von Erhard Crome
Die deutsche „politische Klasse“ oder Kaste laboriert noch immer an ihren Traumata im Gefolge der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA. Narrative Selbsttherapie soll helfen. So hat der Noch-Bundespräsident und gelernte Pfarrer Joachim Gauck gemeinsam mit seinem polnischen Amtsbruder Andrzej Duda am 28. November das Hauptquartier des Multinationalen Korps Nordost (MNC NE) der NATO in Szczecin besucht. Bei dieser Gelegenheit hat er den künftigen US-Präsidenten ermahnt, die Zusammenarbeit innerhalb der NATO wie bisher zu pflegen. „Ich gehe davon aus, dass ein Grundzug amerikanischer Außenpolitik Verlässlichkeit ist.“ Das meint, in Sachen NATO soll möglichst alles beim Alten bleiben. Und es ist die Hoffnung, wenn man das möglichst oft wiederholt, kommt es auch so.
Nun war der Präsident nicht irgendwo. Der NATO-Gipfel im walisischen Newport hatte im September 2014 einen Aktionsplan in Bezug auf Osteuropa und die Schaffung einer „sehr schnell einsetzbaren Truppe“ beschlossen, die innerhalb von nur zwei bis drei Tagen einsatzbereit sein soll, grundsätzlich überall auf der Welt, vor allem aber gen Osten. Die 3000 bis 5000 Soldaten sind Teil der zuvor schon existierenden NATO Response Force (NRF), ausgerüstet mit nur leichtem Gepäck; Fahrzeuge, Waffen, Munition und anderes Gerät werden in den voraussichtlichen Einsatzländern gelagert. In Szczecin ist die Führungsformation für diese schnelle Eingreiftruppe der NATO stationiert, die von Deutschland, Polen und Dänemark gestellt wird. Im Falle einer Konfrontation mit Russland übernimmt sie das Kommando. Der damalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sprach 2014 von einer „Speerspitze“ gegen Russland.
Wenn aber in Trumps Stab eine Neubewertung der Beziehungen zu Russland erfolgt (etwa weil man verschiedene Konfliktherde ausräumen oder Russland im Handelskrieg gegen China auf der eigenen und nicht der Gegenseite haben will), was soll dann diese Truppe? Im Grunde hat Gauck die kommende US-Regierung aufgefordert, die anti-russische Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik beizubehalten.
Es gibt inzwischen aber auch ganz anders gelagerte Überlegungen in Richtung einer deutschen Konfliktfähigkeit gegen Russland. Der Politikwissenschaftler Christian Hacke, ein Fossil des Kalten Krieges, meldete an, Deutschland brauche auch in einem Konflikt mit Russland die Fähigkeit zur „Eskalationsdominanz“. Was heißt das? Zunächst liegen hier wieder alte Konzepte des Kalten Krieges zu Grunde: es gibt einen Konflikt, die eine Seite erhöht den Druck, die andere folgt, die erste verschärft erneut und so weiter. Das kann man sich mit nicht-militärischen Mitteln denken, wie es beide Seiten mit den Wirtschafts- und Handelssanktionen in den vergangenen Jahren vorgeführt haben. Das kann aber auch militärisch gedacht werden: die NATO stationiert also 5000 Mann in Nähe der russischen Grenze, als Antwort verlegt Russland an seine Westgrenze drei Divisionen zusätzlich, der Westen installiert im Osten „Raketenabwehrsysteme“, die angeblich der Verteidigung dienen, in der Tat jedoch Teil eines offensiven atomaren Kriegsführungskonzepts sind, worauf Russland im Gebiet Kaliningrad Raketen stationiert, die mit Nuklearsprengköpfen bestückt werden können und in wenigen Minuten Warschau oder Berlin erreichen.
Henry Kissinger – Sicherheitsberater und Außenminister des US-Präsidenten Richard Nixon, der für die USA in den 1970er Jahren den Friedensschluss mit Vietnam verhandelte und mit der Sowjetunion die ersten Verträge über die Begrenzung der nuklear-strategischen Waffensysteme – sagte dazu, wer eskaliert, muss auch wissen, wie er da wieder herauskommt und deeskaliert. Das wissen die Strategen der Obama-Regierung und der anderen NATO-Staaten im Verhältnis zu Russland gegenwärtig nicht. Wenn die Runde mit Obama im Bundeskanzleramt (siehe mein Text im Blättchen, Nr. 24) etwas zu entscheiden gehabt hätte, wäre das ein Einfrieren des Streits mit Russland auf dem derzeitigen Niveau. Aus offensichtlicher Ratlosigkeit.
Die Dominanz in der Eskalation hat jedoch derjenige, der eine Lage verschärfen kann, ohne dass die Gegenseite wirksam etwas dagegen zu tun vermag. Der Westen hatte sie zum Beispiel in seinem Libyen-Krieg: Russland und China mussten zuschauen und konnten gegen den Bruch des Völkerrechts und die Verletzung des Beschlusses des UNO-Sicherheitsrates nur politisch-diplomatisch protestieren. Ein militärisches Eingreifen auf Seiten der Gaddafi-Regierung hätte eine Konfrontation mit den USA und der NATO und – die Eskalation zu Ende gedacht – die Gefahr eines Atomkrieges heraufbeschworen. Umgekehrt hat Russland die Eskalationsdominanz im jetzigen Syrien-Krieg: der Westen kann die Einsätze der syrischen Regierungstruppen und Russlands nicht verhindern, ohne seinerseits eine offene militärische Konfrontation heraufzubeschwören, deren Konsequenz der Atomkrieg wäre. Genau dies hatte Hillary Clinton angedroht.
Was aber will nun Hacke? Welche Eskalationsdominanz Deutschlands gegen die Atommacht Russland meint er? Das hat er nicht gesagt. Berthold Kohler, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ließ nun aber die Katze aus dem Sack (27.11.2016): Wenn Trump bei seiner Linie bleibe, werden die USA die „Verteidigung Europas“ (gemeint ist EU-Europa) in einem Maße „den Europäern“ überlassen, das sie seit 1945 nicht mehr kennen. Abgesehen davon, dass Kohler hier den Krieg Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion in die Tradition der „Verteidigung Europas“ stellt, die 1945 die USA übernommen hätten, kommt er zu der Folgerung, nun stünden nicht nur höhere Ausgaben für Verteidigung und die „Wiederbelebung der Wehrpflicht“ auf der Tagesordnung, sondern auch „das für deutsche Hirne ganz und gar Undenkbare, die Frage einer eigenen nuklearen Abschreckungsfähigkeit“ gegen Moskau. Die französischen und britischen Arsenale seien dafür zu schwach. Das meint offensichtlich die deutsche Atombombe.
Im Artikel 3 des „Zwei-plus-Vier-Vertrages“ von 1990 hatten die Regierungen der BRD und der DDR den Verzicht auf die Herstellung und den Besitz von und die Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen bekräftigt und erklärt, dass auch das vereinigte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten werde. Frankreich, Großbritannien, die UdSSR und die USA erklärten im Gegenzug in Artikel 7 die Beendigung ihrer „Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes“, mit der Folge: „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.“ Demgemäß heißt: unter diesen Bedingungen. Damit waren die deutschen Angelegenheiten, wie sie Teil des Kalten Krieges und der internationalen Auseinandersetzungen seit 1945 waren, in der Sache abschließend geregelt.
Offenbar fühlen sich Teile der politischen Kaste in Deutschland inzwischen wieder so stark, dass sie meinen, das alles sei Makulatur und sie könnten sich über den „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ hinwegsetzen. Da ist sie wieder, die deutsche Überhebung, die die Welt in zwei verheerende Weltkriege geführt hat! Allerdings ist auch dies wieder eine Fehlperzeption. Wenn es um die Verhinderung einer Atommacht Deutschland geht, sitzen die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges wieder in einem Boot. Alle vier. Auch Frankreich und Großbritannien. 1936 hatten die Westmächte Hitlers Rheinlandbesetzung hingenommen, die der offene Bruch mit dem Versailler Vertrag war. Das werden sie nicht noch einmal tun.
Schlagwörter: Atomwaffen, Deutschland, Donald Trump, Erhard Crome, NATO, Russland, USA, Zwei-plus-Vier-Vertrag