am 5. November 2019“, so Eberhard Schneider, „veröffentlichte die Zeitung ‚Wedomosti‘ einen Artikel unter der Überschrift ‚Fast 60 Prozent der Russen befürworten entscheidende Veränderungen im Land‘. Dem Artikel liegt eine Analyse der Befragung von 1600 Personen in ganz Russland im Juli 2019 über die Notwendigkeit von Veränderung zugrunde, die im Auftrag von Carnegie Moskau durchgeführt worden war.“
Eberhard Schneider: Was soll verändert werden?,
russlandkontrovers.com, 28.11.2019. Zum Volltext hier klicken.

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„Terroristische Organisationen wollen Atomwaffen erwerben, und wenn sie erfolgreich sind, werden sie sie so schnell wie möglich bei einem Angriff einsetzen“, so beschreiben Christopher McIntosh und Ian Storey die heute im Westen gängige Auffassung der Politik und der sicherheitspolitischen Community und fragen, ob diese Annahme zutreffend sei. Die Autoren ihrerseits meinen: „Terroristen könnten mehr verlieren, als sie durch die Detonation einer Atombombe gewinnen.“
Christopher McIntosh / Ian Storey: Would terrorists set off a nuclear weapon if they had one? We shouldn‘t assume so, thebulletin.org, 20.11.2019. Zum Volltext hier klicken.

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„Verflogen scheint der Hauch von Aufbruchsstimmung, der das Land (Italien – d. Red.) ergriff, als Salvini, der Führer der rechtspopulistischen Lega, vergeblich im August die ,vollständige Macht‘ für sich forderte – und scheiterte“, konstatiert Tobias Mörschel und fährt fort: „Möglich wurde dieses Manöver durch eine atemberaubende politischen Kehrtwende: Die bis zum Sommer einander in erbittertster Feindschaft gegenüberstehende sozialdemokratische Partito Democratico […] und die populistische Fünfsternebewegung […] schlossen eine neue Regierungskoalition. Das Bündnis war eine Zweckehe, eine kalte Fusion eben zweier politischer Gegner, primär getragen von dem Ziel, Neuwahlen zu verhindern und Salvini den Weg zur Macht zu versperren.“
Tobias Mörschel: Sardinen gegen Salvini, ipg-journal.de, 06.12.2019. Zum Volltext hier klicken.

Letzte Meldung

„Die Deutschen sehen einer Umfrage zufolge den Klimawandel als derzeit drängendstes Problem.“ Dies hatte DIE ZEIT am 18. August mitgeteilt.
Doch wie ernst nehmen sich „die Deutschen“ eigentlich selbst, wenn sie sich so artikulieren? Etwa im Hinblick auf „des Deutschen“ liebstes Kind – das Auto?
Und speziell auf den Klimakiller Nummer eins in diesem Segment, den SUV?
Die Statistik ist da gnadenlos.
2019 – ein SUV-Rekordjahr: Schon bis Ende November waren in Deutschland circa 692.000 dieser Straßenpanzer neu zugelassen worden.
Ein Plus von rund 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr.