22. Jahrgang | Nummer 9 | 29. April 2019

Berlin vor Salzgitter,
aber Leipzig hinter Flensburg

von Ulrich Busch

Einen nennenswerten Einfluss auf die Lebensqualität üben sehr viele Determinanten aus. Ihr Spektrum reicht von der Demografie über die Wohnlage und das Klima bis hin zu ökonomischen Parametern. Maßgebend dürften jedoch vor allem zwei Bestimmungsgrößen sein: Einkommen und Vermögen. Beides sind objektive Größen, die zudem auch den Vorteil aufweisen, eindeutig quantifizierbar und damit regional und temporal vergleichbar zu sein. Das macht sie auch für einen Ost-West-Vergleich geeignet, als Indikatoren für den Aufholprozess des Ostens seit 1990 sowie als Kriterien für die Ost-West-Konvergenz im Zuge der deutschen Vereinigung. Es ist daher zu begrüßen, wenn immer wieder Untersuchungen und Studien durchgeführt werden, die hierüber Auskunft geben. Die jüngsten Arbeiten datieren vom April 2019 und stammen von der Deutschen Bundesbank und vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. Während die Studie der Bundesbank umfassend belegt, dass die privaten Vermögen in Deutschland stetig gewachsen sind, im Westen aber stärker als im Osten, so dass die ostdeutschen Haushalte im Zeitverlauf nicht aufholen, sondern gegenüber dem Westen relativ zurückfallen, dokumentiert die WSI-Studie in Bezug auf die verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen der privaten Haushalte eine leichte Annäherung des Ostens an den Westen. Ungeachtet dessen wird von den Forschern konstatiert, dass „die Ost-West-Spaltung bei den Einkommen fortbesteht“. Von einer „Gleichwertigkeit“ der Lebensverhältnisse in Ost und West kann also auch 28 Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit keine Rede sein. Die Unterschiede sind dafür einfach immer noch entschieden zu groß.
Schauen wir auf die Nettovermögen, so zeigt sich, dass der Medianwert, also der mittlere Vermögenswert, 2017 in Westdeutschland bei 92.500 Euro lag, in Ostdeutschland aber nur bei 23.400 Euro. Das entspricht einer Relation von 25,3 Prozent. Im Jahr 2010 betrug die Relation noch 27,2 Prozent. Zwanzig Jahre zuvor dürfte sie ähnlich hoch gewesen sein. Es gibt hier also keine Angleichung, nicht einmal der Tendenz nach. Das tritt noch deutlicher hervor, wenn man die verhältnismäßig armen östlichen Bundesländer mit den reichen südlichen und westlichen Ländern vergleicht. So beträgt der mittlere Vermögenswert in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen 139.800 Euro. Das ist sechsmal so viel wie im Osten. Und der Abstand wächst weiter, schon durch den Anstieg der Immobilienwerte und die Differenz bei den Einkommen. Betrachten wir die etwas genauer, so bestätigt sich die oben genannte Aussage: Die Ost-West-Spaltung besteht fort, trotz signifikant hoher Zuwachsraten in einigen ostdeutschen Städten und Landkreisen.
Für 2018 wurde für Deutschland insgesamt ein verfügbares Pro-Kopf-Einkommen der privaten Haushalte in Höhe von 23.295 Euro ermittelt. Im Jahr 2000 waren es 15.961 Euro, was einem realen Zuwachs von 12,3 Prozent entspricht. So weit, so gut. Auffällig sind die erheblichen regionalen Unterschiede, die es hier gibt und dabei besonders wiederum die großen Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Regionen. Die veröffentlichte Tabelle der verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen der privaten Haushalte weist die Daten (für 2016) für alle 401 Landkreise und Städte in Deutschland aus. An der Spitze steht der Landkreis Starnberg mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 34.987 Euro. Am Ende steht Gelsenkirchen mit 16.203 Euro. Von den 324 westdeutschen Regionen (Städte und Landkreise) verfügen 284 über ein Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 20.000 Euro, 40 liegen darunter. Von den 77 ostdeutschen Regionen aber erreichen nur sechs die Marke von 20.000 Euro, während 71, also 92 Prozent, darunter bleiben. In diesen Relationen offenbart sich die ganze Wahrheit über die aktuelle Einkommensverteilung in Deutschland: Danach steht dem differenziert-reichen Westen ein verhältnismäßig undifferenziert-armer Osten gegenüber. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass sich unter den zehn einkommensreichsten Regionen in Deutschland keine einzige ostdeutsche befindet, unter den zehn ärmsten Regionen aber gleich sechs, nämlich der Kyffhäuserkreis, Halle/Saale, Brandenburg/Havel, Uckermark, Vorpommern/Greifswald und Frankfurt/Oder. Setzt man die Marke von 20.000 Euro als Trennscheide, so erkennt man, dass fast alle westdeutschen Großstädte einkommensmäßig darüber liegen, während die ostdeutschen Städte Berlin, Cottbus, Frankfurt/Oder, Potsdam, Rostock, Schwerin, Chemnitz, Dresden, Zwickau, Görlitz, Leipzig, Dessau-Roßlau, Halle/Saale, Magdeburg, Erfurt, Gera, Jena und Eisenach unterhalb dieser Marke zu finden sind. Also faktisch alle. Es gibt nur eine Ausnahme: Suhl. Und das resultiert daraus, dass es in Suhl überproportional viele Pendler gibt, die faktisch ein westdeutsches Einkommen beziehen.
Bedrückend an dieser Statistik ist auch, dass sich Städte wie Berlin, Potsdam und Chemnitz beim Einkommen auf dem Niveau von Oldenburg, Aurich und Saarbrücken befinden, und Städte wie Halle/Saale, Leipzig und Rostock unter den letzten zehn oder zwanzig sind. Der Abstand gegenüber den Metropolstädten im Westen ist beachtlich, ganz zu schweigen von den reichen Rentierregionen wie Starnberg, Hochtaunus, Baden-Baden oder das Münchener Umland. Mit fast 30.000 Euro Pro-Kopf-Einkommen steht München um rund ein Drittel besser da als zum Beispiel Berlin, wo im Mittel nur 19.719 Euro an Einkommen erzielt werden. Diese Aussage gewinnt noch an Brisanz, wenn man zudem die Dynamik in den zurückliegenden anderthalb Jahrzehnten berücksichtigt. In Berlin betrug der reale Zuwachs des Pro-Kopf-Einkommens seit dem Jahr 2000 ganze 1,3 Prozent. In München waren es 4,8 Prozent, also fast viermal so viel. Ingolstadt verzeichnete einen realen Einkommenszuwachs von 11,6 Prozent, Eichstätt von 21,0 Prozent, Heilbronn von 43,0 Prozent, Memmingen von 21,4 Prozent und Ulm von 28,4 Prozent. In diesen Spitzenregionen aber ist das Niveau ohnehin schon überproportional hoch. Die Zuwächse der ostdeutschen Regionen sind ebenfalls beachtlich, aber nicht höher als in den westdeutschen Spitzenregionen, wodurch sich die Differenzierung im Zeitverlauf weiter vertieft. – Es gibt kein Patentrezept, das kurzfristig zu verändern. Aber es sollte wenigstens zur Kenntnis genommen und im politischen Diskurs angemessen berücksichtigt werden.