16. Jahrgang | Nummer 13 | 24. Juni 2013

Gretchen in der Mädlerpassage: Günter Blutkes Leipzig

von Kai Agthe

Als Günter Blutke 1955 zum Studium nach Leipzig kam, verfügte der Laienfotograf über einige Kenntnis und ein geschultes Auge. Denn in den Jahren zuvor hatte er bereits Erfurt, wo er seine Jugend verbrachte, auf Zelluloid gebannt. Seine Studien in der zweitgrößten Stadt der DDR sollten seine Fähigkeiten als Fotograf professionalisieren. Wie als Erfurter Schüler, so zog auch der Leipziger Student nun durch die Straßen, um das Besondere des Augenblicks einzufangen. Was einst aus jugendlicher Begeisterung geschah, dient jetzt seinen Seminaren.
Von 1956 bis 1959 hat er das durch seine Messe weltläufige Leipzig im Bild festgehalten. In jenen Jahren studierte er Journalistik an der Universität und zeitgleich Fotografik an der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Seine Fotos entstanden damals mit Hilfe einer Exakta Varex sowie einer erst in Leipzig erstandenen tschechischen Flexaret 6×6-Kamera. Eine Auswahl seiner Aufnahmen aus der Zeit hat Günter Blutke jetzt in einem Bildband vorgelegt.
Da ist der Bierkutscher mit einem Zigarrenstumpen im Mund und Marlene, die an ihrem Dutt bastelt. Wir sehen züchtig bekleidete Sonnenanbeter im Clara-Zetkin-Park und eine Gruppe von Kindergartenkindern, die im Bollerwagen durch den Leipziger Zoo gefahren werden. Der Marabu daselbst ist ebenso wenig schön anzusehen wie Georg Mayer, der damalige Rektor der Universität Leipzig, dessen langgezogener Schmiss unzweideutig erkennen lässt, dass er als Studiosus für alles Mögliche, nicht aber für den Sozialismus stalinistischer Prägung focht. Günter Blutkes Reise in die Vergangenheit führt weiter über den Hörsaal der Anatomie bis zum Braunkohlentagebau Espenhain, wo Studenten und Gleisarbeiter zusammen malochten.
Der junge Blutke fing auch Straßenszenen aus einem noch erkennbar von den Zerstörungen des Weltkrieges gezeichneten Leipzig ein. Farbe kam in den fünfziger Jahren allenfalls bei der Mustermesse (deshalb das Doppel-M) in die Stadt an der Pleiße. So sieht man neben einer Wohnhausruine einen Pagodenbau, der, vom Konsum betrieben, „China-Importe“ anbietet. Die Messe selbst ist vertreten mit dem dicht umlagerten Stand des DDR-Fahrzeugbaus: Bestaunt wird gerade das jüngste Produkt automobiler Innovationsfreude: der P 70 aus Zwickau. Viel witziger als der Duroplast-Vorgänger des Trabant 601 ist jener Junge, den Günter Blutke tatsächlich in dem Moment festhielt, als er popelnd hinter einem Opel hockt.
Apropos freie deutsche Jugend: Das Einzige, was die Fotos von einer Demonstration zum 1. Mai von denen späterer Jahre unterscheidet, ist nicht das Meer aus Fahnen und Uniformen, sondern ein kleiner Junge, der sich, wohl aus Langeweile, ganz nach unten beugt, so dass man unter seiner kurzen Hose die Halterung für Strapsstrümpfe sieht, die wiederum an einem Leibchen angebracht sein dürften.
Auf dem Frontispiz-Foto fällt durch das Glasdach der Mädlerpassage ein Sonnenstrahl auf das Model Ilse. Ein wunderbarer Moment, der aus der jungen Frau ein Gretchen macht, das abwägend zu jener Gruppe Studenten aus Goethes „Faust“ blickt, die mit den ebenfalls in Bronze gegossenen Mephisto und Faust, die auf der anderen Seite stehen, im Streite liegen.
Günter Butke zeigt uns das Leipzig und seine Bewohner, wie sich vor mehr als einem halben Jahrhundert präsentierten – und von denen wir ohne seine Fotos so niemals erfahren hätten.

Günter Blutke: Leipzig. Fotografien 1956-1959, Mitteldeutscher Verlag, Leipzig 2013, 79 Seiten, 12,95 Euro.