17. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2014

Erlesenes

von Alfons Markuske

Der Leser hat das Buch für bares Geld gekauft und frägt,
was ihn schadlos hält? Meine Zuflucht ist jetzt, ihn zu erinnern,
daß er ein Buch, auch ohne es gerade zu lesen,
doch auf mancherlei Art zu benutzen weiß.
Es kann, so gut wie viele andere, eine Lücke
in seiner Bibliothek ausfüllen, wo es sich, sauber gebunden,
gewiß gut ausnehmen wird. Oder er kann es seiner gelehrten Freundin
auf die Toilette, oder den Theetisch legen.
Oder endlich er kann ja, was gewiß das Beste von Allem
ist und ich besonders rathe, es recensieren.
Arthur Schopenhauer

Auf Günter Blutke, Jahrgang 1934, stieß ich im Sommer 2013 auf der Suche nach Fotos zu einem Beitrag über die große herbstliche Kranich– und Gänserast um das brandenburgische Dörfchen Linum nördlich von Berlin. Als ehemaliger stellvertretender Chefredakteur der NBI (Neue Berliner Illustrierte) war Blutke mir aus späten DDR-Tagen kein Begriff; ich bevorzugte seinerzeit aus diesem Spektrum der DDR-Presse die Wochenpost.
Im Sommer kam es zu einem kurzen Austausch – auf der Höhe der Zeit, also per E-Mail, und wie das manchmal so ist im Leben: Das eine Gewollte führt noch zu etwas anderem, nicht unbedingt Erwarteten. Günter Blutke erwähnte seine Zeit als Fotograf in Dresden der 50er sowie 60er Jahre und dass er darüber gerade etwas zur Publikation vorbereite; ich – der Elbmetropole und ihren Kunstschätzen seit einem ersten Besuch Ende der 60er Jahre emotional verbunden – äußerte Interesse, und jetzt halte ich ein elegantes Bändchen mit Blutke-Fotos in Händen: „Dresden. Fotografien 1957-1967“, editiert vom Mitteldeutschen Verlag zu Halle an der Saale.
Auf der U 4 informiert der Verlag: „Seine ersten Dresdenfotos machte Günter Blutke von den Schlossruinen und vom Zwinger. Auf dem leer geräumten Neumarkt fuhr die Trümmerbahn nun Steine für Neubauten. Er fotografierte Dresden und Dresdner in der Zeit der Wie­dergeburt: Neubauten mit Wäscheplätzen, Feste im Zwinger, Brücken im Abendlicht, die stille Brühlsche Terrasse, Ver­liebte auf den Elbwiesen, große Künstler jener Zeit … Eine gelungene Hommage in Schwarz-Weiß an das Dresden der sechziger Jahre.“ Dem ist nach der ersten Durchsicht nicht zu widersprechen.
Der Fotograf selbst hat ein Geleitwort – „Damals in Dresden“ – beigegeben, in dem es unter anderem heißt: „Nicht weit vom Trümmerberg der Frauenkirche fotografierte ich eine Szene, die für Betrachter von heute übersetzt werden muss. Ein Schuljun­ge neben einem Hucker. Im Hinter­grund die schräg nach oben führende Rampe, auf der die Hucker in ihrem Blechgestell aus Trümmern heraus­geholte Ziegelsteine nach oben tru­gen. Steine für die Neubauten in der Straße, die von 1954 an nach Ernst Thälmann hieß, davor wie heute die Wilsdruffer Straße.“
Insgesamt eine schöne Ergänzung der zuvor in artgleicher Aufmachung bereits erschienen Blutke-Fotos von Erfurt (1953-1959) und Leipzig (1956-1959).
Günter Blutke: Dresden. Fotografien 1957-1967, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2014, 79 Seiten, 12,95 Euro.

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Meine „Bekanntschaft“ mit Otto Prokop geht auf die Zeit meines Grundwehrdienstes, Anfang der 70er Jahre, zurück. Einer der Unteroffiziere unserer Ausbildungskompanie hatte in seinem sehr überschaubaren Buchbestand seltsamerweise ein gerichtsmedizinisches Lehrbuch von Prokop, das ich mir auslieh und mit Interesse und praktisch verwertbarem Gewinn las. Letzteres betraf vor allem ein Kapitel über die Simulation diverser Krankheitsbilder, von dessen Anregungen, ich gestehe es, ich in der Folgezeit das eine oder andere Mal sparsam Gebrauch machte. Widerständische Akte, das möchte ich ausdrücklich unterstreichen, waren das nicht, sondern lediglich Auswüchse einer horrenden Unsportlichkeit sowie des Bestrebens, von den Qualen des Rekrutenalltags wenigstens zeitweise verschont zu bleiben.
Prokop, der in Wien gebürtige Chef des Instituts für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin (1957-1987), war eine lebende Legende mit internationalem Ruf. Dazu trug nicht zuletzt sein erfolgreiches Auftreten im Rahmen des damals spektakulären Falles Hetzel in der Bundesrepublik in den 60er Jahren bei, in dem es um einen Justizirrtum auf der Basis eines fragwürdigen gerichtsmedizinischen Gutachtens einer damals führenden westdeutschen Koryphäe ging, der den Angeklagten auf viele Jahre hinter Gitter gebracht hatte. Der Fall sei „bis heute zwei Generationen von Rechtsmedizinern so gut bekannt wie anderen der Einsturz des World Trade Centers in Manhattan“ (Mark Benecke). Die damaligen Vorgänge hat der Schweizer Kriminalschriftsteller Frank Arnau nicht nur maßgeblich mitinitiiert, sondern auch detailliert dokumentiert – nachzulesen unter anderem in dem Sammelband „Tätern auf der Spur. Auswahl aus dem Lebenswerk“, der in der DDR ab 1974 in insgesamt vier Auflagen erschienen ist.
Nun zu Mark Beneckes Prokopiada. „Der lähmende Widerstand gegen meine Nachforschungen für dieses Buch kam nicht nur aus der Wissenschaft. Selbst ein enger Angehöriger Otto Prokops weigerte sich“, Auskunft zu geben, heißt es gleich in der Einleitung. Das mag damit zu tun gehabt haben, dass Prokop, der 1957 – nur vier Jahre nach dem 17. Juni in der DDR und praktisch direkt im Anschluss an die Ereignisse in Ungarn 1956 – einem Ruf an die Humboldt-Universität gefolgt war und damit gegen den Komment im Westen verstoßen oder, wie man heute sagen würde, ein absolutes No-Go begangen hatte. Obwohl er zwischenzeitlich zu einer auch internationalen, bis Japan hoch dekorierten Koryphäe der Gerichtsmedizin avanciert war, strafte die westdeutsch dominierte Wissenschafts-Community ihn dafür nach 1990 durch Ignoranz, öffentliche Zurücksetzung und insgesamt auf ziemlich erbärmliche Weise ab. Das ist bei Benecke im Detail nachzulesen, der Prokop zugleich bescheinigt, „nie mit politischen Bewegungen“ sympathisiert zu haben: „Der Sozialismus als solcher interessierte ihn nicht. Prokop wollte forschen …“ Dass der Professor dabei die Spielregeln des Systems einhielt und zum Beispiel weder öffentlich noch, soweit man weiß, auf dem „kleinen Dienstweg“ Einspruch erhob, wenn Ergebnisse der in seinem Institut wissenschaftlich korrekt vorgenommenen Autopsien an Mauertoten von den DDR-Behörden selektiv, wohl auch verfälschend benutzt wurden, um die offizielle Darstellung der jeweiligen Ereignisse zu stützen, dann mögen selbst ernannte Sittenrichter ihm das nach 1990 getrost vorgeworfen haben. Belegbare Nachweise unwissenschaftlicher Arbeit wurden allerdings nicht gefunden.
Insgesamt schwächelt das Buch an der eingangs beklagten Verschlossenheit der Quellen. Das sezierte Leben Otto Prokops bleibt so ein recht rudimentäres und kommt über lange Passagen nur in Einsprengseln vor. Dafür gibt es Kapitel wie das über die „Selbstwahrnehmung der Stasi“ und etliches andere, was der Autor augenscheinlich in seinem Zettelkasten hatte, was aber den beklagten Mangel nicht nur nicht wettmacht, sondern eher noch unterstreicht. Und dass Benecke darüber hinaus ausgerechnet beim Fall Hetzel, dem er in seiner Danksagung letztlich eine „entscheidende Rolle“ bei der „Entstehung des Buches“ einräumt, die Arbeit von Frank Arnau dazu komplett ignoriert oder gar nicht zur Kenntnis genommen hat, muss umso mehr befremden, als der Autor auch noch implizit die These wagt, das eigentliche Fehlurteil in diesem Rechtsfall könne gut auch der Freispruch des Angeklagten im Revisionsverfahren gewesen sein, zu dem Prokop maßgeblich beigetragen hatte.
Befremdlich auch im eher Randständigen: Prokop lebte und arbeitete über 30 Jahre in der DDR. Diese Staatsbezeichnung ersetzt der Autor durchgängig durch den Begriff Ostdeutschland, weil DDR „bei unter Dreißigjährigen – ähnlich einer chemischen Formel – oft zu Abstoßungsreaktionen“ führe. Da könnte es gut sein, dass genau solche Attitüde bei über Dreißigjährigen Abstoßung geradezu provoziert. Allerdings stößt man auf Beneckes diesbezügliche Erläuterung erst im Abschnitt „Hinweise“, ganz am Ende des Buches.
Und weil gerade von Attitüde die Rede war: Dass Benecke selbst nicht frei von jener von Fall zu Fall bis ins Peinliche abgleitenden Eitelkeit ist, die durchaus auch fähige Wissenschaftler befallen kann und auf deren Prokopsche Ausprägung der Autor wiederholt und recht detailverliebt zu sprechen kommt, zeigt seine ebenso kokettierende wie alberne Aufforderung an seine Leser: „Glauben Sie nichts, prüfen Sie alles!“ Obwohl – zumindest der erste Halbsatz …
Dem Mangel an Material zu Prokops Leben ist schließlich vielleicht auch der Sachverhalt geschuldet, dass der Autor am Ende seines Buches eine Reihe von Recherche-Interviews im Wortlaut angefügt hat, wie man sie bei so einem Projekt üblicherweise mit Angehörigen, Kollegen und anderen Zeitgenossen führt, die in besonderer Beziehung zum Objekt der eigenen Nachforschungen gestanden haben. Im vorliegenden Fall hat dies jedoch mit die interessantesten Passagen der Publikation ergeben. Das gilt insbesondere für das Gespräch mit dem langjährigen westdeutschen Kollegen und Freund Otto Prokops, Gerhard Uhlenbruck.
Mark Benecke: Seziert. Das Leben von Otto Prokop, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2013, 304 Seiten, 19,99 Euro.