21. Jahrgang | Nummer 4 | 12. Febuar 2018

Bemerkungen

Zur Dialektik von Fluch und Segen

Stellen Sie sich vor, über Sie wird weltweit berichtet. Jeden Tag. Sie posten etwas auf facebook oder twitter, und über Sie bricht ein shitstorm herein – wegen eines blöden Kommafehlers. Was immer Sie sagen oder auch nicht sagen, wird kommentiert. Wann immer über Sie geschrieben wird, gibt es am Ende den Hinweis: „Diese Person verursacht politische Gewalt, ist rassistisch und fremdenfeindlich und lügt wie gedruckt.“
Ihre Frisur wird kommentiert, Ihre Bekleidung, was Sie essen und wie, einfach alles. Über ihre sexuellen Vorlieben wird spekuliert, über eine angebliche Nacht mit russischen Prostituierten samt intimster Details berichtet, die Sie noch nicht einmal Ihrem besten Freund erzählen würden, hätte denn diese Nacht so stattgefunden. 24/7 werden mediale Müllkübel über Sie ausgekippt, und eine Milliarde Menschen (mindestens) verfolgt das in Echtzeit.
Was glauben Sie: Wie viele Tage halten Sie das aus? Wann beginnen Sie, darüber nachzudenken, dass Sie sich ein neues Gesicht zulegen sollten, einen neuen Namen, abtauchen sollten auf irgendeine unbewohnte Insel. Nur weg. Weit weg. Schon sehr viel weniger mediale Dresche hat Menschen in den Selbstmord getrieben.
Aber so ein Typ sind Sie nicht. Sie sind ein Kämpfer. Also drehen Sie den Spieß um. Sie bestimmen, welcher Dreck jeden Tag über Sie ausgekippt wird:

  • Heute essen Sie Döner. (Was für fettiger ungesunder Fraß! Dieser Fettsack!)
  • Morgen tragen Sie Schlips. (Wem es an Männlichkeit gebricht, der muss das mit Schlipslänge kompensieren!)
  • Übermorgen schreiben Sie mather statt mother. (Dieser Idiot!)
  • Am kommenden Tag machen Sie eine sexistische Bemerkung. (Frauenschänder!).

So setzen Sie jeden Tag die Agenda.
Dazu schreien Sie Lüge, Lügenpresse! Nun kann Sie die ganze mediale Kloake mal kreuzweise. Ziehen Sie das durch, und 47,4 Millionen werden Ihnen auf twitter folgen und die Treue halten, Tendenz steigend. Denn auch dem simpelsten Gemüt geht auf, dass objektive Presseberichterstattung anders aussieht. Die Menschen, die nur Schlechtes und Bösartiges in sich vereinigen, sind rar und gewöhnlich hinter Gittern, auf die eine oder andere Art.
Noch so ein Thema, das Sie kontrollieren können: Sie twittern: „Ich bin genial und in stabiler geistiger Verfassung.“ Und Sie können sich darauf verlassen, dass morgen eine Milliarde Menschen erfahren wird, dass Sie grenzdebil sind, wahrscheinlich mit übersteigertem Geltungsbedürfnis sowie kleinem Penis (kleine Hände!) ausgestattet und aufgrund dieser psychologischen und physischen Verfasstheit eine Schande der Nation sind, ach was, eine Gefahr für die Sicherheit der Welt.
Sie posten: „Verständigung mit Russland ist gut“ und kriegen ihr Fett weg. Das Konzert wird von homophober Affinität zu Autokraten bis Kreml-Agent reichen.
Aber falls Ihnen danach sein sollte, ausnahmsweise einmal einen positiven Kommentar über sich zu hören oder zu lesen, nur so, zur Erheiterung, dann lassen Sie einfach wieder irgendein Land in der Dritten Welt bombardieren. Die Kollegen der Medien (aber nicht nur die) werden finden, dass Sie jetzt in das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten hineinwachsen. Endlich!

Pearl Ann Ziegfeld

Electronic und musikalische Besonderheiten

Leider ist es so, dass im musikalischen Deutschland die innovativste, ungewöhnlichste Zeit vorbei ist. Kein Musiker erfindet eine total neue Richtung, setzt bisher selten benutzte Instrumente ein und wird damit auch in Amerika und Asien berühmt. Das geschah alles in den 1970er Jahren, als Bands wie Tangerine Dream, Kraftwerk, Amon Düül, Neu, Guru Guru oder Klaus Schulze verstärkt auf sich aufmerksam machten. Manche nennen deren Musik bis heute Krautrock, einige Musiker der damaligen Zeit wollen lieber alles unter dem Begriff Cosmische Klänge laufen lassen. Egal, wie man es nennt, jedes Album, jedes Konzert war großer Fortschritt, das Beet für den Samen Techno und vor allem kein Schielen nach den Charts.
Viel musikalisch Neues dringt leider nicht mehr an unsere Ohren, zumal bekannte Gesichter verstorben sind, die Musikrichtung wechselten, sich jetzt auf die Sichtung einmal eingespielten Materials konzentrieren oder Erlebtes aufschreiben und dann dicke Bücher veröffentlichen. Karl Bartos, einstiger Musiker und Tüftler von Kraftwerk, brachte im vergangenen Jahr seine wunderbare Autobiographie „Der Klang der Maschine“ (Eichborn) auf den Markt, einige Jahre zuvor gab es schon die unautorisierte Biografie „Kraftwerk“ von David Buckley, und jetzt liegt beim Buchdealer ein Band über Tangerine Dream bereit.
Darf man dieses übergroße, über 400 Seiten starke Erzeugnis als Bibel des Krautrocks bezeichnen? Selbstverständlich, man muss quasi, denn der 2015 leider viel zu früh verstorbene Edgar Froese beschreibt darin die Zeit, in der die elektronischen Klänge Deutschland verließen und die Welt eroberten. Viel Zeit brauchte Froese für das Buch, denn alles sollte perfekt sein und nichts vergessen werden. Herausgegeben hat „Force Majeure“ schließlich seine Frau Bianca Froese-Aquaye, die auch das Vorwort schrieb und für das Konzept verantwortlich ist.
Alles begann für Froese 1967 mit der Coverband The Ones, einer ziemlich biederen Formation, die mit Rolling-Stones-Titeln ein Konzert von Jimi Hendrix einleiteten. Bereits dieses Ereignis schildert der Künstler sehr gewissenhaft und interessant, sogar den Text eines „stupiden, mental verwahrlosten Journalisten“ des Boulevard-Blattes B.Z. zitiert er. Nicht lange nach diesem prägenden Konzert stürzt sich Froese auf neue Aufgaben: Er gründet mit Klaus Schulze TD, spielt später mit Conny Schnitzler und setzt 1970 mit der LP „Electronic Meditation“ erste intensive Zeichen.
Sehr individuell, bildhaft und unterhaltsam schildert Froese vor allem sein Leben mit der Musik in den 1970er und 1980er Jahren, lässt weder Freude noch Schmerz aus. Viele Musiker, an die man gerade nicht gedacht hat, werden erwähnt, das Zusammenleben und -muszieren, ihre musikalischen Besonderheiten und was sie in Froeses Leben für eine Rolle spielten. Spannend schildert der 1944 in Berlin geborene Künstler die Tourneen, die ihn nach Japan, Indien, in die USA und durch Europa führten und die mit viel Gepäck – am Anfang mit altarhaft wirkenden „Moog-Schränken“ – einher gingen. Nochmal so gerne hört man sich jetzt seine Solo-Alben, die Alben von Tangerine Dream (besonders mit Christoph Franke) an, denn deren Aufnahmen kommen im Buch auch nicht zu kurz.
Wer sich den Band zulegt, wird ein großes Stück Musik, ein großes Stück Literatur (nebst sehr ausführlichem Bildteil) in den Händen halten.
So sei es.

Thomas Behlert

Edgar Froese: Tangerine Dream – Force Majeure, Eastgate Music & Arts, Berlin 2017, 402 Seiten, 69,90 Euro.

Nach dem Mauerfall

Die Berliner Zeitung vom 3./4. Februar brachte eine Sonderausgabe zum 5. Februar – das war der Tag, an dem die Mauer so lange weg war, wie sie stand. Differenzierende, lesenswerte Geschichten wurden da erzählt – neben erwartbaren Politikerstimmen und Lesermeinungen.
Alexander Osang zum Beispiel schrieb: „Ich habe die Mauer gehasst, aber ich bin froh, dass ich im Osten groß wurde. Rückblickend. Es hat meine Sinne geschärft. Ich habe gelernt, wie sich Menschen in unterschiedlichen Situationen verhalten. Wie sie Gesellschaftsordnungen wechseln, Überzeugungen und dann doch gleich bleiben. Für jemanden wie mich, der sein Geld mit Menschenbeobachtungen verdient, war das eine gute Schule. Ein großes, kapitalistisches Unternehmen produziert ähnliche Verhaltensweisen wie eine sozialistische Diktatur. Wenn man sich durchsetzen will. Alles andere ist Gerede.“
Ein erfolgreicher Geschäftsmann aus Hennigsdorf, Jahrgang 1974, scheint eher weniger typisch für den Osten, ein self-made Millionär ohne Abitur und Studium, der inzwischen als Investor auftritt, auch für die Künste. Er empfindet sich als Teil einer „Glücksgeneration“, weil er Chancen hatte. Die unmittelbare Zeit nach der Wende habe in ihm aber eine „gewisse Wachheit“ geweckt. „Beständigkeit war ein leerer Begriff. Ich bin mir sicher, dass in meiner Generation aus dem Osten diese Erfahrung tief verwurzelt ist und man nun mit Anfang vierzig weiß, dass nichts so bleiben muss wie es ist. Das ist ein Fluch, aber auch ein Segen.“ Er hat Erfahrungen mit den „Elitejungs“ des Westens gemacht und sagt: „Ich halte es für sehr problematisch, dass die Elitenbildung in der Schule anfängt. Wir sind im Osten weitgehend unabhängig von der Frage der Herkunft gestartet. Durch das System von privaten Kindergärten, privaten Schulen und Privat-Unis züchten wir heute eine sogenannte Elite in einer sozialen Blase. Es gibt da nicht die geringste Schnittmenge mit dem wirklichen Leben. Das kann nicht gesund sein für eine Gesellschaft.“
Ein „Jubiläum“ zum Nachdenken.
Gar nicht schlecht …

MvH

WeltTrends aktuell

Ursprünglich unter dem Akronym BRICS zusammengefasst, entwickelte sich die Gruppe der „Schwellenländer“ Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika rasch zu einem Faktor der internationalen Politik. Sie hält Jahrestreffen ab – das nächste Mitte 2018 in Johannesburg – und baut eigene Institutionen auf. Im Thema wird eine kritische Bilanz der Gruppe gezogen und auf ihre Positionen eingegangen. Es zeigt sich, dass den BRICS von Beginn an der Geist für eine alternative Weltordnung jenseits US-amerikanischer Hegemonie innewohnte. Trotz gewisser Unterschiede und Widersprüche zwischen diesen Staaten bildet die Gruppierung einen Pol unserer multipolaren Welt.
Im WeltBlick geht es um Katalonien nach den jüngsten Wahlen und Kolumbien auf dem Weg zum Frieden.
Usbekistan hat seit einem Jahr einen neuen Präsidenten – auf jüngste außenpolitische Entwicklungen verweist Eldor Aripov im Gastkommentar.
Das Verhältnis zwischen Prag und Berlin ist eng, aber nicht frei von Spannungen, verdeutlichen tschechische Autoren in der Analyse.
An das Ende der Schlacht von Stalingrad vor 75 Jahren erinnert Achim Engelberg und gibt damit einen Anstoß, über das heutige deutsch-russische Verhältnis nachzudenken.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 136 (Februar) 2018 (Schwerpunktthema: „Weltmächte im Wartestand?“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Blätter aktuell

Beinahe geräuschlos vollzog sich der Regierungseintritt der rechten FPÖ in Österreich an der Seite der konservativen ÖVP. Die fortschreitende Normalisierung der Rechten wurzelt für den Politikwissenschaftler Matthias Falter in der fehlenden Vergangenheitsbewältigung in der Nachkriegszeit, aber auch in der nicht abreißenden Debatte über Migration. Der Erfolg der Rechten aber setzt die Stabilität der pluralistischen Demokratie aufs Spiel.
Die technologische Revolution führt zu immer mehr prekären Jobs. Dennoch sollte die Linke die Digitalisierung nicht verdammen, so der Publizist Paul Mason, bietet sie doch die Chance auf eine postkapitalistische Gesellschaftsordnung. Dafür aber benötigt die Linke ein neues Narrativ.
Seit die IG Metall eine 28-Stunden-Woche fordert, ist die Arbeitszeitverkürzung wieder im Gespräch. Für den Politikwissenschaftler Mohssen Massarrat ist dies der Schlüssel, Niedriglöhne, die gewollte Massenarbeitslosigkeit und am Ende gar den Finanzkapitalismus zu überwinden.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Gewinn vor Gesundheit. Das fatale Geschäft der Pharmaindustrie“, „Iran: Das gespaltene Regime“ und „Südafrika: Der lange Abschied des ANC?“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Februar 2018, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

„2014 wurde das siebzigste Jubiläum der Landung der Alliierten in der Normandie begangen“, beginnt Petra Erler ihren Beitrag zum 75. Jahrestag der deutschen Niederlage in Stalingrad und fährt fort: „Zu den internationalen Gästen gehörten damals neben dem französischen Präsidenten der amerikanische Präsident, der russische Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin. Spiegel online meldete dazu: ‚Am 6. Juni 1944 landeten die alliierten Streitkräfte in der Normandie; es war der Anfang der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus.‘ Nun, in diesem Punkt verbreitete Spiegel online das, was man heute als ‚alternative Fakten‘ bezeichnet. Die Schlacht um Stalingrad läutete die entscheidende Wende im Kampf gegen den Hitlerfaschismus ein. Ein Zeitzeuge, der amerikanische Präsident Roosevelt, schrieb am 23.2.1943 in seiner 24. Nachricht an Stalin: ‚Die Rote Armee und das russische Volk haben ganz sicher die Hitlertruppen auf den Weg der ultimativen Niederlage gebracht und sich so die dauerhafte Bewunderung des amerikanischen Volkes verdient.‘ Zum 75. Jahrestag der Schlacht um Stalingrad fand in Wolgograd eine Feier statt, deren Stargast der russische Präsident Putin war. Waren andere Staatsoberhäupter nicht eingeladen? Wären sie nicht gekommen?“
Petra Erler: Europa braucht eine gemeinsame Erinnerungskultur, Euractiv, 06.02.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Ihr Buch (‚Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist‘ – die Redaktion) eröffnet Gabriele Krone-Schmalz mit der E-Mail-Affäre, dem von Wikileaks veröffentlichten dienstlichen Schriftverkehr, für den Hillary Clinton 2012 bis 2014 ihrem privaten Account nutzte“, schreibt Karlen Vesper in ihrer Rezension. „Um diesen in die Hände zu bekommen, bedurfte es keiner russischen Hackerangriffe. Allein der Freedom of Information Act der USA hätte Einsicht in diesen ermöglichen können. Gabriele Krone-Schmalz zitiert aus einer Mail, in der Hillary Clinton begründete, warum der Sturz von Assad notwendig sei und dass man darob einen Krieg mit Russland nicht fürchten müsse: Moskau habe ja auch beim Kosovo-Konflikt stillgehalten. ‚Es kam anders‘, so Gabriele Krone-Schmalz. Für sie ist jenes Schreiben ein Indiz dafür, dass die USA Russland bis vor Kurzem weltpolitisch nicht sonderlich ernst nahmen. Noch im März 2014 sprach Barack Obama verächtlich von einer ‚Regionalmacht‘.“
Karlen Vesper: Jenseits von Gut und Böse, neues-deutschland.de, 02.02.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Die Einteilung der Tierwelt in verschiedene Arten (eben Spezies) und die Hierarchisierung, die daraus folgt“, so erläutert Damiano Cantone den Kern des sogenannten Antispeziesismus‘, „entbehren jedweden theoretischen Fundamentes. Es gibt nach dieser Lehre kein gültiges Kriterium, um einen Unterschied zwischen dem Menschenwesen und dem nichtmenschlichen Tier zu veranschlagen. Vielmehr teilen im Grundsatz beide dieselbe Würde als Lebewesen und verdienen denselben Respekt, also letztlich auch dieselben Rechte.“ Und: „Dies bedeutet, dass jedweder Akt der Diskriminierung gegenüber Tieren inakzeptabel ist. Der Besitz oder die Aufzucht von Tieren sind in dieser Sicht nichts anderes als eine Form der Sklaverei.“
Damiano Cantone: Respektiert die Andersheit der Tiere, Neue Zürcher Zeitung (online), 09.01.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Verringern Hersteller im Kapitalismus absichtlich die Lebensdauer ihrer Produkte?“, fragt Tom Strohschneider. Der Verdacht sogenannter geplanter Obsoleszenz besteht seit langem. Der Begriff selbst geht auf einen kurzen Essay von Bernard London aus dem Jahre 1932, dessen Titel bereits deutlich macht, dass der Autor im Sachverhalt an sich nicht a priori ein Skandalon sah – im Gegenteil: „Ending the Depression Through Planned Obsolescence“.
Tom Strohschneider: Gekauft, zu früh kaputt, Skandal? Könnten die Waren sprechen, OXI. Wirtschaft anders denken (online), 26.12.2017. Zum Volltext hier klicken.

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„[…] je ausbeuterischer der Neoliberalismus weltweit wütet, umso ‚zartfühlender‘ wird erstaunlicherweise die Sprache seiner Repräsentanten“, vermerkt Ralph Gerstenberg in seiner Besprechung von Robert Pfallers „Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur“: „Überall werden Warnschilder aufgestellt, niemand soll sich auf den Schlips getreten fühlen. Keine schlimmen Worte, schriftlich schön mit Binnen-I, Witze reißen – nicht so gut!“ Letzte Veranlassung für seine Untersuchung war dem Philosophen und Kulturtheoretiker Pfaller eine Flugreise, auf der ihm „der Sinn nach Filmkunst, speziell nach dem Sterbehilfedrama ‚Amour‘ von Michael Haneke mit Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva [stand]. Doch bevor der Film begann, wurde Pfaller […] gewarnt. Das, was er gleich zu sehen bekäme, enthalte Erwachsenensprache, hieß es, ‚adult language‘, eine Sprache also, die womöglich seine Gefühle verletzen könnte. Was ist das für eine Welt, dachte da der Philosoph, in der Erwachsene mittlerweile vor der ihnen eigenen Sprache gewarnt werden?“
Ralph Gerstenberg: Wie wär’s mal mit Erwachsenheit?, deutschlandfunk.de, 02.01.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Adepten „reiner“ Marktwirtschaft gilt Planwirtschaft als Blasphemie schlechthin und als durch den Kollaps des Ostblocks ein für alle Mal diskreditiert. Mit der real existierenden Praxis der kapitalistischen Produktionsweise hat dieses Glaubensmantra allerdings wenig zu tun, denn, wie Michael Krätke betont: „In allen kapitalistischen Ökonomien wird geplant, jeden Tag und überall. Am meisten planen Großunternehmen wie multinationale Konzerne. Sie müssen es auch, weil sie schon längst nicht mehr in überschaubaren lokalen und regionalen Umfeldern handeln, sondern zunehmend transnational. Globale oder doch zumindest transnationale Wertschöpfungsketten lassen sich ohne sorgfältige Planung nicht aufbauen und nicht am Laufen halten. Das Gleiche gilt für große Investitionsvorhaben – wo auch immer – oder für längerfristig angelegte Operationen zur Erschließung neuer Märkte. Multis, die europa- oder gar weltweit operieren, haben nicht nur Vier- oder Fünfjahrespläne; Planungen mit einem Zeithorizont von zehn Jahren und mehr sind an der Tagesordnung.“ Allein schon vor diesem Hintergrund bleibt die Frage, ob Marktsozialismus möglich wäre und wie er zu realieren wäre, auf der Tagesordn ung.
Michael Krätke: Der Unterschied der Unterhosen, OXI. Wirtschaft anders denken (online), 15.11.2017. Zum Volltext hier klicken.

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„Geht’s nicht noch weiter hinten? Die Notlage am Wohnungsmarkt wird im Sondierungspapier der großen Koalition auf Seite 23 von 28 behandelt“, stellt Michael Thumann fest. „Das sagt schon alles. Offenbar hat niemand von den Beteiligten mal in einer Masse von Leuten gestanden, die sich um eine lumpige Altbauwohnung im Erdgeschoss ohne Licht und Komfort bewerben. Oder die 50 Euro Eintritt nur für die Besichtigung zahlen. Das sind die Anzeichen der heraufziehenden deutschen Wohnungskatastrophe. Noch können viele in der Stadt wohnen. Aber wehe, der Umzug droht – oder die Mieterhöhung flattert ins Haus. Das Problem wird von Linken gern auf die Mieten reduziert und von Rechten oft ganz ignoriert. Deutsche Städte haben schlicht und einfach zu wenig Wohnraum. Das ist keine Überraschung, sondern eine seit zwanzig Jahren hausgemachte deutsche Misere.“
Michael Thumann: Wenn Wohnen zum Alptraum wird, Zeit.Online, 02.02.2018. Zum Volltext hier klicken.