von Fritz E. Gericke
„Jugenderinnerungen eines alten Mannes“ – so nannte der Dresdner Maler Georg Alexander Wilhelm von Kügelgen seine Autobiografie. Ein Konservativer, für den die französischen Truppen unter Napoleons Führung ein plündernder chaotischer Haufen und die Russen Befreier waren. Seitdem ist viel Wasser die Elbe heruntergeflossen.
Einem alten Mann in der heutigen Zeit, die mitgeprägt ist vom Jugendwahn, der vorrangig befördert wird von der Kosmetikindustrie und dem inhaltsleeren Begriff einer Leistungsgesellschaft (als hätte es je eine Gesellschaftsordnung gegeben, in der dem normalen Bürger die gebratenen Taube wie im Schlaraffenland in den Mund geflogen wären) erscheint der Abschnitt in der Geschichte, die er er- und überlebt hat, als Aneinanderreihung verspielter Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens.
„Leichtfertig ist die Jugend mit dem Wort.“ Ich erinnere mich des Unverständnisses, ja des Zorns, der in mir aufkam, wenn ich diesen Spruch hören musste. Verkündete ich ihn heute einem Jüngeren, würde der wohl günstigsten Falles cool lächeln, wahrscheinlich aber schallend lachen. Es mutet ja auch seltsam an, wenn ich die Unbeholfenheit vieler Altersgenossen oder deren stolze Weigerung sehe, sich etwa mit den Möglichkeiten der neuen Kommunikationstechnologien zu beschäftigen. Und wie als Reaktion auf die vermeintliche Überheblichkeit lächeln oder lachen die Alten über die manchmal schon religiöse Züge annehmende Gläubigkeit der Jugend gegenüber den neuen Technologien. Ein Generationskonflikt ist das nicht, in einem Konflikt nehme ich mein Gegenüber wahr, es ist Verständnislosigkeit, und Verständnislosigkeit verhindert jeden Dialog, sie lässt nur Monologe zu.
Da steht er dann, der alte Mann, der immer schlechter hört, und der manchmal aufhören möchte zuzuhören, dessen Augen langsam schlechter werden, der aber dennoch klarer sieht – zumindest hat er den Eindruck – als die jungen Leute. Und so falsch liegt er damit wohl nicht. Es ist zum geflügelten Wort geworden, in der Politik, in der Wirtschaft, im Sport, wir können es nahezu täglich hören: „Wir müssen nach vorne blicken.“ Ich mag dieses Wort nicht, wer immerzu nur nach vorn blickt, der weiß nicht, was in seinem Rücken passiert. Wer immer nur an die Zukunft denkt und Vergangenes nicht beachtet, wird keine haben. Und das ist es, was einen alten Mann umtreiben kann. Der Mensch ist wohl das einzige Lebewesen, das über das Heute hinaus seinen Blick auf das Morgen und Übermorgen richtet. Und während wir den Nebel, in dem das Morgen für uns verborgen liegt, zu durchdringen suchen, versinkt das Gewesene im Dunkel der Vergangenheit. Woran nicht mehr gedacht wird, das wird nicht mehr gedacht, es wird Geschichte. Und Geschichte ist nicht nur wortverwandt den Erzählungen, die wir Geschichten nennen, aus Geschichten werden Legenden. Da kann es auch nicht Wunder nehmen, wenn Begriffe auftauchen wie Neofaschismus oder Neoliberalismus. Nichts daran ist „neo“. Der Faschist von heute unterscheidet sich nur unwesentlich von dem Faschisten der Vergangenheit. Der Faschismus ist nicht „neo“, er ist schon lange alltäglich. Wir nennen Dinge oder Anschauungen „neo“, weil uns ihre Existenz in der Vergangenheit vergangen schien. Und nun tauchen sie wieder auf mit all ihren hässlichen Begleitbegriffen, wie „Das Boot ist voll“ oder „Überfremdung“ oder „Gesindel“, und man baut sich einen drei Meter hohen Zaun um sein Grundstück, denn „man weiß ja nie…“. Viel lieber allerdings würde man einen drei Meter hohen Zaun, natürlich ohne Tür, um das Grundstück ziehen, in dem 25 Asylbewerber, als Schutzsuchende, untergebracht werden sollen. Das ist alltäglicher Faschismus. Faschismus ist eine Ideologie der Angst, die Gewalt ausübt, um selbst nicht Opfer von Gewalt zu werden.
Und dann fährt die deutsche Bundeskanzlerin nach Russland, um – aus eigenen oder fremden Erwägungen zeitlich verschoben – des Endes des Zweiten Weltkriegs zu gedenken. 13 Millionen Soldaten, darunter 3,3 Millionen in deutscher Gefangenschaft, und 14 Millionen Zivilisten hatte die in einem verbrecherischen Akt von Deutschland überfallene Sowjetunion zu beklagen, mehr als jedes andere Land. Und ausgerechnet die deutsche Bundeskanzlerin spricht in der Presskonferenz von einer „verbrecherischen Annexion der Krim“, die unsere Beziehungen zu Russland belaste, während der russische Staatspräsident Wladimir Putin Deutschland als erstes Opfer der Faschisten bezeichnet hatte und den Wunsch nach freundschaftlichen Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland äußerte. Die Kanzlerin hätte gut daran getan, nicht nur in die Zukunft oder nur kurz über die Schulter auf die Gegenwart, sondern ernsthaft zurück in die Vergangenheit zu blicken.
Wir sind stolz darauf, ein Rechtsstaat zu sein. Wir erwarten, dass alle, also auch die Russen, sich an die Gesetze halten, während Amerika als Weltmacht sich eigenen Regeln unterwirft. Die Welt richtet sich jedoch nicht allein nach niedergeschriebenen Gesetzen, an deren Entstehung meist diejenigen, die sich daran halten sollen, gar nicht beteiligt waren. Die Erfahrung – die aus Gewesenem resultiert, nicht aus dem, was kommen könnte –zeigt uns, dass vom Menschen geschaffene Gesetze zwar ein Halt gebendes Gerüst sind, doch es gibt noch weitere Faktoren, die das Leben und Zusammenleben beeinflussen. Die Natur, von der wir Teil sind, hat ihre eigenen Gesetze, und dazu zählen auch Liebe und Hass, Stolz und Demut, Aggression und Angst, der Wille zu leben und zu überleben. Wer diese ungeschriebenen Gesetze missachtet und allein auf die von Menschen geschaffenen Gesetze baut, der hat verloren. Politik braucht Empathie in mindestens dem gleichen Maße wie Selbstsucht.
Ich als Alter weiß noch, wie meine Mutter gern aus ihrem Poesiealbum den Spruch zitierte: „Erinnerungen sind ein Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ Ich habe kein Poesiealbum und meine Erinnerungen sind auch kein Paradies, sie sind, was ich als Realität erlebt habe, und das ist gut so. Denn nur durch Erinnerung an die Realität können wir vermeiden, Fehler zu wiederholen und falschen Propheten zu folgen, können wir Vorurteile ablegen und lernen, objektiver zu urteilen. Russland ging aus der Kiewer Rus hervor, Kiew war Russlands Haupt- und Krönungsstadt. Die Kiewer Rus war umgeben von Bulgaren, Chasaren, Mordwinen, Ungarn und Polen. Die Krim war fast zwei Jahrhunderte russisches Hoheitsgebiet. Die Ukraine als selbstständiger Staat existiert erst seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, was nicht heißen soll, dass sie keine Rechte hat, aber man sollte sich dennoch an die Geschichte erinnern: Stepan Bandera, Nationalheld der Ukrainer, dem man Denkmäler errichtet, war als Verehrer Hitlers verantwortlich für das Massaker von Lemberg, bei dem Tausende von Juden, Polen und Ukrainern ermordet wurden.
Erinnerungen sind kein Paradies, manchmal sogar eine Hölle, nur wer sie kennt, wird darauf achten, dass sie verschlossen bleibt.
Schlagwörter: Erinnerungen, Faschismus, Fritz E. Gericke, Russland, Ukraine, Zweiter Weltkrieg