von Norbert Podewin
Bereits 1946 errichtete die SPD in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands eine – sinnbildliche – „Antikontakt-Mauer“ in Richtung Osten und verband diese mit permanenter Ignoranz beziehungsweise Ablehnung gegenüber jeglichen Vorschläge der SED in Sachen deutscher Einheit. Diese „Mauer“ bestand 20 Jahre und schien undurchdringlich: Bis 1965 blieben 13 Vorschläge der SED unbeantwortet.
Dann geschah ein Novum: Ein „Offener Brief“ der SED an die Mitglieder der SPD mit einem Gesprächsangebot im Gestalt eines Redneraustausches, der am 7. Februar 1966 dem SPD-Vorstand zugestellt worden war, wurde am 18. März beantwortet – zustimmend. Am 26. März reagierte der Empfänger: Neues Deutschland veröffentlichte den SPD-Brief ungekürzt und informierte zugleich über die Bereitschaft der SED zu gemeinsamen Veranstaltungen in der DDR und in der BRD.
Die Bonner Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP unter Kanzler Ludwig Erhard schäumte; Unionsfraktionschef Rainer Barzel ließ wissen: „Für Mord und Mörder wird es weder eine Lockerung des Verfolgungszwanges noch den Schatten des Opportunitätsprinzips geben!“ Die Deutschen, West wie Ost, sahen das damals anders. Nach einer Infas-Umfrage begrüßten 76 Prozent der Bundesbürger einen Redneraustausch; in der DDR war die ND-Auflage von 800.000 Exemplaren mit dem Antwortbrief der SPD in kürzester Zeit ausverkauft.
Obwohl der Text die gängigen publizistische Worthülsen wie „Mauer“, „Schießbefehl“, „Berlin-Schikanen“ und „politische Unterdrückung“ von DDR-Bürgern enthielt, blieb die SED-Führung bei ihrem Angebot. Am 26. Mai vereinbarten in Berlin ihre Vertreter mit SPD-Beauftragten bereits Termine: für den 14. Juli in Karl-Marx-Stadt und für den 21. Juli in Hannover. Auch die Namen der jeweiligen Redner wurden inoffiziell publik: Friedrich Ebert und Albert Norden für die SED sowie Willy Brandt, Fritz Erler und Herbert Wehner für die SPD.
Die positive Grundstimmung im Gebäude des ZK der SED, im „Großen Haus“ am Werderschen Markt in Berlin, schlug jedoch total um, als dort der Text einer von der SPD eingebrachten und am 23. Juni im Bundestag beschlossenen Vorlage mit dem Titel „Gesetz über befristete Freistellung von der deutschen Gerichtsbarkeit“ eintraf. Daraus ging hervor, dass die BRD sich – gestützt auf ihren so genannten Alleinvertretungsanspruch in Gestalt der Hallstein-Doktrin – weiterhin die grundsätzliche Rechtshoheit über Bürger des souveränen Staates DDR sowie die Befugnis anmaßte, diese nach Gesetzen der BRD unter Strafverfolgung zu stellen und gegebenenfalls abzuurteilen beziehungsweise nur in eng definierten Ausnahmefällen davon abzusehen. In § 1 der Vorlage hieß es: „Die Bundesregierung kann Deutsche, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes haben, von der deutschen Gerichtsbarkeit freistellen, wenn sie es bei Abwägung aller Umstände zur Förderung wichtiger öffentlicher Interessen für geboten hält.“ § 2 befristete zugleich die Dauer: „Die Freistellung […] soll in der Regel nicht länger als eine Woche dauern. […] Sie kann an Bedingungen und Auflagen geknüpft werden.“
Dieses Gesetz machte einmal mehr deutlich, dass generell jeder Repräsentant der DDR – unabhängig von staatlicher oder parteilicher Funktion – aus Sicht der BRD-Justiz ein potentieller Straftäter war.
Am 29. Juni trat daraufhin Albert Norden in Berlin vor die internationale Presse, nannte die Bonner Gesetzesvorlage prägnant „Handschellengesetz“ und sagte deshalb den Redneraustausch ab.
Politiker wie Medien der Bundesrepublik blendeten allerdings den erneut erhobenen illegitimen Rechtsanspruch über Bürger der DDR als Absagegrund in der Folgezeit aus. Sie versuchten stattdessen, „Ängste der SED-Führer vor einem offenen Dialog“ zu suggerieren. Ganz in diesem Sinne wandte sich Willy Brandt an Mitglieder seiner Partei, die Unverständnis über den von der SPD eingebrachten Gesetzestext geäußert hatten. In einem Brief äußerte er. „Es muss den Kommunisten unmöglich gemacht werden, ihr eigenes Ausweichen vor der direkten öffentlichen Diskussion hinter Ausflüchten und Täuschungsmanövern zu verstecken.“
Es vergingen noch Jahre, bevor am 19. März 1970 in Erfurt sowie am 21. Mai 1970 in Kassel die ersten offiziellen Treffen von DDR-Ministerpräsident Willi Stoph und BRD-Kanzler Willy Brandt stattfanden. Vertragliche Vereinbarungen blieben zwar vorerst noch aus, doch international wurden diese Gespräche als Grablegung der Bonner „Hallstein-Doktrin“ betrachtet; vor allem nahmen Staaten der Dritten Welt damals in rascher Folge diplomatische Beziehungen zur DDR auf.
* – Bisherige Beiträge dieser Reihe deutsch-deutscher Reminiszenzen in den Ausgaben 4, 7, und 10 / 2012.
Schlagwörter: Alleinvertretungsanspruch, BRD, DDR, Hallstein-Doktrin, Norbert Podewin, SED, SPD, Willy Brandt