von Jürgen Leibiger
Wesen und Erscheinung. Den Anfangssemestern der Ökonomiestudierenden erkläre ich das Problem gerne anhand der Bewegungen von Sonne und Erde. Jahrhundertelang bewiesen die Eltern ihren Kindern die Richtigkeit des Spruchs „Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf, im Westen will sie untergehen, im Norden ist sie nicht zu sehen“, indem sie mit ihnen den Weg der Sonne im Tagesverlauf verfolgten. Und zuverlässig taucht die Sonne am nächsten Morgen wieder im Osten auf. Kein Zweifel, die Sonne dreht sich um die Erde; die Prognosekraft des Spruchs beweist sich täglich aufs Neue. Wer in alten Zeiten anderes behauptete, wurde nicht ernst genommen, verlacht oder gar verbrannt.
Die Beobachtung wurde zur Grundlage einiger der wichtigsten Erfindungen der Menschheit überhaupt, der Uhr und des Kalenders, und seit ewigem Gedenken dient sie zuverlässig der geografischen Orientierung. Es dauerte viele Jahrtausende bis im 16. Jahrhundert erkannte wurde, dass diese Beobachtung empirisch zwar nicht zu bestreiten ist, die wirklichen Bewegungen von Sonne und Erde damit aber nicht richtig erfasst sind. Hier zeigt sich, Wesen und Erscheinung können nicht nur verschieden voneinander sein, sondern sich sogar widersprechen. Und im Bewusstsein der Menschen, selbst ihrer intelligentesten Vertreter, können sich verkehrte und falsche Vorstellungen ziemlich lange halten und mitunter trotzdem zu praktikablen Anwendungen führen. Verrückt, nicht wahr?
Wenn das schon in den Naturwissenschaften der Fall ist, wen kann es da noch wundern, dass auch die Sozialwissenschaften, meist nicht zu den „exakten“ sondern zu den „spekulativen“ Wissenschaften gezählt, mit diesem Problem konfrontiert sind. Klaus Müller, vormals Professor der Politischen Ökonomie an der TU Chemnitz, später Leiter eines ökonomischen Studiengangs an der Berufsakademie Glauchau, hat in seinem Buch „Auf Abwegen. Von der Kunst der Ökonomen, sich selbst zu täuschen“ dieses und weitere Probleme dialektischen Denkens für die Ökonomie untersucht. Anhand der kontrovers diskutierten Begriffe der Ware und der Warenproduktion, des ökonomischen Werts und des Preises, von Arbeit, Geld, Kapital und Profit analysiert er die Zusammenhänge von logischer und historischer Methode, von Empirie und Theorie, von Theorie und Modell, von Allgemeinem und Besonderen, von einzelwirtschaftlicher Rationalität und gesamtwirtschaftlicher Irrationalität, von Korrelation und Kausalität und eben auch von Wesen und Erscheinung.
Wie schon der Titel verrät, setzt sich Müller anhand dieser zentralen methodologischen und inhaltlichen Fragen der Ökonomie mehr als kritisch mit den Kollegen und den (wenigen) Kolleginnen seiner Zunft auseinander. Deren Theorien hätten wenig mit der Realität zu tun. Sie würden nur sehen, was sie sehen wollen und was ihnen gefällt. Auf dem Klappentext des Buches wird gefragt: „Was ist Nationalökonomie? Exakte Wissenschaft oder Auslegungssache? Pseudolehre, ein Sammelsurium von Glaubenssätzen? Sie ist von allem etwas. Gewissheiten gibt es viele, Wahrheiten wenige. Fix und fertige Antworten sucht man vergeblich. Alles ist umstritten […] Wohin man blickt: die Begriffe unterschiedlich, die Modelle einseitig, die Standpunkte unverrückbar […].“
Natürlich sollen die zuspitzenden Formulierungen provozieren; Ökonomen-Bashing ist ja fast schon Volksport. Aber leicht macht sich Müller seine Kritik nicht; das Problem sei „knifflig“, bekennt er an einer Stelle. Seine Analysen und Argumentationen gehen den Verästelungen des Denkens bis zu den verborgenen Prämissen und Methoden der jeweiligen Theorien nach und beleuchten ihre Gegenstände von unterschiedlichen Standpunkten und Blickwinkeln aus. Ein langer Abschnitt des Buches ist der „Relativität“ gewidmet. „Ökonomische Erscheinungen sind relativ, Ökonomik ist eine Relativitätstheorie par excellence“, schreibt er. Seine Kritik gilt nicht nur der herrschenden Wirtschaftslehre, sondern mehr noch der sogenannten „Neuen Marx-Lektüre“, deren wohl bekanntester Vertreter in Deutschland Michael Heinrich ist. Er selbst sieht sich als Vertreter eines „authentischen Marxismus“; sein theoretischer Fixstern ist die Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx, der im Text nicht selten, und gelegentlich etwas nervig, als der „Meister“ auftritt.
So ganz ohne Zweifel ist auch Müller nicht. „Ich glaube“, „mir scheint es plausibel zu sein“, „es bleibt umstritten“, sind Formulierungen, die immer wieder auftauchen. Einmal schreibt er über Autoren, mit denen er sich auseinandersetzt: „Ich hatte ihnen zunächst zugestimmt (in seinem 2015 erschienenen Buch „Geld. Von den Anfängen bis heute.“), will daran hier anknüpfen und meinen Standpunkt präzisieren“. Offensichtlich kreisten seine Gedanken in den vier Jahren nach 2015 weiter um die behandelten Fragen und das „zunächst zugestimmt“ wird heute relativiert. Das ist mehr Ehrlichkeit, als die meisten Autoren üblicherweise an den Tag legen.
Wesen und Erscheinung. Keine andere Frage der Wirtschaftswissenschaften berührt deren Dialektik so sehr wie der Zusammenhang von Wert, Preis und Geld. Hier taucht das Buch am weitesten und am längsten in die Tiefen wirtschaftswissenschaftlichen Denkens. Und wer mehr erfahren möchte über das Geld und die aktuelle Geld-Diskussion, an der sich nicht nur Theoretiker und Amateure, sondern auch die Vertreter der Zentralbanken weltweit beteiligen, findet hier einen roten Faden durch den Disput.
Der These, Geld entstünde aus „nichts“ als dem Vertrauen in die Notenbanken, es bedürfe also keiner werthaltigen substanziellen Grundlage, setzt Müller logische, historische, methodologische und banktechnische Argumente entgegen. Gold sei auch in der modernen Geldwirtschaft nach wie vor unverzichtbar, auch wenn sich jede Zentralbank seit der Aufhebung des Gold-Dollar-Standards weigert, die von ihr in Umlauf gebrachten Geldzeichen in Gold einzutauschen. Müller fragt: „Die einen wollen Gold haben, die anderen weigern sich, es herauszugeben. Spricht das gegen oder für die währungspolitische Bedeutung des Streitobjekts?“ Spätestens in einer Geldkrise zeige sich, dass Gold auch als Geldware nach wie vor aktuell sei. „Es geht, wenn nichts mehr geht.“ Der Rezensent ergänzt: Gerade heute, da erneut eine Krise ihre Schatten voraus wirft, explodiert die Nachfrage nach Gold, dessen Preis neuen Höchstständen entgegenstrebt. „Ein Misstrauensvotum gegen die Notenbanken“ titelt welt.de. Selbst die Zentralbanken kaufen massiv Gold und stockten ihre Goldreserven von über 33.000 Tonnen im letzten Jahr um weitere 651 Tonnen auf. Wozu bedarf es solcher Währungsreserven, wenn Geld aus dem „Nichts“ geschaffen werden kann? Müllers Fazit an dieser Stelle ist sehr genau: „Das allein ist kein Beweis, dass es (das Gold) Geldware geblieben ist. Aber erst recht kein Beweis, dass es keine mehr ist.“
Warum das geozentristische Weltbild bis ins 16. Jahrhundert dominieren konnte, ist bekannt. Auf die Frage, wie es kommt, dass intelligente Wirtschaftswissenschaftler, egal ob Mainstream, heterodox oder marxistisch orientiert, bestimmten „Trugbildern“ aufsitzen und oft nicht sehen, was sie nicht sehen wollen, geht Müller nicht ein. Macht er dafür intellektuelle Grenzen verantwortlich, sieht er dafür psychische Gründe oder ist das durch Interessen (welche?) begründet? Die Legitimität des ursprünglichen Anliegens der Neuen Marx-Lektüre, Marx‘ Dialektik auf das Marxsche Werk selbst anzuwenden, wird leider nicht thematisiert. Mit diesen Fragen lässt Müller seine Leser allein.
Für Anfänger und Hobbyökonomen ist das Buch freilich eher nicht geschrieben. Das Wissen über manche Theorien und Diskussionen, die es behandelt, scheint der Autor ziemlich oft vorauszusetzen. Ist der Leser jedoch gewillt, weiterzuarbeiten, sich zusätzliche Literatur zu erschließen und sich auch die Arbeiten von Müllers Kontrahenten zu Gemüte zu führen, ist das Buch eine Fundgrube und eine Anleitung für dialektisches Denken in der Ökonomik.
Klaus Müller: Auf Abwegen. Von der Kunst der Ökonomen, sich selbst zu täuschen, PapyRossa Verlag, Köln 2019, 336 Seiten, 24,00 Euro.
Schlagwörter: Geldkrise, Gold, Jürgen Leibiger, Karl Marx, Klaus Müller, Ökonomie