22. Jahrgang | Nummer 4 | 18. Februar 2019

Von den Mühen der Offenheit

von Wolfgang Brauer

Gottfried Fischborn, Jahrgang 1936, einer der führenden Theaterwissenschaftler der DDR und Hochschullehrer in Leipzig bis 2001, seit 2004 Wahl-Wiesbadener, hat jetzt zum zweiten Male den ambitionierten Versuch vorgelegt, die Bilanz eines Jahres zwischen zwei Buchdeckel zu packen. 2016 erschien „Vorkommen. Vor kommen“. Das aktuelle Buch nannte er „Die Narbe“. Fischborn räumt gleich zu Anfang ein: Seine in diesen Notizen eines Jahres festgehaltenen Beobachtungen, Eindrücke und Reflexionen sind in ihrer Komplexität nicht verstehbar, ohne die Folie der „mit der Wende von 1989/90 verbundenen Demütigungen“, die „enttäuschten Illusionen“ – eine philologisch unsinnige, aber zutiefst wahre Begriffsfindung! – mitzudenken: „Die Narbe DDR“ also.
Der Band ist mitnichten der Leidensgesang eines in die Jahre gekommenen Jammer-Ossis, der in der Schmollecke einer verloren gegangenen eigenen Bedeutung nachtrauert. Fischborn brachte und bringt sich ein. Dass er im Nachdenken über das Wegwerfen der Lebensleistungen seiner Generation durch das plötzlich zu Macht und Einfluss gelangte Mittelmaß aus den westlichen Provinzen durchaus zu Bitterkeit gelangt ist nachvollziehbar, aber er lässt sich davon nicht überwältigen. Das hat sicher mit der gewählten Form dieses „Jahresberichtes“ zu tun. Die Tageseintragungen springen förmlich von Thema zu Thema. Ein Bild ergibt sich erst aus der Gesamtschau. Da bleibt nicht viel Gelegenheit zum Verfangen in Sentimentalitäten. Reflexionen über die Rezeption von Kunst aus der DDR im Westen werden abgelöst vom Nachdenken über die Situation der heutigen Linken in Deutschland und Europa. Dem folgen wiederum Überlegungen zur „gendergerechten“ Sprache, zur Regierungsbildung nach den Bundestagswahlen 2017 – und so weiter und so fort…
Manches kommt ein wenig kathedergelehrt daher, mitunter fühlt man sich an Goethes „Fischer“ erinnert: „Halb zog sie ihn, halb sank er hin…“, die berühmten Ambivalenzen des Stoffes … Gelegentlich vermeint man die Selbstdisziplinierung des Autoren zu spüren, wenn er politisch stark vermintes Gelände betritt. Die Feminismus-Debatte zum Beispiel. Die Flüchtlings-Politik der Kanzlerin zum Beispiel. Aber auch das ist wohl dem gewählten Format geschuldet. Die Tageseintragungen lassen keine vertiefte Auseinandersetzung zu. Gottfried Fischborn versucht, sich da ein wenig aus der Affäre zu ziehen, indem er in die Trickkiste des Theatermannes greift und immer mal wieder ein Stück Dialog-Literatur einbaut. Das ist ein wenig bei Brecht abgeguckt („Flüchtlingsgespräche“), der sich wiederum an die große Dialog-Kunst der Humanisten des 15./16. Jahrhunderts anlehnte. Warum auch nicht. Fischborn nennt die beiden Seelen, die sich (ach!) in seiner Brust tummeln (das ist jetzt meinerseits eine Goethe-Verballhornung) „Oppolonius“ und „Procedio“. Oppolonius ist klar, versteht jeder. Procedio ist schwieriger. Der hat etwas mit dem Lateinischen „procedere“ zu tun: „vorwärtsschreiten“, „Fortschritte machen“. Das kommt schon recht didaktisch daher.
Aber den Leser, pardon, die Leserin, muss das nicht abschrecken. Fischborn hat seinen großen Text montiert wie Heine seine „Nachtgedanken“: „Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen, / Und lächelt fort die deutschen Sorgen.“ Es ist ein ehrliches Buch. Diesen Mann holt eine Frau immer wieder auf den harten Boden der Realien – und er hat nicht nur den Mut, dies einzugestehen, er lässt sie immer wieder zu Wort kommen. Auch dieses fortlaufende Zwiegespräch macht den Reiz des Bandes aus.
Und die vorgenommenen Tiefenbohrungen in die eigene Biografie, hier zuvörderst natürlich die Geschichte des Theaterprofessors der Leipziger Theaterhochschule „Hans Otto“. Jene Abschnitte gehören für mich zu den wertvollsten dieses Buches. Gottfried Fischborn, obwohl immer wieder um gerechtes Abwägen bemüht, schildert mit bewusst eingesetzter Subjektivität und durchaus Leidenschaft beim Erinnern die ästhetischen und hochschulpädagogischen Konflikte der 1970er und 1980er Jahre, die natürlich in das Mark des äußerst fragilen Staats- und Gesellschaftsgebildes DDR strahlen mussten. Den Künsten wurde in diesem von der seinerzeit viel zitierten „Stunde Null“ an – welch verlogenes Konstrukt! – eine geradezu konstituierende Rolle bei der Herausbildung eines neuen gesellschaftlichen Bewusstseins zugemessen. Dass dies schlussendlich einen „Zauberlehrling“-Effekt zeigen musste, beschreibt Gottfried Fischborn in einem Eintrag, dem er den Untertitel „Nachdenken über eine ‚gebildete Nation‘“ gab.
Am Ende musste dies „zum irreparablen Bruch zwischen Partei und den wichtigsten Intellektuellen“ führen, wie er erklärt. Mir ist allerdings schleierhaft, weshalb er nur von den „wichtigsten“ Intellektuellen spricht. Das System zur Implosion brachten die nicht, das waren dann wohl doch eher die Massen – auch ein großer Teil der akademisch Gebildeten des Landes –, die ab dem Spätsommer 1989 immer nachdrücklicher ihr „Nicht mehr weiter so!“ artikulierten. Die „wichtigsten Intellektuellen“ – Fischborn weist selbst auf das spannende Gegensatzpaar Heiner Müller/Peter Hacks hin – mussten schon im Herbst registrieren, dass ihnen viele nicht mehr zuhören wollten. Ausgerechnet Müller war am 4. November der erste, der das auf dem Alexanderplatz zu spüren bekam. An jenem frühen Nachmittag zerbrach das kurzzeitige Bündnis zwischen dem Volk der DDR und „seinen“ Intellektuellen.
Den Autor treiben diese Überlegungen immer wieder um. Natürlich wird das befördert durch den intensiv verfolgten Niedergang der SPD, die – freundlich gesagt – Stagnation der Linken und den auch für ihn kaum fassbaren Aufstieg der AfD. Lesenswert sind Fischborns Eintragungen über Verlauf und Wirkungen der Tellkamp-Grünbein-Debatte vom März 2018. Der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass nicht nur seine Sympathien auf der Seite von Durs Grünbein liegen, sondern dass er auch dessen inhaltliche Positionen begründet teilt. Dass sich Uwe Tellkamp schließlich mit seiner Unterschrift unter eine von Vera Lengsfeld initiierte „Gemeinsame Erklärung 2018“ mit den Denkern und Propagandisten der Neuen Rechten gemein macht, hinterlässt ihn fassungslos. Dennoch wendet er sich gegen eine Ausgrenzung Tellkamps vom öffentlichen Diskurs: „Und ich verabscheue das jetzt verbreitete Tellkamp-Bashing“.
Es ist die eingangs zitierte Narbe, die zu schmerzen beginnt. Gottfried Fischborn weiß, dass Verschweigen und Ausgrenzen die sichersten Mittel sind, dem Herrschaft nicht genehmen Denken mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, als ihm gegebenenfalls zusteht. Er registriert den durch formale Empörungsgesten nicht zu stoppenden Aufstieg des Irrationalen mit großer Besorgnis.
Dennoch enden seine Notizen optimistisch. Er vertraut auf die „besten Kräfte der jungen Generation“: „Andere Wunden als unsere werden bei unseren Nachkommen vernarben müssen.“

Gottfried Fischborn: Die Narbe. Ein Ossi im Westen: Chronik eines Jahres, verlag am park, Berlin 2018, 364 Seiten, 20,00 Euro.