von Wolfgang Brauer
Es gibt Bücher, die kommen zur rechten Zeit. 1912 der erste Band der Insel-Bücherei zum Beispiel: „… und die sechzehn runden Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl, sind ein Fest.“ So beschreibt Rainer Maria Rilke das Erleben des Krieges in der „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. So wurde jahrzehntelang der angebliche „Opfergang“ von Langemarck, der verlustreiche Durchbruchsversuch eines deutschen Reservekorps am 10. November 1914 durch die französischen Linien, als patriotische Höchstleistung beschworen. Und immer wieder wird Ernst Jüngers 1920 erstmals erschienener Roman „In Stahlgewittern“ (damals noch mit dem Untertitel „Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers“) sowohl von eingefleischten Militaristen als auch von radikalen Kriegsgegnern quasi als Inkarnation eines kriegsbegeisterten deutschen Nationalismus zitiert. Beides ist ebenso falsch, wie es wieder richtig ist.
Ein Hurrapatriot war Jünger wirklich nicht gewesen. Er stürzte sich nicht wie andere in schwarz-weiß-roter Begeisterung in den Ersten Weltkrieg, man musste ihn aber auch nicht zwingen. Für Jünger bot der Kriegsbeginn wohl eher eine willkommene Möglichkeit, sich den Pressionen des Gymnasiums zu entziehen. Denen suchte er schon 1913 durch Flucht zum Militär zu entkommen. Da war es allerdings die französische Fremdenlegion. Die steckte den Jüngling erst einmal in das Hamsterrad des Kasernendrills. Das wollte er nun auch wieder nicht. Vom Vater nach Deutschland zurückgeholt, musste er erneut in die Schule traben. Am 4. August 1914 konnte er sich in die Freiwilligenlisten in Hannover eintragen, das brachte ihm knappe drei Wochen später unerwarteterweise ein „Kriegsabitur“ ein. Am Nachmittag des 30. Oktober 1914 empfing der Kriegsfreiwillige und Füsilier im hannoverschen „Füsilier-Regiment Nr. 73“ Ernst Jünger Patronen und eiserne Ration. Dann fuhr er in den Krieg, zunächst Richtung Sedan („Stimmung war fidel“). Die ersten Fronteinsätze erfolgten in der Gegend um Reims. „Im allgemeinen ist mir der Krieg schrecklicher vorgekommen, wie er wirklich ist“, schrieb er am 4. Januar 1915 in sein Tagebuch, das er kontinuierlich fast bis zum Ende des Krieges führen sollte. Für ihn tritt dieses Ende am 25. August 1918 in der Nähe von Bapaume mittels eines Lungenschusses ein. Da ist er schon seit Längerem Leutnant und Kompanieführer. Am 22. September verlieh ihm der Kaiser als einer der wenigen niedrigrangigen Chargen den Orden „Pour le Mérite“. Mit dieser Verleihung endet „In Stahlgewittern“. Der letzte Eintrag des Tagebuches (10. VIII.18 – offensichtlich ein Druckfehler, es kann sich nur um den 10. September gehandelt haben): „Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich an jedem 27. Januar besoffen und sich jetzt auf den Boden der Tatsachen stellen.“ Nein, zu den Wendehälsen gehörte Jünger nicht. Er blieb dem Kriege treu. Noch 1995 ließ er sich (als letztes lebendes Ordensmitglied und zugleich langjähriger „Großmeister“) mit dem „Pour le Mérite“ fotografieren. Die mit der Ordensverleihung offenbar mit gereichte elitär-aristokratische Grundhaltung war es wohl auch, die ihn vor allzu heftigen Umarmungen mit den von ihm als pöbelhaft verabscheuten Nazis bewahrte. Ein Umstand, der nicht unwesentlich zum nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt vom Protagonisten selbst liebevoll gepflegten Ernst-Jünger-Mythos beitrug. Jünger besitze noch über seinen Tod hinaus „eine provozierende Kraft“, äußerte auch Gunnar Decker 2008 im Neuen Deutschland. Dass sein ästhetisches Bewusstsein resistent gegen Ideologie mache, habe wohl auch bei Heiner Müller, Frank Castorf und Franz Fühmann zu deren Pro-Jünger-Einstellung geführt. Nun gut, wer’s glaubt…
Ernst Jüngers Tagesnotizen vom großen Schlachten jedenfalls füllen insgesamt 15 Notizbücher, von der Größe her passend für die Uniformtaschen. Im Herbst 2010 wurden sie von Helmuth Kiesel unter dem Titel „Kriegstagebuch 1914 – 1918“ bei Klett-Cotta herausgebracht. Die Ausgabe ist von vorbildlicher editorischer Qualität und nobler Gestaltung. Zusätzlich zu den sorgfältig transkriptierten Aufzeichnungen Jüngers enthält sie neben dem stellenweise ausufernd gearbeiteten Kommentar einen umfänglichen Aufsatz des Herausgebers „Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg“. Der bietet manch Nachdenkenswertes, Kiesel kennt seinen Stoff. Beim ersten Lesen merkwürdig hingegen berührt die Aufnahme eines „Käferbuches“ des „Kriegers“ (so sah er sich selbst) Jünger. Penibel, wie bei Sammlern üblich, werden Art und genaue Begleitumstände der Funde verzeichnet. So fiel im Unterstand des Leutnants Korte am Abend des 2. Februar 1916 ein Scotylus (Borkenkäfer) von der Decke und wurde nicht aufgespießt. In die Käfersammlung aufgenommen wurde jedoch der vier Tage vorher „bei einer Latrine im Schützengraben“ gefundene Anedius emetus. Was passierte noch am 2. Februar 1916? „In Douchy außer den üblichen paar Todesfällen nichts Neues.“ Der Tagebuchschreiber – der Mann ging mit 19 in den Krieg! – stand dem menschlichen Sterben rings um sich mit derselben emotionalen Einstellung wie seinen Käfern gegenüber. Über vier Jahre hinweg finden sich Eintragungen von der Art wie die vom 6. Oktober 1915: „Leider konnten wir keinen erlegen.“ Damit war kein verirrter Hase gemeint, man schoss auf Engländer. Deutlicher als in solchen ganz unmittelbaren, also für das Fühlen und Denken des Schreibers zutiefst authentischen Eintragungen lässt sich der stattgefundene Prozess der Entmenschlichung bei diesem blutjungen Leutnant – der am Ende des Krieges mit 23 Jahren im Vergleich zu der Mehrzahl der Kompanieführer des Heeres schon wieder „alt“ war – und seinen Altersgenossen nicht aufzeigen. Das sollte Folgen haben für den Umgang der Deutschen mit sich selbst nach diesem ersten Völkergemetzel – und schließlich auch für den Umgang der Deutschen mit anderen Völkern: „Es wird schwer fallen, sich dieses Sprengstoffschmeißen wieder abzugewöhnen“, mutmaßt er am 2. Juni 1916 in einem der wenigen hellsichtigen Momente seines Kriegsdaseins. Ja, die „Generation von 1914“ wurde planmäßig zum Töten konditioniert. Ernst Jüngers Tagebücher bestätigen den Befund Robert Merles. Der Tod war der Beruf dieser Leute. Das „Käferbuch“ führte der Leutnant Jünger vom 29. Januar 1916 bis zum 27. Juli desselben Jahres. Ab dem 1. Juli 1916 tobte die Somme-Schlacht, die wohl verlustreichste Materialschlacht des Ersten Weltkrieges. Da fielen eine Menge Borkenkäfer aus den Balken der Unterstände. Aber eben auch über eine Million junger Männer auf beiden Seiten der Front.
Das Land, das man auf gründliche Weise verwüstete, spielt in den Aufzeichnungen Jüngers übrigens kaum eine Rolle – im Zweiten Weltkrieg sollte sich das ändern, da fühlte er sich quasi als überlegener Olympier und war zudem kein Bestandteil der kämpfenden Truppe, aber das ist ein andres Thema –, von gelegentlichen Randbemerkungen abgesehen. Da bezieht der Leutnant auf fatale Weise dieselbe Position wie sein Feldherr, der Generalquartiermeister des Heeres Erich Ludendorff, in seinen „Kriegserinnerungen“: „Für den einzelnen Bewohner des fremden Landes ist es allerdings gleich, auf welche Weise er sein Hab und Gut verliert. Er versteht die Kriegsnotwendigkeiten nicht, und das Urteil über die barbarische Kriegführung des Feindes ist dann schnell fertig.“ Ja, der Leutnant Jünger war ein tapferer Soldat und er gehörte als Offizier auch nicht zu den Menschenschindern wie wir sie bei Remarque und anderen beschrieben sehen können. Aber er war auch „ein ‚Funktionär’ jener Institution, die Millionen von Männern mit notfalls brutalen Mitteln dazu zwang, ihr gewohntes Leben und lang gepflegte Vorstellungen von Sittlichkeit aufzugeben, zu töten oder sich töten zu lassen.“ So Herausgeber Helmuth Kiesel in seinem Nachwort. Wie diese „Institution“ funktionierte, das lässt sich trefflich in Jüngers Aufzeichnungen nachvollziehen. Das ist nicht die gleisnerische Ästhetisierung des großen Mordens der „Stahlgewitter“. Ich möchte all jene, die junge Menschen heute noch immer oder schon wieder in den Krieg schicken, zwingen, dieses Buch zu lesen. Seite für Seite … Sie sollen wissen, was sie anrichten. Dieses Buch kommt zur rechten Zeit.
Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914 – 1918. Herausgegeben von Helmuth Kiesel, Klett-Cotta, Stuttgart 2010, 655 S., 32,95 Euro
Schlagwörter: Ernst Jünger, Frank Castorf, Franz Fühmann, Gunnar Decker, Heiner Müller, Helmuth Kiesel, Wolfgang Brauer