von Peter Linke
Nachdem Japans Ministerpräsident Shinzō Abe im Ergebnis der Oberhauswahlen vom Juni in beiden Kammern des Parlaments über eine Zweidrittelmehrheit verfügt, befürchten viele, nun seien die Tage der Friedensverfassung von 1947 wohl endgültig gezählt. In der Tat hat Japans konservativer Regierungschef wiederholt sein Unbehagen über den in Artikel 9 verankerten Grundsatz zum Ausdruck gebracht, wonach das Land auf alle Zeiten auf Krieg als Mittel internationaler Konfliktbeilegung verzichtet und daher niemals Land-, See- und Luftstreitkräfte unterhalten wird.
Andererseits wird dieses pazifistische Prinzip allein durch die Entwicklung der sogenannten Selbstverteidigungsstreitkräfte (jieitai) seit Jahren ad absurdum geführt, ohne dass dies wirkliche Empörung hervorgerufen hätte.
Ja, die Verfassung wird fallen. Allerdings wird dies nicht den Beginn, sondern das Ende einer von Abe bereits vor Jahren begonnen Fundamentalrevision der japanischen Sicherheits- und Militärpolitik markieren.
Begonnen hat dieser Prozess spätestens Ende 2013 mit der Verkündung der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie (kokka ansen hoshō senryaku) seit Ende des 2. Weltkriegs. Ihr Kern: ein radikaler Schwenk der Sicherheitsoptik von Nord nach Süd – die Hauptgefahr für Japan gehe nicht länger von Russland aus, sondern von China, der aufstrebenden maritimen Weltmacht, die mit ihren Versuchen, das Ostchinesische Meer unter ihre Kontrolle zu bringen, die Souveränität Japans über seinen südlichen Inselbogen (ryūkyū-ko) langfristig in Frage stelle. Dieser Gefahr zu begegnen, erfordere neuartige militärische Mittel – von schnellen Eingreifkräften über fortgeschrittene Tarnkappenbomber und Raketenabwehrkapazitäten bis hin zu cyber- und weltraumgestütztem Aufklärungsgerät.
Ein derart proaktiver Ansatz resultiert auch aus den Erfahrungen, die Tokio derzeit mit Washington macht: Die von Präsident Obama vielfach beschworene „Türangel nach Asien“ klemmt erheblich, was bei Abe & Co. die Überzeugung verstärkt, in der bevorstehenden Auseinandersetzung mit Peking nicht unbedingt auf den bislang wichtigsten Bündnispartner zählen zu können.
Vor den Kopf stoßen respektive misstrauisch machen möchte man die US-Amerikaner freilich auch nicht. Also verständigte man sich im Frühjahr 2015 auf neue Leitlinien der verteidigungspolitischen Zusammenarbeit (nichibei bōei kyōryoku no tame no shishin): erhöhte Offensivfähigkeit der japanischen Streitkräfte, Waffensysteme überregionaler Reichweite, Verzahnung militärischer und nicht-militärischer Krisenreaktionsmittel – die Liste der angestrebten Neuerungen ist lang. Letztlich jedoch geht es darum durchzusetzen, was Japans Verfassung strikt untersagt: das Recht Nippons auf „kollektive Selbstverteidigung“ sowie die aktive militärische Unterstützung der USA und deren Verbündeter out of area. Eine alte Forderung Washingtons, der nachzukommen nunmehr durchaus im strategischen Interesse Tokios liegt.
Japan als „normale Militärmacht“ zu etablieren – nie waren Japans Falken diesem ihrem Ziel näher als heute. Denn anders als nach früheren entsprechenden Willensbekundungen schafft Abe Fakten: Noch ehe er im Sommer vergangenen Jahres eine Reihe gravierender Sicherheitsgesetze durchs Parlament peitschte, die den Status der Selbstverteidigungsstreitkräfte als global agierende, dem Schießkrieg nicht länger abgeneigte Streitkräfte zementierten, hatte er wesentliche rüstungspolitische Weichenstellungen vorgenommen.
So im April 2014, als er die 1967 von Premier Eisaku Sato formulierten „Drei Prinzipien des Waffenexports (buki yushutsu sangensoku) – keine Rüstungsgüter in COCOM-und andere Embargo-Staaten sowie in Länder, die in internationale Konflikte verwickelt werden könnten – kurzerhand durch „Drei (windelweiche – P.L.) Prinzipien des Transfers von Wehrgütern und Wehrtechnologie“ (bōei sōbi iten sangensoku) ersetzte.
Zwei Monate später begann mit der Verkündung einer „Strategie der Wehrgüterproduktion und deren technologischer Grundlagen“ (bōei seisan – gijutsu kiban senryaku) die endgültige Abkehr von der von Yasuhiro Nakasone Anfang der siebziger Jahren proklamierten „Politik eigenständiger technologischer Entwicklung“ (kokusanka hōshin). Letztere hatte dem Land unikale Waffensysteme beschert, allerdings zu exorbitanten Preisen aufgrund geringer Stückzahlen (infolge nicht vorhandener Exportmöglichkeiten, sieht man von vereinzelten Lieferungen an den Hauptverbündeten USA ab), stark zersplitterter Forschungs- und Produktionskapazitäten (jede Teilstreitkraft ließ autonom forschen und produzieren) sowie wenig Synergieeffekten (dank eines tiefen Grabens zwischen Rüstungs- und Zivilwirtschaft).
Abgestimmte, effektive Beschaffungsprogramme, preisgünstige, zeitnahe Forschung & Entwicklung, das Anzapfen zivilindustrieller Quellen für militärische Hochtechnologie-Lösungen sowie internationale wehrtechnische Zusammenarbeit, um in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Kosten zu senken und damit nationale Rüstungskapazitäten zu erhalten, sind dementsprechend wesentliche Punkte des wehrtechnologischen Reformprogramms Shinzō Abes.
Organisatorisches Herzstück dieses Programms: das im Oktober vergangenen Jahres aus der Taufe gehobene „Amt für Beschaffung, Technologie und Logistik“ (bōei sōbi chō) oder ATLA, das von einem Kommissar, Hideaki Watanabe, geleitet wird, dessen Position der eines stellvertretenden Verteidigungsministers entspricht und zu dessen aktuellen Aufgaben die Erarbeitung von Richtlinien für den Waffenexport in verbündete Länder sowie die Klassifizierung von Wehrtechnik nach dem Kriterium „Export zulässig oder nicht“ zählt.
Viel Zeit dafür bleibt Watanabe nicht, nachdem Japan im Juni diesen Jahres sehr diskret als erstes asiatisches Land dem sogenannten „Gegenseitigen Wehrbeschaffungspakt“ (RDP) beigetreten ist, dessen Mitglieder – darunter neben vielen NATO-Staaten (Deutschland eingeschlossen) auch Länder wie Israel, Ägypten und Schweden – (theoretisch) privilegierten Zugang zum US-amerikanischen Markt genießen.
Der Weg in die Zukunft, wie Abe ihn offensichtlich vor Augen hat, bleibt jedoch ein steiniger: Weder verfügt Japan über wirkliche Erfahrungen im internationalen Rüstungsgeschäft, noch kann es mit „kampferprobten Systemen“ punkten. Eine ganze Reihe gescheiterter Projekte wie die geplanten Lieferungen von Sōryū-U-Booten an Australien, von P-1-Seeraumüberwachungsflugzeuge an Großbritannien sowie von US-2-Such- und Rettungsflugzeuge an Indien, Indonesien und Vietnam sprechen eine deutliche Sprache.
Eine Alternative zum Export kompletter Systeme wäre die Ausfuhr bestimmter militärischer Komponenten (Steuerungssysteme, Störtechnik) oder dualer Technologien (Robotik, künstliche Intelligenz). Insbesondere bei letzteren hat Tokio seit vielen Jahren wertvolle Erfahrungen gesammelt.
Ein weiteres Problem neben der noch immer starken pazifistischen Grundhaltung großer Teile der japanischen Bevölkerung ist die wehrtechnische Abstinenz vieler japanischer Hochtechnologie-Firmen. Außer Mitsubishi und Kawasaki, die sich zu ihren Rüstungssparten offen bekennen, verfügt nahezu kein japanischer Großkonzern über eine nennenswerte wehrtechnische Produktion. Der Aufbau einer „Agentur für wehrtechnische Grundlagenforschung“ (einer Art japanischer DARPA) unter dem Dach der seit langem bestehenden „Organisation für neue Energie und industrietechnologische Entwicklung“ (shin enerugii – sangyō gijutsu sōgō kaihatsu kikō), kurz NEDO, soll zweifelsohne dazu beitragen, die Sorge ziviler Giganten wie Sharp oder Kyocera zu zerstreuen, eine Beteiligung an Rüstungsprojekten könne ihren Ruf als „Händler des Friedens“ nachhaltig schädigen.
Letztlich jedoch dürfte der Erfolg des neuen rüstungspolitischen Kurses davon abhängen, ob es Tokio (diesmal) wirklich ernst meint mit der Internationalisierung seiner Wehrpolitik, oder darunter (wieder einmal) nur einen intensiveren technologischen Austausch mit den USA versteht. Angesichts der erklärten Absicht Washingtons, die globale technologische Führerschaft der USA auf Jahrzehnte festschreiben zu wollen (Offset Strategy III) wäre dies schon im Ansatz reines Wunschdenken. Auch sind die technologiepolitischen Erfahrungen, die Japan in der Vergangenheit mit den USA machen musste, alles andere als gut, denke man nur an das Gerangel in den 1980er und 1990er Jahren um einen Nachfolger für den japanischen Erdkampfbomber F-1, das sogenannte FSX-Projekt, an dessen Realisierung die Amerikaner unbedingt beteiligt sein wollten, um japanisches Know-how abzugreifen, oder, gut zwanzig Jahre später, um den F-22 Raptor, den sie wegen seiner fortgeschrittenen Tarnkappeneigenschaften ihrem Hauptverbündeten im Asiatisch-Pazifischen Raum einfach nicht verkauften.
Ist Tokio bereit, dem Schwenk seiner Sicherheitsoptik von Nord nach Süd einen technologiepolitischen Schwenk in Richtung Eurasien folgen zu lassen? Die Äußerungen Abes auf dem Östlichen Wirtschaftsforum in Wladiwostok Anfang des Monats könnten dies angedeutet haben …
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