von Erhard Crome
Nachdem das Ausspionieren weltweiter Datenströme durch die US-Geheimdienste publik wurde, nicht zuletzt durch die Informationen, die der frühere Geheimdienst-Mitarbeiter Edward Snowden offengelegt hatte, hob erst einmal ein lautes Empören an. Verwunderlich ist nur, weshalb so viele Leute – auch Medienvertreter und Politiker – in Deutschland so taten, als seien sie verwundert. Der Spiegel hatte bereits 2011 eine Titelgeschichte, die überschrieben war mit: „Im Netz der Späher“. Im Text hieß es: „Das Internet ist zu einem Paradies für die Datensammler der Werbewirtschaft geworden. Auf Schritt und Tritt stehen die Netzbürger unter Beobachtung – Computer durchleuchten das digitale Ich, um seine Wünsche, Sorgen und Absichten zu ergründen.“ Es wäre ja eine geradezu mondsüchtige Idee zu glauben, dass die Werbewirtschaft etwas täte, dem sich die Geheimdienste verweigern. Auch dass global agierende Unternehmen, wie Microsoft, Google und Facebook, allesamt in den USA beheimatet sind, wusste jeder, der es wissen wollte. Ebenso, dass man es sich dortzulande zur Ehre anrechnet, mit den entsprechenden Diensten in patriotischer Weise zusammenzuarbeiten.
Zunächst einmal ist an den historischen Kontext zu erinnern: Das Internet ist aus dem 1969 in den USA entstandenen ARPANET hervorgegangen. Da damals Rechnerkapazitäten in teuren Großrechnern konzentriert waren, ging es darum, die Rechner von Universitäten und anderen Großrechnern zu vernetzen, um dadurch eine bessere Auslastung der Rechnerkapazitäten zu erreichen. ARPANET aber war ein Projekt der Advanced Research Project Agency (ARPA), die wiederum eine Einrichtung des US-Verteidigungsministeriums war, gegründet 1958 von Präsident Dwight D. Eisenhower. Zugleich – wir schreiben das Jahr 1969 und befinden uns mitten im Kalten Krieg – war die Idee, ein dezentrales Kommunikationssystem zu schaffen, das nicht von einem Zentrum oder einzelnen Zentren abhängig ist und demzufolge auch durch einen atomaren Schlag nicht zerstört werden konnte. Das verteilte Kommunikationssystem würde so die Kapazität des atomaren Zweitschlags, der Kernfähigkeit in der Logik des atomaren Gleichgewichts, das bis heute besteht, gewährleisten.
An die Stelle der ARPA trat 1972 die DARPA, was dem Advanced Research Project Agency lediglich das Wort Defence, also „Verteidigung“, voranstellte. Diese DARPA wiederum war jahrelang die Kontrolleinrichtung für die „IANA-Funktion“. Das ist die Koordination der Zuteilung von Domains und Internet-Adressen (IP-Adressen), damit es jede Internet-Adresse nur einmal auf der Welt gibt und jedes am Netz teilnehmende Gerät adressierbar und damit erreichbar ist. Das heißt, auch die Vergabe der Internet-Adressen erfolgte unter Aufsicht des US-Verteidigungsministeriums. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde von Seiten der US-Regierung das Netz in den 1990er Jahren von einem „Forschungsnetz“ (unter Kontrolle der Militärs) zu einem kommerziellen Netz erklärt und die Aufsicht dem Handelsministerium der USA überantwortet.
Dieses wiederum hat im Jahre 2011 die IANA-Rolle neu ausgeschrieben. Zugelassen waren nur hundertprozentige US-Einrichtungen. Damit haben die USA erneut unterstrichen, dass sie die Letztkontrolle über die Root-Server und damit über das Netz beanspruchen. Kritiken aus China, Indien und Russland, diese Kontrolle zu vergemeinschaften, zum Beispiel unter einem UNO-Dach, wurden brüsk zurückgewiesen. Gewiss, das Internet wird von verschiedenen Institutionen kontrolliert. Dazu gehören die Provider, die über das Kabel den Zugang zum Internet ermöglichen, und die Suchmaschinen, die ausgewählte Inhalte zugänglich machen. Darüber aber stehen die USA, die die Domänenamen und ihre Vergabe kontrollieren – und ihre Geheimdienste, die so jeden auf der Welt finden, ausforschen und gegebenenfalls erschießen können.
Die USA haben ihre „unilaterale“ Hegemonialrolle verloren, von der vor den Niederlagen in Irak und Afghanistan ständig die Rede war. Aber sie sind weiter die militärisch und wirtschaftlich stärkste Macht in der Welt. Die Macht im Internet und die der Geheimdienste, das heißt ein Vorsprung an Wissen, Informationen und deren Auswertung, soll diese Stellung untersetzen. Das, was jetzt über die Praxis des Ausforschens bekannt wurde, ist nicht ein Ausrutscher, sondern System. Die Verantwortlichen in der US-Regierung haben sich ja auch keineswegs entschuldigt. Sie bemänteln ihren weltweit praktizierten Rechtsbruch unter Hinweis auf den „Kampf gegen den Terrorismus“. Mit dem Übergang von Bush II zu Obama hat sich daran nichts verändert. Deshalb haben diese Verantwortlichen ganz offen gesagt, dass sie dies auch weiterhin tun werden. Und die Verurteilung des Whistleblowers Bradley Manning, der zwar nicht umgebracht werden soll, aber für Jahrzehnte hinter Gitter verschwinden – unter Beiziehung von verstaubten Kriegs-Paragraphen aus dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-65) und dem Ersten Weltkrieg – ist exemplarische Drohung an alle, deren Gewissen für die Freiheitsrechte schlägt. Derweil sitzen WikiLeaks-Gründer Julian Assange wegen des US-amerikanischen Verfolgungsdrucks weiter in der ekuadorianischen Botschaft in London und Edward Snowden im Asyl in Russland.
In Deutschland hatte nun SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück der Kanzlerin vorgeworfen, ihren Amtseid gebrochen zu haben, weil sie nicht schärfer gegen die Praktiken der US-Geheimdienste auf deutschem Boden und gegen deutsche Bürger vorgegangen sei. Das war wieder eine seiner Witz-Aussagen. Alle deutschen Bundesregierungen haben an der Umsetzung der US-Praktiken mitgewirkt. Zunächst einmal unterstand nach 1945 alles in Deutschland der Entscheidungsgewalt der vier Besatzungsmächte, die auch ihre jeweiligen Geheimdienste auf deutschem Boden in Stellung brachten. Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten wurden auch wieder deutsche Geheimdienste geschaffen, die jeweils mit „ihren“ Siegermächten zu kooperieren hatten – die Staatssicherheit der DDR mit den sowjetischen und BND sowie Verfassungsschutz mit den US-amerikanischen, aber auch den französischen und britischen Diensten. Nach der Einführung der Notstandsgesetze wurde 1968 eine Vereinbarung der BRD mit den drei Siegermächten getroffen, wonach deren Dienste auch weiterhin deutsche Bürger ausforschen können, und zwar gegebenenfalls mit Unterstützung der (west-)deutschen Dienste. Das war damals die Regierung der Großen Koalition, mit Kurt Georg Kiesinger (CDU) als Kanzler und Willy Brandt (SPD) als Vizekanzler. Diese Vereinbarungen haben – „2+4-Vertrag“ von 1990 über deutsche Vereinigung und Souveränität hin oder her – noch heute Gültigkeit. Der „Kanzler der Einheit“, Helmut Kohl (CDU), hatte es offenbar versäumt, auch dieses „alliierte Vorbehaltsrecht“ zu kassieren – oder aber es war Bedingung des damaligen US-Präsidenten Bush I für die deutsche Vereinigung, genau dies nicht zu tun.
Nach dem 11. September 2001 hatte nicht nur die deutsche Regierung die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA verkündet, sondern auch die NATO den „Bündnisfall“. Dies schloss Vereinbarungen über geheimdienstliche Zusammenarbeit mit ein. Wie jetzt laut ZDF ruchbar wurde, arbeiten über 200 private Firmen der USA in Deutschland auf dem Gebiet des Ausforschens von Daten für US-Dienste, während die deutschen Geheimdienste auch mit US-amerikanischer Spionage-Software arbeiten. Grundlage ist eine Regierungsvereinbarung, die die deutsche Regierung unter Kanzler Schröder (SPD) und Vizekanzler Fischer (Grüne) 2003 abgeschlossen hat.
In den vergangenen Wochen ist in Deutschland parteiübergreifend, durch die großen Medien angespornt, eine Stimmung gegen diese Praktiken der USA zur Ausforschung deutscher Bürger und Einrichtungen auf deutschem Boden entstanden. „Wir sind ein Rechtsstaat“, hat Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Sommer-Pressekonferenz gesagt. Auf der symbolischen Ebene sagt dies: Die USA sind es nicht (mehr). Es wird nun wohl darauf hinauslaufen, dass die letzten „Vorbehaltsrechte“ nunmehr ebenfalls suspendiert werden. Das korrespondiert mit der „neuen“ internationalen Rolle Deutschlands. Ob es für die Bürger dieses Landes aber besser ist, nur noch von deutschen Diensten ausgeforscht zu werden, steht auf einem ganz anderen Blatt.
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