14. Jahrgang | Nummer 8 | 18. April 2011

Summa summarum

von Egon Bahr

Wenn ich einen Meisterplan für den ewigen Frieden schreiben soll, wäre das ganz einfach: Ich nehme die bekannte Schrift Immanuel Kants und über­trage sie auf die Gegenwart. Das würde Spaß machen. Ein mitleidiges Lä­cheln ob der Vermessenheit wäre bestenfalls die Folge, weil der gesunde Menschenverstand ohne Mühe sagt, dass die Aktualisierung keine größere Wirkung erzielen wird als das Original.
Dafür gibt es einen überzeugenden Grund: Seit die Kirchen die Lehren der Bibel verbreiten, haben sich die Menschen nicht erkennbar verändert. Wa­rum sollten sie dem Verstand eines Individuums, wie intelligent es viel­leicht auch sein mag, mehr folgen als den Mahnungen der Geistlichen aller Konfessionen, zumal sie sich an die Realität der Gewalt seit langem ge­wöhnt haben? Dazu kommt als weiterer Grund, dass Erkenntnisse nicht vererbt werden können. Jede Generation muss sie von Neuem erwerben. Bei alldem kann nicht überraschen, dass die Analysen Machiavellis wirk­lichkeitsnäher scheinen als die Befunde Kants. Schließlich folgen die Staa­ten und ihre „Fürsten” den Gesetzen der Macht mehr als den von ihnen öffentlich postulierten Werten, die Menschenrechte eingeschlossen. Da hat es unbezweifelbar einige erfreuliche, sogar bedeutende, Fortschritte gege­ben. Aber das einzige Regelwerk, das sich die Menschheit bisher geschaf­fen hat, die Charta der Vereinten Nationen, ist noch immer auf die Pflich­ten der Staaten bezogen, die dabei den Interessen der Machterhaltung und Machterweiterung folgen. Noch nie hat sich ein Staat einem Beschluss der Vereinten Nationen entzogen, weil durch ihn Menschenrechte verletzt würden. Noch immer fehlt eine Ergänzung der Charta mit einer Definition, unter welchen Voraussetzungen die Menschenrechte den Rechten der Staa­ten gleichgestellt oder sogar übergeordnet werden.
Nun könnte man einwenden, dass diese enttäuschende Entwicklung ver­ständlich ist, weil schließlich die Hälfte der Menschheit, also die Frauen, erst seit relativ kurzer Zeit begonnen hat, in die Gefilde vorzustoßen, in denen die Männer die politischen Entscheidungen fällen. Ob die Frauen das friedlichere Geschlecht sind, wird sich erst nach einer Weile beurteilen lassen. Es wird Zeit brauchen, ehe die Frauen keine Sorge haben, ob sie auch von Frauen gewählt werden und wagen, politische Wege einzuschla­gen, die sich von männlichen Kriterien unterscheiden. In meiner Zeit konnte erprobt werden, dass eine verrückte Idee, Gewaltver­zicht, die natürlich von einem schwachen Staat kam, den Mächtigen unge­fährlich genug schien, um sie ausprobieren zu lassen. Das Ergebnis war für Letztere beunruhigend. Es erscheint ganz unwahrscheinlich, dass die USA noch einmal dem Prinzip des Gewaltverzichts zustimmen würden; ob Russland sich dazu bereit erklärt, ist mindestens zweifelhaft. Der Gewalt­verzicht veränderte Europa und alle Mächtigen mussten der neuen Land­karte zustimmen. Gemeinsame Sicherheit durch Zusammenarbeit und Ver­änderung der Grenzen nur im gegenseitigem Einvernehmen: Wenn diese Maximen befolgt worden wären, gäbe es weder die Krisen im früheren Jugoslawien noch die potenzielle neue Konfrontation zwischen Ost und West durch die amerikanischen Raketensysteme, die in Polen und in Tschechien etabliert werden sollen.
Dieses Lehrstück der letzten 20 Jahre könnte Anhaltspunkte liefern: Die Macht der beiden Supermächte hatte die Schwächeren ausreichend diszip­liniert, solange diese Bedrohung existierte. Sobald das Risiko eines großen, da atomaren Krieges verschwunden war, konnten die kleineren Staaten ihre Interessen wieder pflegen. Spannungsloser ist unser Kontinent dadurch nicht geworden, zumal er sich im Falle aller Fälle durch die einzige Su­permacht ausreichend genug geschützt sieht, um eine kluge Bündelung seiner Interessen vernachlässigen zu können.
Ein möglicher Pol Europa wäre der einzige Kontinent in der globalen Welt, der keine territorialen Ansprüche erhebt, der an Stabilität durch Gewaltver­zicht und Zusammenarbeit auch jenseits seiner Grenzen interessiert ist, und der Wohlstand und ein attraktives Sozialsystem verkörpert. Er wird seine Handlungsfähigkeit, seine Selbstbestimmung, mit einer Stimme zu spre­chen, dennoch in überschaubarer Frist nicht gewinnen, solange vergessen scheint, dass Gewaltverzicht sich als Stärke des Schwachen erwiesen hat. Stattdessen erlebt Europa die Macht des militärisch Uneinholbaren, lässt sich zu Rüstungen hinreißen, damit seine Streitkräfte an der Seite des Un­einholbaren eingesetzt werden können, erleidet seine Spaltung in „willige”‘ und „unwillige”, in das „alte” und das „neue” Europa. Und schweigt, dass England sich selbst aus der EU in allen Fragen beurlaubt, die ihm wichtig sind, logisch sich gegen einen Außenminister der EU wehrt, den es nach dem Verständnis in London gar nicht in Brüssel geben darf. Rüstungsbegrenzung wurde ein europäisches Markenzeichen, als es vor dem bedrohlichen Osten Angst hatte. Seit diese Angst verschwunden ist, hat Europa das Interesse an Rüstungsbegrenzung verloren. Keine Regie­rung in Europa drängt darauf, die Stärke der europäischen Schwäche durch Vertrag international zu festigen, zu erweitern, damit dieses unverwech­selbare Europa handlungsfähig wird. Europa muss keine Angst haben, dass andere vor diesem Europa Angst bekommen könnten. Es braucht nicht einmal Angst vor den USA oder Russland zu haben, wenn es von seiner europäischen Mehrheit selbstbestimmt Gebrauch macht. Es könnte die Angst vor sich selbst verlieren, wie es im Ansatz in Bali geschehen ist. Die Angst vor den Klimakatastrophen ist aber offenbar noch nicht groß genug. Die jahrtausendalte Sorge vor der unbändigen Kraft der Natur, vor der man nicht sicher sein konnte, steht gegen die ebenso lange Erfahrung, dass es so schlimm schon nicht werden wird. Der epochale Wechsel will nicht wirklich ins Bewusstsein dringen: Der Mensch muss nun die Natur schützen. Sonst wird sie unbarmherzig die gewohnte Grundlage unseres Lebens zerstören. Die Phantasie der Regierungen reicht nicht aus, sich auszumalen, was uns allen geschieht, wenn die Meeresspiegel steigen, die Permafrostgebiete versumpfen und die Versteppung zunimmt. Das wird dann Amerika, Europa und Russland gleichermaßen treffen. Um ihre Küsten zu schützen, werden die Länder ihre Streitkräfte einsetzen, ihre Erfahrungen austauschen und zu Verbündeten werden, um gemeinsam Si­cherheit zu finden. Gleichzeitig werden sich Ströme von Menschen in Be­wegung setzen, um Gebiete zu erreichen, in denen es noch Nahrung gibt und das kostbare Wasser. Da werden einige Inselstaaten schon versunken sein. Da wird die Suche nach den Regeln einer multipolaren Welt gegen­standslos geworden sein, weil die Kraft der Natur die globalen Pole von heute unterspült hat. Da werden die Staaten mit ihrer Macht gezwungen sein, das Überleben zu organisieren, ohne noch über ihre Werte und die Unterschiede zu streiten, was Menschenrechte sind. Da wird Europa gegen­über den Partnern nicht mehr triumphieren, dass endlich die Zusammenar­beit Realität werden muss; denn es wird gar nicht anders gehen: Katastrophenfor­schung wird die Friedensforschung abgelöst haben.
Gerade weil so schwer vorstellbar ist, dass die Staaten ihr Feilschen um ab­strakte Prozentziffern bei Abgasen durch harte internationale Verbote erset­zen, damit eine unkontrollierbare Katastrophe doch noch rechtzeitig abge­fangen werden kann, ist zu wünschen, dass es früh genug ausreichende Katastrophen gibt, die ausreichenden Handlungszwang für die Regierungen auslösen.
Es wird ein Wettlauf, ob das Notwendige rechtzeitig geschieht, damit die Klimakatastrophe als das große Problem unseres Jahrhunderts nicht nur bezeichnet, sondern als wirkliche und ernste Gefahr anerkannt wird. Diesen Wettlauf kann die Natur nicht verlieren. Die Menschheit schon.

Aus: Hans J. Gießmann / Götz Neuneck, Streitkräfte zähmen, Sicherheit schaffen, Frieden gewinnen. Festschrift für Reinhard Mutz, Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2008. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.