20. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2017

Widersprüchliche Erfahrungen oder Vom Drang Zeugnis ablegen zu müssen

von Karin Schmidt-Feister

„Wirklich, wir finden uns nicht wieder so, wie wir dachten und fühlten und heute denken und fühlen, da wir viel dazugelernt und das Urteil der Geschichte gründlich bedacht haben. ,in fünfzig jahren werden die archäologen nach uns graben‘, schrieb Volker Braun am 26. September 2007 in sein Arbeitsbuch. Diese Notizen sind ein Versuch, vor zu kommen. Ein Stück voranzukommen“, vermerkt Gottfried Fischborn in seinem Eintrag vom 20. Mai 2014. Damit ist die Intention dieses aufregenden, wichtigen Buches umrissen. Hier schichtet, beschreibt, analysiert der 78-jährige Autor in der zeitlichen Spanne eines Tagebuch-Blogs von Mai 2014 bis Mai 2015 seine Lebenserfahrungen. Er gräbt tief, schürft sprachlich präzise und meinungsstark nach dem eigenen Gewordensein. Überblendet mit aktuellen Zitaten aus Tageszeitungen, Fachzeitschriften, Briefen, Publikationen, die sein Denken in Zustimmung oder Ablehnung spannungsvoll beeinflussen, fließen in diesen Notaten Leben und Kunst, Privates und Weltgeschichte ineinander.
Gottfried Fischborn, Jahrgang 1936, aufgewachsen  in Oschatz, einer der führenden Theaterwissenschaftler der DDR, langjährig an der Leipziger Theaterhochschule „Hans Otto“ in Leipzig tätig, nach deren Abwicklung seit 1992 an der Universität Leipzig sowie Gastprofessor am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Seit 2001 Leiter von Internetkursen zum szenischen Schreiben.
Gottfried Fischborn spricht schreibend von seinem Leben „in der Überzeugung, für viele meinesgleichen, die Begeisterung, die Sorgen, Zweifel, gesellschaftlichen und privaten Brüche und Neuanfänge zu spiegeln“. Das Buch ist ein Plädoyer für differenziertes Denken eines Intellektuellen, der sich Tag für Tag, Seite für Seite genau und anschaulich mitzuteilen weiß. Gottfried Fischborn geht es darum, „die Geschichte der DDR aus ihren eigenen – inneren und äußeren – Widersprüchen heraus zu begreifen, ihre zunächst gegebene, relative historische Legitimation nicht schlechthin abzuleugnen“. Der Autor schreibt wider die dominanten Sichtweisen, gegen die bewusst geschürte „Ostalgie“, die dieses Denken „neutralisiert“. Meinungsstark und spannend ist seine Verteidigung des Realismus in der Kunst, „von der wir uns als ehemalige DDR-Kulturintellektuelle nicht trennen können. Und – machen wir´s uns bewußt! – auch nicht trennen wollen“.
Die eigene Existenz in der Pluralität der widersprüchlichen äußeren Lebensumstände und der inneren Verfasstheit als eine in permanenter geistiger Bewegung befindliche Daseinsform zu begreifen, zeichnet dieses außergewöhnliche Tagebuch aus. „Aus meiner frühen Gläubigkeit gegenüber dem Stalinismus, deren allmählicher Überwindung und dem Versuch ihrer Analyse“ berichtet er als kritischer DDR-Patriot von seinen Parteierfahrungen. Er macht öffentlich, wie er als „kleiner“ Genosse die Partei in unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungskontexten erlebte. „Die Abgrenzung von messianischen Gesamt-Utopien ist in diesen Lebensbericht eingeschlossen“, heißt es im Eintrag vom 13. Juni.
Der fast 80-Jährige eröffnet dem Leser Gedankenräume. Selbstbefragung als Zeiterfahrung. Streitbar, klarsichtig, argumentativ, tastend, forschend. Ein berufliches wie privates Leben mit Widersprüchen, Freuden, Zerreißproben, Unvorhergesehenem. Die Pluralität der Meinungen, divergierender gesellschaftlicher Prozesse und Umbrüche schreibend zu begreifen und dabei die eigenen Überzeugungen zu entwickeln, zu befragen, zu schärfen, bedeutet für Gottfried Fischborn ein erfülltes Leben im Wandel. In seinen intensiven und aufregenden Exkursen verknüpft der Autor gleichsam seine Gedankenströme im Gehirn: Nachkriegskindheit, Hungerjahre, Hungerfolgen und Fußball-WM, Familie, Freundeskreis, Ukrainekrise, die Entwicklung seiner Wissenschaft, den Abschied von der Wiesbadener Theaterära, Terror und Kriege, das emanzipatorische und das übergroße „wölfische Ich“. Er bemerkt eine nachhaltige Ideologisierung des Geschichtsbildes und des zivilgesellschaftlichen Gegenwartsbewusstseins seit 1989, konstatiert die auffälligen sprachlichen Neuerungen in der „Herrschersprache“, dies ist ein Anschreiben gegen Ostalgie.
Christa Wolf hat in ihrem Langzeit-Tagebuchprojekt „Ein Tag im Jahr“ jeden 27. September in der Zeitspanne von 1960 bis 2000 als autobiographische Reflexion von persönlichem Alltagserleben und Weltgeschehen zusammengedacht. Der Jahres-Blog von Gottfried Fischborn gewinnt eine intensive Authentizität in der zeitlichen Spanne eines ganzen Jahres.
Der Covertext vermerkt: Es ist die Stimme einer Generation, die der Verfasser so beschreibt: „Wir kommen nicht vor. Unseresgleichen erkennt sich nirgendwo in der Literatur, im Film, in all den Fernseh-Dokumentationen und Talkshows, in den Zeitungen, im öffentlichen Diskurs insgesamt. Wir, unseresgleichen: das ist eine große, mit Sicherheit ins Millionenfache gehende Zahl ehemaliger DDR-Bewohner der heute mittleren und älteren Generationen, Menschen, die das Land aus Überzeugung mit auf- und ausgebaut haben, die sich der sozialistischen Idee verpflichtet fühlten (und zumeist noch heute verpflichtet fühlen) und lange daran glaubten, zumindest ,im Prinzip‘ werde sie in der DDR verwirklicht. Die versuchten, trotzdem keine Dogmatiker zu sein, vielmehr – in der Regel trotz zunehmender Irritationen und Zweifel! – sich als kritische Patrioten zu verstehen, die auch die unkritisch-hemmungslose Hingabe ihrer Jugendjahre hinterfragen.“
Das Schreibjahr beginnend im Mai 2014 – mit Fußball-WM, Konzerten, Urlaubsfahrten, Freundeskreis und Theaterbesuchen – war vor allem ein Jahr des Terrors, mit einer Sprache des Tötens, ein Jahr mit PEGIDA und LEGIDA, mit deren Mitläufern er den Dialog fordert, ein Jahr der Krisen, Kriege. Sein Blick zurück gilt immer dem Handeln in Gegenwart und Zukunft. Der Autor rückt die geschichtsvergessenen Feiern von 25 Jahre Mauerfall ins Blickfeld und erinnert sich an die Zeit der Wende in Leipzig. Hier hatte er 1961 als wissenschaftlicher Assistent begonnen, war Dozent, Professor, Prorektor, Fachbereichsleiter. Gottfried Fischborn gibt detailreiche Einblicke in die Abwicklung der Theaterhochschule „Hans Otto“ 1990-1992. Zugleich erinnert er die Bemühungen um die Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs, die Neuorientierungen und Demütigungen: „Ein Häuschen im Wald und Arbeitslosigkeit“.
Der Verfasser äußert sich zu politischer und künstlerischer Subjektivität, zum unmittelbaren Wirklichkeitsverhältnis im komplexen Schaffensprozess von Autoren (Hacks, Stolper, Braun, Müller, Hermlin, Strahl), entzaubert die „Postmoderne“ und verteidigt das Drama und (s)einen weit gefassten Dramaturgie-Begriff als Ergebnis seines Erarbeitungsprozesses.
Seine Sammlung tiefschürfender Erinnerungen und Betrachtungen als „merkwürdige Mischung aus Autobiographie und stark reflektierendem Tagebuch“ endet mit dem Eintrag vom 20. Mai 2015. Dies ist keine abschließende Lebensbilanz. Gottfried Fischborn hat geschrieben „in dem Gefühl, persönliches Zeugnis ablegen zu sollen, wie es Unzählige schon getan haben und doch viel zu wenige, über eine große und schreckliche Zeit, die vor dem zweiten Weltkrieg begann“.
Gottfried Fischborns Jahres-Blog verknüpft Erinnerungsarbeit und Geschichtsutopie und polemisiert in Verantwortung für die nachwachsende Generation gegen eine weitere Verflachung und Simplifizierung der Geschichte.

Gottfried Fischborn: Vorkommen. Vor kommen – Ein Jahr Lebenszeit, Schkeuditzer Buchverlag, Schkeuditz 2016, 361 Seiten, 15,00 Euro.