18. Jahrgang | Nummer 7 | 30. März 2015

Kurswechsel?

von Erhard Crome

Das politische Magazin Report München brachte am 24. März 2015 in der ARD einen Beitrag unter der Überschrift: „Gefährliche Muskelspiele zwischen Russland und der Nato“. In der Ankündigung hieß es, russische Kampfflugzeuge würden unangemeldet in den Luftraum „von Europa“ eindringen, und zwar „unsichtbar, mit abgeschalteten Transpondern. Kampfjets fliegen Scheinangriffe auf Nato-Schiffe. Immer öfter treffen die Militärs bei Manövern gefährlich nahe aufeinander.“ Auch wenn das zunächst wieder als Putin- und Russland-Denunziation daherkommt, die mitgeteilten Sachinformationen sprechen eine andere Sprache. Und die ist in höchstem Maße alarmierend.
Die monierten Aktivitäten der russischen Luftstreitkräfte sind seit Beginn der Ukraine-Krise zu verzeichnen. Sie sind aber für sich genommen nicht auf Aggression getrimmt, sondern sie sind –wenn man genau hinhört, wird das in der ARD-Sendung auch berichtet – Antwort auf die vermehrten Manöver der NATO zu Lande in den an die Ostsee grenzenden NATO-Staaten, in der Luft und zur See, hier auf der Ostsee und dem Schwarzen Meer. Der interviewte russische Botschafter betont, dass die russischen Militärflüge über internationalen Gewässern stattfinden, also völkerrechtsgemäß erfolgen. Die Sendung kann Gegenteiliges nicht vermelden. Während es für den denkfaulen Zuschauer so klingt, als fänden die nicht angemeldeten Flüge „in Europa“ also illegal über EU-Territorium statt, ist das in Rede stehende „Europa“ tatsächlich das geographische, zu dem auch Russland gehört. Während die Sendung so aufgemacht wird, als provoziere Russland die NATO, wird schließlich deutlich, dass die eigentlichen Manöver, die provozieren, die der NATO sind. Russland aber antwortet seinerseits militärisch, so durch sehr nahe heranfliegende Kampfflugzeuge.
Das Problem, das am Ende offen ausgesprochen wird, ist jedoch, dass in der Zeit des Kalten Krieges Befehlshaber und verantwortliche Offiziere oder Piloten darauf geschult waren, die Provokation selbst nicht zu weit zu treiben und die der Gegenseite richtig einzuordnen. Heutige Militärs seien dies jedoch nicht mehr gewöhnt, daraufhin nicht ausgebildet. Insofern ist die Gefahr eines tatsächlichen militärischen Konflikts zwischen NATO und Russland – durch technisches Versagen, Fehleinschätzung der Lage oder weil ein junger Offizier die Nerven verliert – heute größer als in den 1980er Jahren in der Endphase des Kalten Krieges. Verschärfend wirkt: Die militärische Zusammenarbeit im NATO-Russland-Rat wurde im April 2014 im Zuge der „Sanktionen“ gegen Russland ausgesetzt. Damit fehlt ein militärisches Krisenpräventionszentrum, in und mit dem beide Seiten im Krisenfall einer weiteren Eskalation entgegenwirken könnten.
Bemerkenswert: Auch mehrere US-amerikanische Analytiker treten den Verschärfungen der Lage, die insbesondere von den USA ausgehen, entgegen. Der Historiker Timothy Snyder (Yale Universität), der zu Osteuropa und vor allem zur Ukraine gearbeitet hat, erklärt die scharfe Reaktion Russlands auf die Entwicklungen nach dem „Maidan“ vor dem Hintergrund der Geschichte: Die bisherigen Osterweiterungen der NATO und vor allem der EU umfassten jene Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden waren. Insofern waren sie nicht einfach eine Überwindung der Spaltung Europas, die mit dem Ost-West-Konflikt verbunden war. „Die Grauzone der Nationalstaaten von 1918, die 1945 nahezu exakt zum Schauplatz der West-Erweiterung des sowjetischen Imperiums geworden war, wurde in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts zur Erweiterungszone der Europäischen Union.“ Das bedeutet: „Kein einziger Quadratzentimeter europäischen Territoriums, das vor dem Krieg zur Sowjetunion gehörte, befindet sich heute innerhalb der Europäischen Union.“ Diese Linie wird erst überschritten, indem die Ukraine in den EU-Bereich hinübergeholt werden soll. Deshalb ziehe Russland es vor, im Namen einer anderen Weltordnung die Ukraine und die EU lieber zu zerstören, als dies hinzunehmen. Was aus der Sicht des Westens und der Maidan-Akteure die Verbindung von individuellem Handeln, Souveränität und Europa sei, ist aus Sicht Russlands Propaganda, internationale US-amerikanische Verschwörung und Imperium. Russlands Politik beruhe „auf einem zutreffenden Geschichtsverständnis“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung kürzlich.
Der Politikwissenschaftler Clifford Gaddy von der Brookings Institution in Washington betont im ipg-Journal, dass die Sanktionen des Westens den Konflikt nicht lösen können. Schon deren konzeptionelle Grundlage ist falsch: „Für die Russen ist die Ukraine keine Beute, deren Wert sie mit den Kosten verrechnen. In ihren Augen diente Russlands Eingreifen vielmehr der Verteidigung gegen eine existenzielle Bedrohung.“ Nach westlicher Sicht müsse sich Sicherheit in der globalisierten Welt auf „Kooperation, Dialog und Vertrauen“ stützen; deshalb stelle Wladimir Putins Ukraine-Politik einen „Regelverstoß“ dar, der das gesamte System bedrohe. Aus seiner Sicht jedoch griff er ein, weil Russland vom Westen bedrängt wird, und um das Land zu verteidigen.
Ein Sieg des Westens, der darin besteht, Russland das westliche Verständnis von Sicherheit aufzuzwingen, sei – so Gaddy – nur unter einer Voraussetzung erreichbar: „Russland muss vollständig zusammenbrechen.“ Dabei müsse jedoch das militärische, insbesondere das Atomwaffenpotenzial Russlands in Rechnung gestellt werden. Damit rückt der Atomkrieg, der seit dem Ende des Kalten Krieges vergessen schien, wieder auf die Tagesordnung: „Wenn unsere (des Westens – E.C.) Strategie darin besteht, Russland dazu zu zwingen, seinem Ziel einer unabhängigen Wahrung der eigenen Sicherheit und Souveränität abzuschwören, dann müssen wir auch bereit sein, diese Strategie bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Dann müssen wir einen Plan haben, wie wir alle russischen Waffen unschädlich machen oder wie wir sie überleben können.“ Wenn der Westen das nicht wolle, müsse er mit Russland über die unvereinbaren Sicherheitsbegriffe reden. Und das heißt: im Sinne gemeinsamer Sicherheit verhandeln.
John J. Mearsheimer, renommierter Politikwissenschaftler von der Universität Chicago, war Anfang März in Deutschland und bestritt am 4. März eine Diskussionsveranstaltung in der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er betont, dass der Westen für die Ukraine-Krise verantwortlich ist, weil er sie absichtsvoll herbeigeführt hat. Ziel ist, die Ukraine dem Einfluss Russlands zu entziehen und in den des Westens zu holen. Dazu gibt es drei Hauptinstrumente: die Osterweiterung der NATO, die Osterweiterung der EU und die „Demokratieförderung“, bei der es den Regierungen der USA nie tatsächlich um Demokratie ging, sondern darum, missliebige Regierungen zu stürzen und durch hörige zu ersetzen. Gleichzeitig jedoch gilt, dass keine Großmacht es duldet, wenn eine andere Großmacht ihre Militärstrukturen bis an die eigenen Grenzen vorschiebt. Diese Idee lag bereits der Monroe-Doktrin der USA zugrunde, die bei der Kuba-Krise 1962 eine große Rolle spielte. Das muss der Westen aber auch Russland zugestehen.
George Kennan (1904-2005), Nestor der Außenpolitik-Analyse der USA, habe laut Mearsheimer Ende der 1990er Jahre darauf verwiesen, dass die NATO-Osterweiterung eine fehlgeleitete Politik ist, die früher oder später zur Konfrontation mit Russland führen muss, für die der Westen dann aber Russland die Schuld in die Schuhe schieben werde. Dieser Punkt ist erreicht. Niemand im Westen hat Putin vor der Ukraine-Krise all die Bösartigkeiten zugeschrieben, die jetzt überall verbreitet werden. Das hat eine politische Funktion.
Zugleich hatten die USA nach dem Kalten Krieg tatsächlich nicht mehr mit Russland als Großmacht gerechnet. Das war eine eklatante Fehleinschätzung, erklärt aber das Vorgehen gegenüber Georgien und der Ukraine in den vergangenen zehn Jahren. Bereits gegenüber Georgien hatte Russland militärisch reagiert. Das schien im Falle der Ukraine aber vergessen worden zu sein. Und das, was der Westen jetzt tut, ist, „den Einsatz zu erhöhen“. Dazu dienen die Sanktionen wie die Aufrüstung der ukrainischen Armee. Umgekehrt reagiert Russland mit Eskalation. Es kann sich eine Niederlage der „Separatisten“ in der Ostukraine nicht leisten. Den Preis zahlt die Ukraine mit immer größeren Zerstörungen und immer mehr Toten. Russland wird nicht die Ukraine erobern wollen, aber es wird deren Anbindung an den Westen nicht hinnehmen.
Eine Beruhigung der Lage ist nur denkbar, wenn die Ukraine als Puffer zwischen dem Westen und Russland erhalten bleibt oder wiederhergestellt wird. In Washington aber glaubt man, zur Beherrschung der Welt berufen zu sein. Eine Änderung der Politik erwartet Mearsheimer dort nicht. Nur wenn die Europäer eine andere Politik machen, können die USA gezwungen werden, ihre Politik zu ändern.
Vielleicht war der Einsatz Angela Merkels und François Hollandes für Minsk II ein Betrag dazu. Zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.