Herr Bertram, Sie konstatierten unlängst bei einer Podiumsdiskussion mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier, dass Deutschland sich außen- und sicherheitspolitisch schon viel zu lange in „strategischer Gleichgültigkeit“ genüge. Was veranlasst Sie zu einer solchen Einschätzung?
Christoph Bertram: Es gibt dafür eine ganze Reihe von Indikatoren. Das beginnt damit, dass seit langem tragende Elemente der früher so erfolgreichen bundesdeutschen Außenpolitik zunehmend rituell fortgeführt worden sind, ohne – parallel zu den teilweise gravierenden Wandlungen der internationalen Rahmenbedingungen – inhaltlich weiterentwickelt zu werden.
Nehmen wir das Beispiel Europäische Union: Verbal wird zwar immer noch das fundamentale strategische Interesse Deutschlands an Zusammenhalt und Stärkung Europas bemüht, aber in der Euro-Krise vorherrschend war und ist die buchhalterische Sorge vor den Kosten europäischer Solidarität und die Frage „Grexit – ja oder nein?“. Dass damit die europäische Einigung zur Disposition gestellt wird, ist ebenso aus dem Blick geraten wie die Notwendigkeit, aus deutschem Interesse heraus alles zu tun, um einen Verfall der EU nicht zuzulassen.
Oder das Beispiel USA: Das Verhältnis zu Washington, das im Falle des Falles auch künftig der entscheidende Garant unserer Sicherheit ist, wurde dem Selbstlauf überlassen und verschwindet in jüngster Zeit hinter Kürzeln wie NSA und TTIP.
Oder Russland: Die nach dem Ende des Kalten Krieges gegebenen neuen Möglichkeiten im Verhältnis zu Moskau wurden nur halbherzig genutzt, und das anfängliche Bemühen, belastbare Ost-West-Verstrebungen zu schaffen, versandete. Und über all diese Punkte gibt es in Deutschland seit etlichen Jahren nicht einmal eine Debatte, die diesen Namen verdiente. In den Medien schrumpfte der Platz für diese Themen und im Bundestag die Zahl entsprechend kompetenter Abgeordneter.
Diese strategische Gleichgültigkeit hatte nicht zuletzt fatale Auswirkungen auf die breitere Öffentlichkeit, die inzwischen Forderungen nach mehr internationalem Engagement reflexartig mit mehr deutschen Militäreinsätzen im Ausland gleichstellt – und schon deswegen ablehnt. Das bekamen nach der letztjährigen Münchner Sicherheitskonferenz der Bundespräsident und der Außenminister ziemlich heftig zu spüren.* Insgesamt hat der Widerstand gegen ein stärkeres internationales Engagement Deutschlands dramatisch zugenommen. 1994 plädierten in Umfragen noch fast zwei Drittel dafür, heute liegt der Anteil nur noch bei rund einem Drittel. Lieber Einnischen als Einmischen ist längst der vorherrschende Trend.
Und wo liegen die Ursachen dafür?
Bertram: Zu dieser strategischen Gleichgültigkeit oder Sorglosigkeit hat vieles beigetragen. Das ja berechtigte Gefühl, in Europa seit Ende des Kalten Krieges von Freunden umgeben zu sein, ebenso wie die für die deutsche Wirtschaft ausgesprochen günstige Globalisierung der Märkte. Terror betraf national wie international vor allem andere Staaten. Hinzu kam die latent immer bestehende Neigung gewählter Volksvertreter zur Entpolitisierung der Außenpolitik, weil es ihnen häufig einfacher erscheint, nicht die deutschen Interessen klar zu benennen, um die es bei jeglichen internationalen Aktivitäten geht, sondern ihr Handeln als von nationalem Egoismus freie, altruistische Wert-Entscheidungen zu kaschieren. Da wird dann gegebenenfalls selbst militärisches Engagement etwa im Kosovo oder in Afghanistan nicht als Bündnis- und Sicherheitsgebot präsentiert, sondern als – gute Entwicklungsarbeit.
Wenn man nicht unmittelbar am Abgrund steht, dann ist strategische Gleichgültigkeit im Übrigen lange durchhaltbar.
In der erwähnten Podiumsdiskussion hat der Außenminister Ihrem Befund allerdings zumindest im Hinblick auf das Parlament nachdrücklich widersprochen: Dort kümmerte man sich …
Bertram: Wir hatten bei der Gelegenheit zeitlich nicht die Möglichkeit, das auszudiskutieren. Aber – außenpolitische Grundsatzdebatten im Parlament? In den letzten zehn Jahren? Nahezu Fehlanzeige. Gewiss, Mandatsdebatten zu internationalen Bundeswehreinsätzen hat es häufig gegeben, also Detail-Betrachtungen. Aber kaum eine Erörterung der Grundlagen deutscher Außenpolitik.
Gewisse Defizite scheinen allerdings auch Steinmeier umzutreiben, denn Ihrer beider Diskussion fand im Rahmen des Projektes „Review 2014 – Außenpolitik Weiter Denken“ statt, das der Außenminister im Dezember 2013 angestoßen hatte. Sie waren involviert. Wie kam es zu diesem Projekt und welche Ziele standen im Fokus?
Bertram: 2013 erhielt Frank-Walter Steinmeier zusammen mit dem ehemaligen norwegischen Außenminister Jonas Gahr Støre in Berlin den Willy-Brandt-Preis. Gahr Støre hatte in seiner Zeit als Außenminister ein mehrjähriges Veranstaltungsprogramm ins Leben gerufen, um die norwegische Öffentlichkeit mit den außenpolitischen Gegebenheiten und Möglichkeiten ihres Landes besser vertraut zu machen. Und als Steinmeier dann überlegte, welche Akzente er in seiner zweiten Amtszeit setzen wollte, nutzte er die Anregung. Er kündigte das Projekt bereits in seiner Antrittsrede am 17. Dezember 2013 an. Dabei machte er klar, dass es weder um positive Selbstdarstellung gehen sollte noch um eine Neuformulierung aktueller deutscher Außenpolitik, die das Auswärtige Amt allein im Übrigen ja auch nicht leisten könnte. Steinmeier ging es mit Review 2014, ich zitiere, „um etwas sehr viel Grundsätzlicheres: Wir brauchen heute einen erwachsenen, aufgeklärten Diskurs über den institutionellen Rahmen, in dem sich unser außenpolitisches Handeln bewegen soll, über das Maß an Verantwortung, das wir in den nächsten zehn, zwanzig Jahren schultern können, aber auch darüber, wo die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit sind. Und ich will das ganz bewusst nicht als klassischen innerministeriellen Prozess anlegen, sondern als Dialog des Auswärtigen Amtes mit den wichtigsten außen- und sicherheitspolitischen Stakeholdern unter Einschluss der Zivilgesellschaft.“ Das Projekt sollte das öffentliche Bewusstsein für außenpolitische Fragen schärfen. Schon wenige Wochen später, im Januar 2014, trat im Planungsstab des AA eine Arbeitsgruppe zusammen, um dem auf ein Jahr terminierten Vorhaben eine inhaltliche Struktur und einen Ablaufplan zu geben.
Welche Aufgaben hatten Sie in diesem Projekt?
Bertram: Ich bin von Steinmeier – wir kennen uns seit meiner Zeit bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, Steinmeier war damals stellvertretender Vorsitzender des Stiftungsrates – gefragt worden, ob ich ihn bei Review 2014 beraten könnte, und das habe ich gern getan.
Konkret realisiert wurde die Review in drei Phasen…
Bertram: … die eng miteinander verschränkt waren.
In Phase eins richtete der Minister zwei bewusst zugespitzte Fragen an 50 Experten, davon zwei Drittel aus dem Ausland: „Was, wenn überhaupt, ist falsch an der deutschen Außenpolitik? Und was, wenn überhaupt, muss daran geändert werden?“ Die Antworten wurden auf der Internetseite des Projektes veröffentlicht und haben dort zu einer intensiven, kritischen Debatte geführt.
In Phase zwei stellten sich Verantwortliche des Auswärtigen Amtes bis hin zu Botschaftern, Staatssekretären und dem Minister selbst deutschlandweit in rund 80 öffentlichen und halb-öffentlichen Veranstaltungen dem Gespräch über aktuelle außenpolitische Themen.
In Phase drei schließlich, die als einzige nicht öffentlich war und mit der über das Programm von Gahr Støre hinausgegangen wurde, diskutierten Mitarbeiter des Auswärtigen Dienstes die Folgen, die sich für ihre Aufgabe aus den internationalen Veränderungen ergeben.
Am 25. Februar 2015 zog der Minister Bilanz und präsentierte die Ergebnisse seiner Review mit dem die Richtung seiner Folgerungen angebenden Untertitel „Krise Ordnung Europa“. Der Abschlussbericht kann im Internet eingesehen werden.
Das Personal des Auswärtige Amtes gilt ja einerseits als ziemlich elitär und andererseits als sehr in sich ruhend. Wie ist denn Review 2014 im Hause aufgenommen und mitgetragen worden?
Bertram: Keine Bürokratie mag es, aus ihrem Trott herausgeholt zu werden. Aber in diesem Fall war die interne Reaktion schon erstaunlich. Die Bereitschaft zur Mitwirkung war groß. Dass der Minister trotz der vielen anderen Ereignisse, die seinen Einsatz verlangten, stets hinter dem Projekt stand, hat gewiss dazu beigetragen.
Im Übrigen ist das Auswärtige Amt ein in der Bundesregierung einzigartiges Reservoir außenpoltischen Fachwissens. Die Review hat dazu nicht zuletzt gedient, die Öffentlichkeit daran zu erinnern und damit auch das Gewicht des AA zu erhöhen. Daher meine Hoffnung, dass das Auswärtige Amt den Austausch mit der Öffentlichkeit künftig intensiv betreibt und die Diskussionsplattform im Internet weiter offen hält.
Wie waren denn die Besucherresonanz bei den öffentlichen Veranstaltungen und das Medienecho?
Bertram: Klagen über Besuchermangel hat es jedenfalls keine gegeben – im Gegenteil. Das Interesse an außenpolitischen Fragen in der Öffentlichkeit, das war immer wieder zu merken, ist groß.
Nicht in der erhofften Weise entfaltet hat sich allerdings die Berichterstattung in den Medien über die Veranstaltungen. Das mag vielleicht auch daran gelegen haben, dass deutsche Diplomaten selten die kontroverse Debatte in der Öffentlichkeit suchten und damit nicht die Medienaufmerksamkeit erfuhren.
Welche Auswirkungen hatten die zum Teil dramatischen internationalen Entwicklungen des Jahres 2014 – insbesondere die Konfrontation zwischen dem Westen und Russland, der Vormarsch des Islamischen Staates und die Ebola-Epidemie – auf das Projekt?
Bertram: Die Krisen haben das öffentliche Interesse spürbar anwachsen lassen. Aber sie haben damit die Review nicht etwa überflüssig gemacht. Wenn die Krisen vorbei oder zu Routine erstarrt sind, lässt auch das öffentliche Interesse rasch nach. Der Review ging es darum, Außenpolitik generell als essentielles Element deutscher nationaler Interessen deutlich zu machen. Und diese Aufgabe bleibt.
Welche Rolle spielte der militärische Faktor, spielten Auslandseinsätze der Bundeswehr bei Review 2014?
Bertram: Keine. Denn die Review konnte und sollte ja keine Anleitung zu operativer Außenpolitik sein. Dass militärische Mittel mit in den außenpolitischen Werkzeugkasten von Staaten gehören, ist unbestreitbar. In einigen der Expertenbeiträge wurde allerdings mehr Engagement durch das in dieser Hinsicht als sehr zögerlich empfundene Deutschland angemahnt.
„Im Umgang mit Krisen muss deutsche Außenpolitik ihren Blick verstärkt auf Prävention, Ausgleich, und Mediation richten, um zu verhindern, dass uns am Ende nur noch die Schadensbegrenzung bleibt“, hat Steinmeier jüngst und nicht zum ersten Mal im Rahmen eines Medien-Beitrages zu Review 2014 geäußert. Gibt es konkrete Konsequenzen im Ergebnis des Review-Prozesses?
Bertram: Die gibt es. Nicht zuletzt der Verlauf der Ebola-Epedemie und ihrer Bekämpfung – im Review-Abschlussbericht ist darauf Bezug genommen – hat ja noch einmal gezeigt, dass die Reaktionsfähigkeit der Bundesrepublik auf internationale Krisen nicht optimal ist: Wir sind häufig nicht schnell und effektiv genug. Daraus ist nun für das AA die Konsequenz gezogen worden. Es wird jetzt eine neue Abteilung für Krisenprävention, Stabilisierung und Konfliktnachsorge geschaffen, die die teils verstreuten Kräfte und Instrumentarien im Hause selbst sowie in den deutschen Auslandsvertretungen und Repräsentanzen bei internationalen Organisationen zusammenführt.
Eine andere strukturelle Veränderung im Ergebnis der Review, nämlich die Zusammenlegung der bisherigen Abteilungen Vereinte Nationen sowie Rüstungskontrolle und Abrüstung, hat zum Teil deutliche Kritik von außen hervorgerufen: Die Gewichtung beider Sachgebiete im Auswärtigen Amt würde sich praktisch halbieren, und das wäre in einer Welt mit immer mehr Krisengebieten und drohenden neuen Rüstungswettläufen ein völlig falsches Signal …
Bertram: Damit sprechen Sie die zweite strukturelle Veränderung im Auswärtigen Amt an – die Schaffung einer Abteilung für Internationale Ordnung, Vereinte Nationen und Rüstungskontrolle, die in der Tat die beiden von Ihnen genannten bisher selbständigen Abteilungen zusammenführt. Die Befürchtung, dies bedeute eine Abwertung von Rüstungskontrolle und Abrüstung, scheint mir aber völlig abwegig. Die Tatsache, dass es bisher dafür eine getrennte Abteilung gab, war Ausdruck einer bürokratischen Zuordnung, längst nicht mehr einer politischen Priorität. Heute gibt es guten Sinn, alle Elemente internationaler Odnungspolitik, und dazu gehört die Rüstungskontrolle, organisatorisch in einer Einheit zusammenzufassen.
Wichtiger als diese innerorganisatorischen Umstellungen ist für mich eine andere Folgerung, die Steinmeier aus der Review gezogen hat, nämlich die Aufwertung der europäischen Integration in der AA-Praxis.
Wenn es eine fast einhellige Empfehlung der Expertenbeträge gab, dann die, dass deutsche Außenpolitik ihre Wirksamkeit nur durch und für die EU entfalten kann. Nun wird in allen Abteilungen des Auswärtigen Amtes ein Europa-Beauftragter eingesetzt, der jeweils dafür sorgen soll, dass die Interessen und Überlegungen unserer europäischen Partner sowie die Brüsseler Gesichtspunkte frühzeitig in den eigenen Abwägungsprozess einbezogen werden.
Die Review 2014 ist abgeschlossen. Und nun? Experten- und Debattenbeiträge zu den Akten?
Bertram: Keineswegs. Im Auswärtigen Amt gibt es eine sehr konkrete Agenda, in der festgelegt ist, welche Schritte mit welchen Fristen umgesetzt werden. Das wird durch eine eigene Einheit kontrolliert. Dort läuft jetzt also der Implementierungsprozess der Review, was in einer gewachsenen Bürokratie – nicht zuletzt weil Personal- und Budgetfragenfragen berührt sind – erfahrungsgemäß seine Zeit braucht. Aber Außenminister Steinmeier hat an seinem Veränderungswillen keinen Zweifel gelassen.
Im besten Falle könnte die Review im Hinblick auf die von Ihnen diagnostizierte strategische Gleichgültigkeit so etwas wie Erste Hilfe sein. Aber stabile Seitenlage allein ist keine komplexe Therapie. Was muss hinzukommen?
Bertram: Man muss dran bleiben. Der Impuls des Review-Prozesses muss verstetigt werden, und das kann das Auswärtige Amt allein nicht leisten. Die Vorbereitung des nächsten Verteidigungs-Weißbuches bietet eine nächste Chance. Diese Arbeit findet zwar unter der Ägide des Verteidigungsministeriums statt, aber es wird ja kein BMVg-Weißbuch, sondern eines der Bundesregierung. Und Ursula von der Leyen hat mit ihrer kürzlichen Auftaktveranstaltung deutlich gemacht, dass sie ebenfalls Neuland betreten will, indem sie den Prozess nicht auf die üblichen Kontakte zwischen den Ressorts und dem Kanzleramt beschränkt, sondern externes Expertenwissen und auch die Debatte mit der Zivilgesellschaft einbeziehen will.
Vor allem aber ist es hohe Zeit für eine Initiative, die den Bundestag wieder zu dem Forum der Auseinandersetzung über die deutsche der Außen- und Sicherheitspolitik macht. Das ist er längst nicht mehr, aber keine andere Institution kann ihm diese Aufgabe abnehmen. Der Bundespräsident hat in seiner Münchener Rede 2014 eine bedrückende Statistik vorgelegt: Der Deutsche Bundestag hat seit 1994 ungefähr 240 Mal über Mandate für Auslandseinsätze der Bundeswehr beraten, aber weniger als zehn Mal grundsätzlich über deutsche Außen- und Sicherheitspolitik debattiert.
Wenn das Parlament nicht aus eigenem Antrieb dazu gelangt, was könnte ihm dann den nötigen Anstoß geben?
Bertram: Vielleicht könnte für die Außenpolitik ein Verfahren geschaffen werden, das es für die Wirtschaftspolitik längst gibt: Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung legt der Bundesregierung regelmäßig einen Bericht vor, den diese beantworten und dem Bundestag zur Aussprache zuleiten muss.
Ein Sachverständigenrat Außen- und Sicherheitspolitik, dessen Mitglieder nicht nur national rekrutiert werden dürften, könnte auf diese Weise daran mitwirken, dass das Parlament seine zentrale Funktion wieder wahrnimmt, über die Prioritäten und Mittel deutscher Außenpolitik zu streiten. Wenn die Parlamentarier sich endlich wieder dieser Pflicht bewusst werden und sie mit Ernst wahrnehmen, wird auch in den Fraktionen die Zahl der außenpolitischen Fachleute wieder wachsen und in den Medien das Interesse an dem Thema.
Gestatten Sie eine letzte Frage: Aller häufig blumigen Verantwortungsrhetorik zum Trotz engagieren sich Regierungen im Hinblick auf Konflikte in anderen Staaten nur dann, wenn sie ihre eigenen Interessen tangiert oder gar gefährdet sehen. Wo und wenn solche eigenen Interessen nicht vorliegen, dann passiert möglicherweise eine Katastrophe wie seinerzeit in Ruanda. Kann man dagegen wirklich nichts tun?
Bertram: Das ist eine außerordentlich schwierige Frage, und man kann sie nicht mit dem Schlagwort der Schutzverpflichtung beantworten, auch wenn die UNO diese abgesegnet hat. Denn Regierunen schicken, Sie haben ganz Recht, ihre Soldaten kaum wegen einer moralischen Vorhaltung in Gefahr. Der Fall Ruanda hat das deutlich gezeigt. Aus dem Westen wollte niemand eingreifen, auch die USA nicht, und die Franzosen waren zwar vor Ort, haben aber mit ihrer Parteinahme für eine der beteiligten Seiten alles nur noch schlimmer gemacht.
Aber es kann ja vorkommen, dass die Wahrnehmung einer moralischen Verpflichtung auch von eigenen Interessen gefordert wird. Ein international so verflochtenes Land wie Deutschland hat ein grundsätzliches Interesse an stabilen, auch regionalen Ordnungssystemen und an der Verhinderung ihres Zerfalls, und massive Menschenrechtsverletzungen sind ein unübersehbarer Indikator von Staatsverfall und regionaler Instabilität. Dieses Interesse ist zwar nicht so ausgeprägt, wie bei einer unmittelbaren Bedrohung des eigenen Landes oder Bündnisses, es ist gleichwohl nicht völlig von der Hand zu weisen, muss dann aber auch streng geprüft – und debattiert werden!
Das Gespräch für Das Blättchen führte Wolfgang Schwarz am 8. Mai 2015.
Christoph Bertram, Jahrgang 1937, war bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2005 Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), des außen- und sicherheitspolitischen Think Tanks von Bundesregierung und Bundestag.
* – Ausführlich geäußert dazu hat sich Christoph Bertram auch in der Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Sonderheft 6/2015: „‚Früher, entschiedener und substantieller?‘. Die neue Debatte über Deutschlands Außenpolitik“.
Dort zitiert Bertram das inkriminierte Postulat des Bundespräsidenten auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014, dass die Bundesrepublik sich „früher, entschiedener und substantieller“ bei internationalen Herausforderungen einbringen müsse, und stellt es in den Zusammenhang der seinerzeit von Joachim Gauck angesprochenen Fragen, aus dem es bei den nachfolgenden Kritiken überwiegend gerissen wurde: „Tun wir, was wir tun könnten, um unsere Nachbarschaft zu stabilisieren, im Osten wie in Afrika? Tun wir, was wir tun müssten, um den Gefahren des Terrorismus zu begegnen? Und wenn wir überzeugende Gründe dafür gefunden haben, uns zusammen mit unseren Verbündeten auch militärisch zu engagieren, sind wir dann bereit, die Risiken fair mit ihnen zu teilen? Tun wir, was wir sollten, um neue oder wiedererstarkte Großmächte für die gerechte Fortentwicklung der internationalen Ordnung zu gewinnen? Ja, interessieren wir uns überhaupt für manche Weltgegenden so, wie es die Bedeutung dieser Länder verlangt? Welche Rolle wollen wir in den Krisen ferner Weltregionen spielen? Engagieren wir uns schon ausreichend dort, wo die Bundesrepublik eigene und eigens Kompetenz entwickelt hat – nämlich bei der Prävention von Konflikten?“
Schlagwörter: Abrüstung, Außenpolitik, Auswärtiges Amt, Bundestag, Christoph Bertram, Frank-Walter Steinmeier, Krisenprävention, Russland, Rüstungskontrolle, Sicherheit, Sicherheitspolitik, USA