21. Jahrgang | Nummer 6 | 12. März 2018

Hochkonjunktur

von Ulrich Busch

Der Berichterstattung ist zu entnehmen, dass sich die deutsche Wirtschaft derzeit in einer Hochkonjunkturphase befindet: Die Stimmung bei den Unternehmen und den privaten Haushalten sei außerordentlich gut, die Wirtschaft wachse wie seit langem nicht mehr, die Lage auf dem Arbeitsmarkt sei hervorragend, die Auftragslage in der Industrie ausgezeichnet. Schaut man sich daraufhin die Indikatoren der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung genauer an, so erkennt man sehr schnell, dass die meisten dieser Kennziffern tatsächlich den Tatbestand einer Hochkonjunktur erfüllen, so der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts, der Zuwachs bei der Beschäftigung, beim Export, bei den Bauinvestitionen und bei der Investitionsgüterproduktion. Ebenso die Lohnentwicklung, die Entwicklung der Verbraucherpreise, der Anstieg der Immobilienpreise, der Steuereinnahmen des Staates und anderes mehr. Die Auslastung der gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten übersteigt den Durchschnitt der Vorjahre ganz erheblich, so dass in einigen Bereichen bereits Engpässe drohen. Einzig die Zinsen entsprechen nicht dem für eine Hochkonjunktur üblichen Niveau, sondern dümpeln dank der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank weiter auf niedrigem Stand vor sich hin. Aber dies vermag die Freude über den Aufschwung nicht zu trüben, zumal die Wirtschaft wie der Staat zu den Gewinnern dieser Entwicklung zählen.
Aber etwas stimmt doch bedenklich, wenn man sich die ökonomischen Daten genauer anschaut. Da ist zum einen die Erkenntnis, dass sich die Wirtschaft zyklisch entwickelt, was die Tatsache impliziert, dass der Boom nicht ewig dauern kann, sondern Rezession und Depression folgen werden. Das ist so unabweislich wie die Abfolge der Jahreszeiten, wo selbst auf den längsten und heißesten Sommer Herbst und Winter folgen. Und dies nicht irgendwann, sondern ziemlich genau und vorhersehbar drei Monate nach der Sommersonnenwende. Im Konjunkturzyklus spricht man analog dazu von einem „oberen Wendepunkt“. Danach beginnt der Abschwung mit seinen wenig erfreulichen Begleiterscheinungen wie Gewinnrückgängen, Unternehmenszusammenbrüchen, Arbeitslosigkeit, Deflation und so weiter. Ausgelöst werden kann ein derartiger Umschwung durch ganz verschiedenartige und zufällig eintretende Ereignisse wie zum Beispiel den plötzlichen Rückgang der Auslandsnachfrage, die Verteuerung eines wichtigen Rohstoffs oder den Zusammenbruch einer systemrelevanten Bank. Sichtbar wird das zuerst an den Effektenbörsen, wenn die Kurse nachgeben, weil die Gewinne der Unternehmen nicht mehr wie bisher steigen oder die Risiken für Spekulationsgeschäfte zu groß geworden sind. Gegenwärtig könnte von den Einfuhrbeschränkungen respektive Importzöllen der USA ein solches Signal ausgehen, von den Absatzproblemen bei bestimmten Kraftfahrzeugtypen, vom kartellbestimmten Ölpreis oder vom Immobilienmarkt, wenn eine „Blase“ platzt. Die tiefer liegenden Ursachen für die Konjunkturschwankungen aber sind in der Kapazitätsauslastung und der Überakkumulation von Kapital auszumachen. Übersteigt die Auslastung der Kapazitäten ihr Normalmaß und erreicht Höchstwerte, so ist ein Rückgang der Produktion angesagt, eine Entwertung des investierten Kapitals und eine Neuordnung der Kräfte und Ressourcen. Das ist natürlich kein geordneter Vorgang, sondern ein chaotischer Prozess, der Gewinner und Verlierer kennt und an dessen Ende eine Erholungsphase und ein neuer Aufschwung stehen, mit Innovationen, neuen Produktionslinien, Investitionen und Produkten.
Blickt man auf die vergangene Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland zurück, so erkennt man sofort, dass es hier keine gleichmäßige konjunkturelle Entwicklung gegeben hat. Vielmehr zeichnet sich ein Konjunkturzyklus dergestalt ab, dass auf eine Phase der Hochkonjunktur bisher immer eine Rezession oder Krise gefolgt ist. Die „oberen Wendepunkte“ lagen in den Jahren 1965, 1973, 1980, 1991, 2000 und 2007. Die Tiefpunkte der Krise folgten immer bald danach: 1967, 1975, 1982, 1993, 2003 und 2009. Dazwischen, also zwischen 1965 und 1967, zwischen 1973 und 1975 …, lag jeweils eine Phase der Rezession. Man beachte die jeweilige Länge der Zyklen und ziehe daraus den richtigen Schluss für das laufende Jahr, eingedenk der Feststellung, dass 2017 erklärtermaßen ein Jahr der „Hochkonjunktur“ war. Ob damit bereits der obere Wendepunkt des Zyklus erreicht ist oder ob er erst in Kürze erreicht sein wird, ist ungewiss. In jedem Fall aber wird das Jahr 2018 ein spannendes Jahr mit möglicherweise überraschenden Wendungen werden. Hat man das erkannt, so wird man einsehen, warum Ökonomen gern vom Aufschwung reden, aber weniger gern davon, dass eine Phase der Hochkonjunktur erreicht sei. Es geht den Konjunkturforschern so, wie dem Wanderer im Gebirge: Hat er einen Berg erstiegen, steht auf dem Gipfel und blickt um sich, so sieht er vielleicht andere Gipfel in der Ferne, die ihm Lust machen auf weitere Klettertouren. Unmittelbar vor sich aber sieht er einen Abgrund. Durch den muss er hindurch, bevor es wieder aufwärts gehen kann. – Das ist die Erklärung dafür, warum der Begriff „Hochkonjunktur“ nur verhalten ausgesprochen wird und wenig Anlass bietet für eine Hochstimmung.