16. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2013

Der Fall Hetzel

von Frank-Rainer Schurich

Die erste große Sachverständigenkrise der Bundesrepublik betraf in den 60er Jahren das Strafverfahren und hier vor allen Dingen gerichtsmedizinische Gutachter. Da das Vertrauen in die Justiz verloren zu gehen schien, versuchte man im Rahmen einer Gegenstrategie, die Fehlurteile als „Ausnahmefälle“ zu verharmlosen.
So erging es dem international bekannten Kriminologen Frank Arnau aus der Schweiz, der immer wieder kritisch zur Straf-Unrechtspflege in der BRD Stellung bezog und den Strafrichtern und öffentlichen Anklägern stets eine „megalomanische Überheblichkeit“ vorwarf.
Im Orient-Express am 9. März 1894 geboren, wie es sich für einen Kriminologen gehört, ist er am 11. Februar 1976 in München gestorben. „Für das Leben eines Mannes“, schrieb er in „Arnau über Arnau“, „ist es wohl entscheidend, dass er einer Überzeugung, einer Gesinnung, einem Leitmotiv nachlebt. Mit siebzehn schon lernte ich den Satz erfassen: ‚Wo es Stärkere gibt, immer auf der Seite der Schwächeren!‘“
Und Arnau war immer auf der Seite der Schwächeren. Hans Hetzel hatte Arnau aus dem Zuchthaus in Bruchsal, in dem er einsaß, geschrieben: „Wenn Sie nicht nur aus Wichtigtuerei gegen die Justiz wetteifern, sondern wirklich etwas zugunsten eines unschuldig verurteilten Menschen tun wollen, so nehmen Sie sich meiner an.“
Und Frank Arnau handelte. Es gelang ihm, den Leiter des Wissenschaftlichen Dienstes der Kriminalpolizei der Stadtpolizei Zürich Dr. Max Frei-Sulzer und Prof. Dr. Otto Prokop aus der DDR für Expertisen zu gewinnen, die sich vor allen Dingen gegen das gerichtsmedizinische Gutachten von Prof. Dr. Albert Ponsold richteten.
Ponsold, der Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin der Universität Münster, der uneingeschränkte „König“ des Fachs zu jener Zeit, hatte in der italienischen Fachzeitschrift „Zacchia“ zugegeben, dass die deutschen forensischen Mediziner aus Eitelkeit und Prestigegründen bewusst falsche Gerichtsgutachten erstellen. Er wusste, wovon er sprach. In zahlreichen Fällen wurde nachgewiesen, dass seine Expertisen falsch waren und Unschuldige viele Jahre hinter Gitter gebracht hatten. In Fotografien las er wie in Kaffeesatz und fand stets das, was die Staatsanwaltschaft suchte. Arnau bezeichnete Ponsold öffentlich als „Fern-, Fehl- und Lügengutachter“, ohne dass vom Angegriffenen je eine Reaktion kam.
Großes Pech hatte am 1. September 1953 der gelernte Metzger und extrem vitale junge Mann Hans Hetzel, dem eine junge Frau, die er per Anhalter mitgenommen hatte, bei einem Schäferstündchen im Walde wegstarb. Er meldete diesen Vorfall nicht der Polizei, weil er Angst hatte, dass ihm die Beamten die Geschichte nicht glauben würden. Schließlich war er vorbestraft. Also verbrachte er in panischer Angst die Leiche, an der die Erstgutachter später „keinerlei Zeichen äußerer Gewalteinwirkung“, sondern Tod durch Herzversagen feststellten (die junge Frau war herzkrank gewesen), zu einem anderen Ort und bettete sie ins Gebüsch nahe einer Autobahn. Er wusste, dass dort einmal ein junges Mädchen ermordet worden war.
Am 3. September 1953 gegen 19.30 Uhr wurde die Leiche der völlig entkleideten Frau an der Bundesstraße 28 zwischen Appenweiler und Sand, nördlich des Bodensees, in einem seitlichen Gebüsch gefunden.
Hätte Hetzel gewusst, dass Albert Ponsold sein Gutachter werden würde, wäre sein Mund stumm geblieben, als er wegen eines Eigentumsdelikts von der Polizei vernommen wurde. Aber es sprudelte nur so aus ihm heraus, er glaubte an den Sieg der Wahrheit und berichtete von dem tragischen Vorfall im Walde.
Da der Staatsanwaltschaft in Offenburg nun ein Mordprozess zu entgehen drohte, wie in der Vergangenheit schon öfter, trat Ponsold als Gutachter an und sah anhand von Amateurfotografien (!!!), die er vorsorglich als „Tatortaufnahmen“ titulierte, zunächst „Mord durch Erwürgen“, später „Mord durch Erdrosseln“ als erwiesen an. Und da Hetzel Fleischer war, kannte er auch das Mordwerkzeug: einen Kälberstrick, der nie aufgefunden wurde. Ponsold hatte den Leichnam niemals gesehen. „Die Gerichtsmedizin“, schrieb Frank Arnau schon zwei Jahre vor dem Freispruch Hetzels, „kennt keinen einzigen Fall …, in dem ein Gerichtsmediziner auf den grotesken Einfall gekommen wäre, aus einer Fotografie die Todesursache zu diagnostizieren“.
Hetzel hatte kein Geständnis abgelegt, er wurde 1955 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt und erst 1969, nach 14 Jahren Haft, verworfener Revision und zwei abgelehnten Wiederaufnahmeanträgen endlich freigesprochen.
Wesentlichen Anteil am Freispruch hatte der österreichische Staatsbürger Prof. Dr. Otto Prokop (1921-2009), der Direktor des Instituts für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin. Prokop wies durch Versuche nach, dass Spuren im Halsbereich mühelos durch Vorgänge und Manipulationen an der Leiche nach dem Todeseintritt zu erklären sind. Gerade diese Vertrocknungen am Hals hatten den fotografischen Hellseher Ponsold zu der kühnen Hypothese geführt, dass sie von einem Kälberstrick verursacht worden waren, weshalb dieser Fall heute auch als „Kälberstrickfall“ in aller Munde ist. In Wirklichkeit war die beim Geschlechtsakt von hinten plötzlich an Herzversagen Verstorbene, die Magdalena Gierth hieß, auf einer Astgabel im Wald abgelegt worden, wodurch diese Y-Vertrocknung hervorgerufen wurde. Es sei hier angemerkt, dass Otto Prokop, wenn er den Fall Hetzel in Vorlesungen oder auf Konferenzen erörterte, gebildeter von „Geschlechtsverkehr a tergo“ sprach, was freilich im Lateinischen auch nur „von hinten“ bedeutet.
Ponsold war vom 29. Mai 1961 bis zum 3. Oktober 1962 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin und wurde 1968 in allen Ehren emeritiert; belangt werden konnte er strafrechtlich nicht, da auch Schlechtachter wie Gutachter wegen ihrer „Richterhilfsfunktion“ von aller Haftung für die von ihm angerichteten, unabsehbaren Schäden freigestellt werden. Falsche uneidliche Aussage und Meineid des Sachverständigen können zwar mit Haft bestraft werden, was im Grunde genommen aber ein Geständnis des Gutachters voraussetzt. Und so blöd war selbst Ponsold nicht. Er hatte sich immer darauf berufen, dass er sich geirrt und den Fall eben so und nicht anders gesehen habe.
Durch Friedrich Herbers Buch „Gerichtsmedizin unterm Hakenkreuz“ wissen wir, dass Ponsold zum 1. Oktober 1941 auf den Lehrstuhl für gerichtliche Medizin an der „Reichsuniversität Posen“ (im okkupierten Poznań) berufen wurde, den er bis 1945 innehatte. In seinen von einem Ghostwriter geschriebene Memoiren unter dem Titel „Der Strom war die Newa. Aus dem Leben eines Gerichtsmediziners“ (1980) behauptet er, nie einer Partei angehört zu haben. Friedrich Herber wies nach, dass Ponsold seit 1937 Mitglied der NSDAP war (Nr. 4 047 403), seit 1933 schon der SA. Er war auch Mitglied des NS-Ärztebundes und des NS-Dozentenbundes, besaß die Zulassung als Arzt im Amt für Volksgesundheit der NSDAP, war „Sturmarzt“ des Nationalsozialistischen Deutschen Kraftfahrer-Korps, „Sturmführer“ im NS-Fliegerkorps und arbeitete in einem Erbgesundheitsgericht mit.
In dem von Ponsold unterschriebenen Formular zur Aufnahme in die NSDAP heißt es: „Ich bin deutscher Abstammung und frei von jüdischem oder farbigem Rasseeinschlag … Ich verspreche, als treuer Gefolgsmann des Führers die Partei mit allen meinen Kräften zu fördern.“
60 Jahre sind seit dem tragischen Ereignis im Walde, für das der stürmische Liebhaber Hans Hetzel 14 Jahre unschuldig im Gefängnis saß, vergangen. Der aktuelle Justizskandal im Fall Gustl Mollath beweist, dass der Schoß, aus dem damals mit aktiver Hilfe eines Alt-Nazis das Straf-Unrecht gekrochen war, immer noch beängstigend fruchtbar ist.