14. Jahrgang | Sonderausgabe | 17. März 2011

Deutsch-deutsches Dichterleben

von Kai Agthe

Eine Autobiografie hat Thomas Brasch (1945-2001) nicht geschrieben. Leider. Allein schon bei dem Gedanken, seine deutsch-deutsche Lebensgeschichte aufzuzeichnen, verspürte er großes Unbehagen. In seinem Tagebuch notierte er, er wolle sein gelebtes Leben nicht literarisch „verwursten oder sensationalisieren“. So zu lesen in Insa Wilkes Studie, die weniger eine Biografie, sondern eher eine Werkinterpretation mit biografischen Elementen ist. Denn die Autorin nähert sich dem Dichter über seine Texte und, daraus resultierend, über die intertextuellen Bezüge zu anderen Autoren. Im ersten Kapitel zeigt Wilke Verbindungen zu den Dichtungen Brechts und Isaak Babels auf. In der ebenso ausführlichen wie subtilen Analyse der Gedichte „Im Garten Eden, Hollywood genannt“ und „Babels Tod“ kann sie darlegen, dass es hier einen gemeinsamen Kern gebe in Form der Frage, „wie Schreiben als politisches Handeln in einer existenziell bedrohlichen, politisch extremen Situation möglich ist“.
An späterer Stelle, beim Thema Heiner Müller und Thomas Brasch, die „übereinander und aneinander geschrieben“ haben, macht die Autorin auf ein Desiderat aufmerksam: Beider Werke gegenüberzustellen, sei ein lohnendes Thema. Diesen Ball spielt Insa Wilke aber ganz uneigennützig den Germanistenkollegen zu. Weitere, zum Teil umfangreiche Ausführungen gelten unter anderem der Georg-Heym-Montage „Lieber Georg“ und dem Drama „Stiefel muß sterben“. Letztere ist eine „Tragödie mit komödiantischen Elementen“ über August von Kotzebue. Hier arbeitet die Autorin sehr deutlich heraus, was Brasch an einer Figur wie Kotzebue reizte.
Theatertexte verstand Brasch, ganz im Sinn Einar Schleefs, als „Gebrauchsgegenstände“, die immer aufs Neue eine „produktive Ratlosigkeit“ erzeugen sollten. Kaum etwas erregte seinen Unmut mehr als, wie er im Tagebuch notierte, die Bühne beziehungsweise die Sprache für „kostümierten Journalismus missbraucht“ zu sehen. Ob er hier an die späten Stücke Rolf Hochhuths dachte?
Thomas Brasch, der, ähnlich wie Franz Fühmann, eine Schwäche für Zahlenmystik hatte, wurde 1945 in England geboren, wo seine Eltern im Exil lebten. Vater und Mutter waren später in der DDR Funktionäre. Ihrem Sohn wollten sie den Weg in die Politbürokratie ebnen, in dem sie ihn in die Kadettenschule nach Naumburg schickten, die 1956 als Kaderschmiede für den NVA-Offiziersnachwuchs gegründet, aber 1960 bereits wieder geschlossen wurde. Rückblickend gab Brasch zu Protokoll, die vier Jahre in der nach preußischem Vorbild geführten Drillanstalt hätten ihn zum Schriftsteller gemacht. Das Verhältnis zu den Eltern war schwierig und wurde nicht einfacher, nachdem Brasch, als er 1968 gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei mit einer Flugblatt-Aktion protestierte, verhaftet worden war. Die familiären Verwerfungen werden von Wilke nicht detaillierter behandelt. Wohl aber wird Braschs Schwester mit den Worten zitiert, dass die jüdische Verwurzelung der Familie „permanent verdrängt (wurde), gerade von meinem Vater“.
Brasch, das zeigen auch die mit ihm geführten und 2009 bei Suhrkamp unter dem Titel „Ich merke mich nur im Chaos“ erschienenen Interviews (1976-2001), wollte, ganz im Gegensatz zu Wolf Biermann, nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik 1976 kein Dissident sein, sondern allein als Künstler wahrgenommen werden. Das ist eine Parallele zu Uwe Johnson, der 1959 die DDR verließ, und Einar Schleef, der 1976 im Westen blieb. Insa Wilke kommt noch an späterer Stelle auf Johnson zurück, da Brasch in seinem letzten Interview, das er 2001 gab, nach dem spröden Pommern befragt wurde. Bereits 1982 hatte er ihm das Gedicht „Halb Schlaf“ gewidmet, das sich Johnson sogar einrahmte und in seinem Haus an die Wand hängte.
Diffiziler war es um die Beziehung zu Christa Wolf bestellt. Sie bestimmte ihn 1987 zwar zum Kleist-Preisträger, ihrer Poetik aber stand Brasch denkbar fern. „Wolfs moralisch kaum gebrochen hoher Ton ist Brasch fremd“, so Insa Wilke. Noch das Gedicht „Der schöne 27. September“ aus dem gleichnamigen, 1980 erstmals publizierten Lyrikband ist eine Kritik an Wolfs Tagebuchprojekt, das 2003 unter dem Titel „Ein Tag im Jahr“ als Buch erschien – und dem das Brasch-Gedicht als Motto dient. Und immerhin hat Christa Wolf auch ein Nachwort für die posthum erschienene Neuauflage von „Der schöne 27. September“ (2004) verfasst.
Den Westen betrachtete Brasch nicht als die beste aller Welten. Seine Kapitalismus-Kritik hat er ebenso geharnischt formuliert wie die am real existierenden Sozialismus. Seine Lust am Widerspruch zeigte sich öffentlichkeitswirksam in seiner Dankrede bei der Verleihung des bayrischen Filmpreises für den Streifen „Engel aus Eisen“ im Jahr 1981. Den erhielt er aus den Händen des Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß. Dass sich Brasch kritisch äußerte und auch noch der Filmhochschule der DDR Dank sagte, wuchs sich zum Skandal aus. (Die Dankrede ist auf Youtube zu sehen.) Strauß rief Brasch süffisant hinterher, dass er der „liberalitas bavariae“ Gelegenheit zum Glänzen gegeben habe. Richtig ist, dass die bayrische Staatskanzlei tief beleidigt war und sich weigerte, dem Preisträger das Hotel zu bezahlen.
Die Studie von Insa Wilke bietet alles in allem einen anregenden Einblick in das Werk von Brasch, der auch da noch Bedeutendes geleistet hat, wo er, wie mit dem monumentalen Prosa-Projekt „Brunke“, gescheitert ist. Der knapp 100 Seiten umfassende Band „Mädchenmörder Brunke“ von 1999 ist nur ein Extrakt aus dem mehr als 15.000 Blatt umfassenden Textkorpus. Dieses gewaltige „Brunke“-Konvolut, das Insa Wilke im Brasch-Nachlass, der im Archiv der Akademie der Künste verwahrt wird, gesichtet hat, sei, so die Autorin, „eines der wenigen literarischen Werke, die die Wende als historische Zäsur und poetisch reflektieren“. Da Siegfried Unseld eine Veröffentlichung des Mammutunternehmens ablehnte, wird diese Textmasse heute noch weniger eine Chance auf Publikation haben als vor einem Jahrzehnt.
Durch dieses Buch kommt man dem deutsch-deutschen Dichter Thomas Brasch sehr nahe.

Insa Wilke: Ist das ein Leben. Der Dichter Thomas Brasch, Matthes & Seitz, Berlin 2010, 317 S., 26,90 Euro