18. Jahrgang | Nummer 4 | 16. Februar 2015

Aus den Archiven des Kommunismus

von Gerd Kaiser

Diese dreibändige Edition ist ein intellektuelles Vergnügen für den Leser und ein im direkten wie im übertragenen Sinne schwergewichtiges Werk des Verlags. Es kommentiert und dokumentiert in einem hohen Maß an Neuigkeitswert, Dichte und Genauigkeit einen wichtigen Ausschnitt zur Entwicklung der Beziehungen zwischen den kommunistischen Parteien Russlands und Deutschlands und der Komintern zwischen 1917/18 und 1943. Dies geschieht an Hand von 544 detailliert, sowie weiteren annähernd 1.000 referierend wiedergegebenen Dokumenten des Politbüros der KPdSU. Insgesamt beleuchten nahezu 300 Erstveröffentlichungen, darunter mehr als 160 deutsche Erstveröffentlichungen, das Verhältnis zwischen Kommunistischer Internationale und Deutschland neu. Durch die Einbeziehung des gegenwärtigen Forschungsstandes erweitern, korrigieren und vertiefen sie, unter anderem im Vergleich zu den Quelleneditionen in der 1966 erschienenen „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ den Blick auf die Geschehnisse zwischen 1918 und 1943 grundlegend.
Im Ergebnis der „Archivrevolution“ in Russland wird nunmehr die Entwicklung des Erkenntnisstandes in einer archivwissenschaftlich orientierten Darstellungsform dokumentiert, die bisher kaum dargestellte Quellentypen erschließt. Dies geschieht für den deutschen Leser überwiegend an Hand qualitativ neuer oder nunmehr vollständig erschlossener Dokumente auf annähernd 2.000 Seiten. Sie bereiten dem Leser nicht nur wachsendes intellektuelles Vergnügen, sondern durch ihre ausgefeilte quellengestützte Recherche, die sich in einem dichten Netz von erklärenden, korrigierenden, erweiternden und so weiter Anmerkungen ausweist, einen wesentlichen Erkenntnisgewinn. Neu erschlossen, wurden geheime und persönliche Briefe und Korrespondenzen und weitere Dokumente, „dahingekritzelte“ Briefe Stalins, bisher nie publizierte offizielle Beschlüsse des Politbüros der KPdSU, überwiegend „streng geheime und informelle Quellen“. Minutiös nachgezeichnet und in einem beeindruckenden wissenschaftlichen Apparat bis in letzte Verästelungen hinein erklärt, dokumentieren sie, spannend zu lesen, ein eindrucksvolles Bild von weltbewegenden Geschehnissen, historischen Leidenschaften und individuellem wie gesellschaftlichem Engagement.
Die Dokumente beginnen mit einem gemeinsamen Erlass von Lenin und Trotzki (11. Dezember 1917), enden jedoch mit einem verloren wirkenden Brief Bruno Köhlers an Georgi Dimitrov (Kasan, 26. Mai 1943). Ohne die editorischen Erfahrungen und die Unterstützung der Archivare des RGASPI Moskau, des Bundesarchives Berlin und zahlreicher weiterer Wissenschaftler wäre diese umfangreiche und detaillierte Quellenedition nicht möglich gewesen.
Das komplizierte Vorgehen, nicht nur eines dualen sondern von drei zentralen Netzwerk-Achsen, der KPD, Komintern sowie die übergeordnete und größtenteils im Verborgenen operierende Ebene des sowjetischen Führungszirkels, mündete in Variablen im Rahmen der sowjetischen Politik, die mal stärker (zum Beispiel 1923 und 1930/1932), mal weniger stark (in den letzten Jahren der Komintern) in Erscheinung trat. Dabei wurde nicht vereinfachter Erklärung schwieriger und komplexer Vorgänge historischer Geschehnisse das Wort geredet, sondern es wurden auch „Grau“- oder „Zwischen“-Töne der vorliegenden Quellenedition, einer Symbiose deutscher, russischer sowie (leider nur westeuropäischer) Überlieferungen sichtbar.
Über das geschichtsforscherische Wirken der Autoren geben Kurzbiographien Auskunft. „Grosso modo“ ging es bei der Auswahl der Dokumente erstens um die Überwindung „weißer Flecke“ in der Historiographie; zweitens waren unterschiedlich beziehungsweise kontrovers diskutierte Punkte soweit wie möglich zu klären; drittens galt es bisher nicht oder nur wenig bekannte Themen (zum Beispiel die Militärpolitik, die Finanzierung und anderes) zu beleuchten und viertens wenigstens eine Art „grober Orientierungsrahmen“ über die politische Ausrichtung, die personellen Entscheidungen, die zeitweiligen Erfolge und die letztendliche Auflösung der Komintern zu schaffen, die als weltweite Bewegung an- und im Ergebnis der Entscheidung eines Einzelnen sang- und klanglos abtrat.
Dabei konnte sowohl auf bisher völlig unbekannte Quellen als auch auf zahlreiche mehrsprachige Editionen zurückgegriffen werden. Beispielsweise auf zahlreiche Publikationen von Hermann Weber und von Bernhard H. Bayerlein. Erstmals vollständig in deutscher Sprache publiziert (und erklärt) wird zum Beispiel die Geschichte eines (nicht abgeschickten) Entwurfs für einen Aufruf der KPD mit der Aufforderung zum Sturz der Hitlerdiktatur vom 28. September 1939. Ebenfalls erstmals vollständig in deutscher Sprache publiziert wird auch ein Brief des ZK der KPD vom 24. Mai 1943 (mit fünf Unterschriften!) zur Auflösung der Komintern. Doch nach wie vor bleiben Lücken, unter anderem weil beispielsweise die Briefe der polnischen Kommunistin Maria Koszutska (Wera Kostrzewa) zur Situation in der KPD Anfang Mai 1923 unberücksichtigt blieben, die zum Dreigestirn der drei W in der Führung der KPP („Wera“, Adolf Warski, Henryk Walecki) und, neben Clara Zetkin, zur Führung der Komintern gehörte. (Die Briefe erschienen erstmals in der bis 1988 von Feliks Tych, Aleksander Kochanski und anderen in Warschau herausgegebenen elfbändigen Quellenedition „archiwum ruchu robotniczego“).
Die Einleitungen der Herausgeber helfen dem Leser, in die Dokumentenedition, vornehmlich zur Ideologie und Tätigkeit der Komintern einzudringen und sich einen wissenschaftlich begründeten Zugang zu unterschiedlichen Auffassungen über die Vergangenheit und Gegenwart zu öffnen. An Hand der leider lediglich bis 2010 (und mit Lücken) dokumentierten Forschungsliteratur, an deren Heranreifen Hermann Weber wesentlich beteiligt war, sowie der neuerschlossenen Quellen vornehmlich in deutschen und russischen Archiven und weiterer zeitgenössischer Dokumente und Hinweise, analysiert Hermann Weber, der den Dreibänder, die Krönung seiner Lebensarbeit noch in den Händen halten konnte, wie sich das Verhältnis zwischen KPD, KPdSU und Komintern in den zweieinhalb Jahrzehnten von 1918 bis Mitte 1943 gestaltete, welche Mechanismen dabei bestimmend waren und wie sich dies auf die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland auswirkte. Jakow Drabkin untersucht die Idee der Weltrevolution und deren Transformation in der Kominterngeschichte. Seine Edition zur Frühgeschichte der Komintern gab den frühen Anstoß zum Dreibänder, der eng an die Publikation zur Komintern und der Idee der „sozialistischen Weltrevolution“ des Verfassers anknüpft.
Im Unterschied zu den beiden Nestoren der Kommunismusforschung gehört Bernhard H. Bayerlein einer neuen, deutlich jüngeren, Generation an. Er beruft sich auf das (auch von ihm recherchierte und vorgelegte) neue empirische Material zur Konzeptualisierung der Geschichte des deutschen Kommunismus. Insbesondere dank der „Archivrevolution“ in Russland, erörtert Bayerlein neue wie alte und dabei auch strittige Fragestellungen. Er umreißt neue Themenfelder, erschließt neue Forschungspfade. Die von ihm markierten Unterschiede im Vergleich zur traditionellen und orthodoxen Kommunismusforschung verstehen sich als ein Beitrag „zur notwendigen neuen Theoriebildung auf breiter Front“. Die umfassende Nutzung der neuerschlossenen Quellen zur Geschichte der KPD und den deutsch-russischen Beziehungen sowie deren differenzierte wissenschaftliche Erschließung einschließlich der Ansätze für eine neue Theoriebildung bereichern die künftige Leser- und Forschergeneration.
Handreichungen für deren Arbeiten sind neben einer knappen Charakterisierung der Edition als einer Symbiose deutscher, russischer sowie (bedauerlicherweise allein) westeuropäischer Dokumentenüberlieferungen und einem Verzeichnis der in den beiden Quellenbänden vollständig oder auszugsweise publizierten Zeitdokumente nicht jedoch der referierend angezogenen Quellen, letztere mit einem grafischen Signet und kleinerer Schriftgröße, ausgewiesen.
Der zweite Dokumententeilband liefert zudem eine detaillierte Übersicht zu den benutzten Archivalien, ein sehr ausführliches, jedoch noch unvollständiges Literaturverzeichnis und ein Orts- und Personenregister.
Das politische wie wissenschaftliche Schwergewicht der drei Bände ist beträchtlich und von A bis Z leserfreundlich. Dafür ist den Herausgebern, ihren Helfern in- und außerhalb Deutschlands und last but not least dem Verlag zu danken, der sich damit erstmals in diese Strecke verdienstvoller Quelleneditionen einklinkt.
Als Zugabe zu der vorgenannten und verdienstvollen Monumental-Quellenedition sei auf Fridrich Firsovs Publikation zu den geheimen Codes der Geschichte der Komintern verwiesen, die russischsprachig von dem seit anderthalb Jahrzehnten in den USA lebenden Wissenschaftler veröffentlicht worden sind. Sie gründet auf einem bislang unzugänglichen Quellenbestand, der die Rolle der Komintern „als außenpolitischer Stütze“ und „integralem Bestandteil des politisch-ideologischen Mechanismus“ beleuchtet und vom Stalinismus für die Sanktionierung der eigenen Politik „im Namen des internationalen Proletariats“ benutzt wurde.

Hermann Weber und andere: Deutschland, Russland, Komintern. Überblicke, Analysen, Diskussionen. Neue Perspektiven auf die Geschichte der KPD und die Deutsch-Russischen Beziehungen (1918-1943), De Gruyter, Berlin/Boston 2013, 477 Seiten, 39,95 Euro.
Hermann Weber und andere (Herausgeber): Deutschland, Russland, Komintern. Dokumente (1918-1943), ebenda, zwei Teilbände, insgesamt 1.840 Seiten, 159,95 Euro.
Fridrich Firsov: Sekretnye kody istorii Kominterna 1919-1943, AIRO XXI, Moskva 2007, 576 Seiten, 27,72 Euro.