18. Jahrgang | Nummer 3 | 2. Februar 2015

Störfeuer aus Moskau?

von Literat

Nachdem wir aus dem neuen deutschland zum Jahresende erfahren haben, dass der Tagesspiegel-Korrespondentin in Moskau die Entscheidungsfindung in Russlands Spitzengremien und Präsident Putin nicht genehm sind, zieht zum Jahresanfang die hauseigene Irina Wolkowa nach. Die Redaktion rückt das unter dem Titel „Störfeuer aus Moskau“ mit diesem Vorspann ein: „Auf die Idee kam der Duma-Präsident Sergei Naryschkin reichlich spät. Russische Juristen sollen die Atombomben-Abwürfe der USA aus dem Jahr 1945 unter völkerrechtlichen Aspekten untersuchen.“
Die eigentliche Frage, mit Weiterungen, heißt: War das noch kriegsentscheidend oder ging es schon darum, vor allem den Russen die Position der USA als Weltmacht der Nachkriegsära zu demonstrieren und – en passant – die Wirkung der neuen Waffe an Menschen zu erproben? (Für letzteres sprechen die umfänglichen wissenschaftlichen Erhebungen, die US-Experten nach der Besetzung Japans an beiden Abwurforten und bei einer Vielzahl von Opfern vornahmen.)
Mag sein, dass Naryschkins Idee „reichlich spät“ kommt. Aber zu spät dürfte es nicht sein, denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjähren nicht.
Irina Wolkowa, die, obwohl eigentlich Berichterstatterin, an ihrer Parteinahme gegen diese Idee keinen Zweifel lässt, polemisiert: Naryschkin hätte zur Begründung erklärt, die Atombombenabwürfe seien „militärisch sinnlos“ gewesen, weil das Kaiserreich der aufgehenden Sonne damals bereits nahe dem Ende gestanden habe; die Sowjetunion habe die Kwantung-Armee vernichtend geschlagen. Naryschkin als Historiker, so rüffelt Wolkowa, hätte es eigentlich besser wissen müssen, und sagt dem Leser des nd dann, wie’s damals wirklich war: „Moskau hatte Japan erst am 8. August 1945 den Krieg erklärt. Zwar erklärte sich der Tenno schon tags drauf zu Verhandlungen über die Kapitulation bereit, die Sieger und Besiegte nur eine Woche später unterzeichneten. Doch dazu hatte ihn vor allem der Bombenabwurf auf Nagasaki und nicht der zeitgleiche Einmarsch der Roten Armee in das von Japan besetzte China veranlasst.“
Wenn diese Version stimmte, wäre den USA die Massentötung japanischer Zivilisten allenfalls moralisch vorzuwerfen, völkerrechtlich aber wäre Absolution erteilt.
Bleibt die „Kleinigkeit“ des fehlenden Nachweises der Autorin. Sie hat zwar Recht, was den zeitlichen Ablauf anbetrifft – hier hat der Duma-Präsident den Bogen zu kurz skizziert: Geschlagen wurde die Kwantung-Armee tatsächlich erst nach den Atombombenabwürfen. Wie in Jalta vereinbart und bei der Potsdamer Konferenz bekräftigt, war die UdSSR am 8. August 1945, drei Monate nach Beendigung der Kriegshandlungen in Europa, in den Krieg gegen Japan eingetreten und hatte am 9. August die Kampfhandlungen gegen die fast eine Million Mann starke Kwantung-Armee aufgenommen, die elf Tage später, am 20. August, kapitulierte.
Falsch hingegen ist die Behauptung der Autorin, bereits am 9. August habe der Tenno Kapitulationsbereitschaft signalisiert. Erst nach mehreren Tagen intensiver interner Debatten und geheim geführter Diskussionen sowie nach einem versuchten Putsch durchhaltewilliger Militärs gab Hirohito am 15. August in einer Rundfunkansprache die bedingungslose Kapitulation des japanischen Kaiserreichs bekannt. Die entsprechende Urkunde wurde am 2. September unterzeichnet.
Für die hier in Rede stehende Bewertung der US-Atombombenabwürfe allerdings ist der zeitliche Ablauf allein weder maßgeblich noch auch nur hinreichend. Dafür sind weitere Sachverhalte heranzuziehen – vor allem die Bewertung des Kriegsgegners Japan zum Zeitpunkt der Abwürfe: „In einem Bericht zur Lage des Feindes hatte der alliierte Geheimdienstausschuss den Standpunkt vertreten, der Luft- und Seekrieg habe Japan derart verwüstet, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Niederlage ihres Landes erwarte. Der Eintritt der Sowjetunion in den Krieg, ‚würde die Japaner von der Unausweichlichkeit einer vollständigen Niederlage überzeugen’. […] Ähnlich dachten auch die Admirale King und Nimitz. Sie hielten Japan für militärisch geschlagen. […] die zu erwartende Kriegserklärung Moskaus würde[…] ein Kriegsende bewirken, ohne eine Großinvasion Japans oder den Einsatz von Nuklearenergie gegen Menschen erforderlich zu machen.“ So Gottfried-Karl Kindermann in seinem Beitrag „Die Kapitulation der Moral“ in der Süddeutschen Zeitung vom 4. August 2010. Der damalige US-Präsident Truman jedoch, so Kindermann weiter, „blieb […] bei seinem Beschluss, Atombomben einzusetzen. Drei Optionen wurden diskutiert. Erstens: Die Demonstration der Gewalt der Bombe durch Abwurf auf ein unbewohntes Waldgebiet. Zweitens: Ihr Einsatz gegen ein militärisches Objekt. Drittens: Ihr Abwurf auf vom Krieg verschonte Städte. Gewählt wurde die dritte, unmenschlichste Option. Die Bevölkerung wurde nicht vorgewarnt, obwohl der Schritt erwogen wurde.“
Ob Japan auch ohne die sich rasch abzeichnende Niederlage der Kwantung-Armee tatsächlich bereit gewesen wäre, bedingungslos zu kapitulieren, erscheint zumindest zweifelhaft, denn mit dieser Armee hielt Japan einen großen Teil Chinas quasi als Faustpfand. Trotzdem war schon vor Beginn der Kampfhandlungen gegen die Kwantung-Armee die Kapitulationsfrage in Japan erörtert worden – mit Blick auf die Sowjetunion. Ward Wilson schreibt in seinem 2014 publizierten Buch „Five Myths About Nuclear Weapons“, „dass der Höchste Rat (Japans – Anmerkung Literat) sechs Stunden, nachdem Nachrichten über Russlands Invasion der Insel Sachalin Tokio erreichten – und bevor Nagasaki bombardiert wurde! –, zusammentrat, um die bedingungslose Kapitulation zu besprechen“.
Ikuro Anzai, Kernphysiker und lange Direktor des Friedensmuseums von Kyoto, urteilte: „Die Amerikaner hatten zwei Waffen entwickelt (eine Uran-Bombe, Hiroshima, und eine Plutonium-Bombe, Nagasaki – Anmerkung Literat), und die wollten sie ausprobieren. Vor allem die Bombe auf Nagasaki war komplett unnötig. Amerika wollte den Russen zeigen, welche Macht es nun habe. Es war der Beginn des Kalten Krieges im heißen Krieg.“
Vor diesem Gesamthintergrund erscheint eine völkerrechtliche Bewertung der Ausradierung der beiden japanischen Städte tatsächlich nicht nur tatsächlich „reichlich spät“, sondern hochgradig überfällig.
Freilich passen diese Idee und die dahinter stehende Wertung den USA nicht – und offenbar dem nd beziehungsweise seiner Autorin auch nicht. Wodurch deren „Störfeuer“ allerdings motiviert ist, darüber darf sinniert werden …