15. Jahrgang | Nummer 15 | 23. Juli 2012

„Ich bin nicht die Therapie, ich bin der Schmerz.“
Im Gespräch – mit Georg Schramm

Nun ist doch ein anderer Bundespräsident geworden. Ihr Lothar Dombrowski war diesbezüglich ins Gespräch gebracht worden, und Sie sahen sich zu einem raschen Dementi veranlasst, bevor die Vorstellung noch Raum greifen konnte. Was sagt es aus über den Zustand einer Gesellschaft, in der eine solche Idee – den obersten politisch-kabarettistischen Zuchtmeister der Nation an die Spitze derselben stellen zu wollen – überhaupt in Erwägung gezogen wird?
Georg Schramm: Ich bin ja kein Einzelfall, und dergleichen wird heute keineswegs nur in Erwägung gezogen. In Reykjavik ist seit 2010, nach der für das Land katastrophalen Finanzkrise, Jón Gnarr Bürgermeister, der bekannteste Komiker des Landes. Der war mit seiner als Spaß gemeinten „Beste Partei“ auf Anhieb zweitstärkste politische Kraft geworden – nicht trotz, sondern wahrscheinlich gerade auch wegen seiner teilweise absurden Wahlversprechen. Und Beppe Grillo – ebenfalls ein Star aus dem komischen Fach – ist mit seiner „Fünf Sterne“-Protestbewegung auf dem besten Wege, die politische Landschaft Italiens auf eine konstruktive Art durcheinander zu bringen: Im Mai hat die Bewegung in Parma die erste Bürgermeisterwahl gewonnen und schaffte es in weiteren Kommunen bis in die Stichwahlen. Was das über den Zustand der Gesellschaft aussagt, liegt auf der Hand: Die etablierte politische Klasse hat bei den Bürgern auf gut Deutsch verschissen. Meine berufliche Perspektive allerdings sehe ich nicht in dieser Richtung.

Nicht mal in Ihrer Heimatstadt Badenweiler?
Schramm: Nicht mal dort. In Badenweiler würde ich keine Mehrheit gewinnen – und falls doch, müsste das schief gehen. Ich habe das abschreckende Beispiel eines Kollegen vor Augen, der in seiner Gemeinde nach einer jahrelangen Fehde mit dem Bürgermeister, einem Verwaltungsjuristen, selbst angetreten ist und in den Gemeinderat gewählt wurde. Der Bürgermeister hat ihn daraufhin zielgerichtet zu Tode gelangweilt. Der hat ihn mit Anträgen zur Gestaltung von öffentlichen Bedürfniseinrichtungen und solchen Fragen eingedeckt. Der Kollege hat nach wenigen Monaten entnervt das Handtuch geworfen.
Hinzu kommt, dass ich meine Grenzen kenne. Ich bin kein Multitalent. Das Ding auf der Bühne kriege ich ganz gut hin, aber schon beim Schreiben zum Beispiel bin ich sehr langsam und tue ich mich ausgesprochen schwer. Im Gegensatz zu Kollegen, die schreiben, singen und komponieren können, wenn’s sein muss, alles auf einmal, während der Bahnfahrt. Das kann ich nicht.

Trotzdem – der Gedanke „Dombroski for President“ hat was
Schramm: Nein. Der Bundespräsident ist, was die politische Macht im Lande anbetrifft, nicht einmal zweitrangig, und schon seine Wahl – das regelmäßige Parteiengeschacher um die Nominierung inklusive – ist eine Farce. Da wird über Bande gespielt, um der einen eins auszuwischen oder den anderen zu verhindern. Anders ist doch gar nicht zu verstehen, warum ausgerechnet die SPD einen Mann mit einer politischen Erdung wie Joachim Gauck präsentiert hat. Mit Werten und Inhalten hat das nichts zu tun. Und diejenigen Politheuchler, die in diesem Zirkus immer wieder besonders laut klagen, dass das Amt nicht beschädigt werden dürfe, gehören in der Regel auch noch zu den Hauptakteuren. Daran wollte und will ich mich nicht beteiligen. Tragikomisch ist ja allenfalls, dass die SPD-Spitze offenbar immer noch glaubt, der Gauck sei einer von ihnen.
Nicht zuletzt habe ich gesehen, wie die Medien mit Peter Sodann bei dessen Kandidatur umgesprungen sind. Das ist mir in unappetitlicher Erinnerung, und das wäre mir auch nicht anders ergangen. Die Spielregeln des Boulevards und der Talkshows stehen fest, die kann man als Einzelner nicht ändern.
Letztlich wäre ich der Kandidat nur einer Handvoll Menschen gewesen, und da der Präsident von der Bundesversammlung gewählt wird und nicht von der Bevölkerung, haben Versuche mit Minderheitskandidaten letztlich keinen Sinn. Sollte über das nominelle Staatsoberhaupt aber doch irgendwann das Volk entscheiden, ja dann müsste ich gegen den Kandidaten der Bild-Zeitung antreten, und das hätte schon wieder seinen Reiz.

Die geballte Medienmacht des Blättchens, das sagen wir schon jetzt zu, könnten Sie in diesem Falle zu Ihren Bataillonen zählen!
Schramm: Das ist sehr gut. Da wird Friede Springer richtig zittern, wenn sie das liest!

Der aktuelle Amtsinhaber hat ja nun seine ersten nationalen und internationalen Auftritte absolviert. Man kann sich zwar immer damit trösten, dass das Amt schon schlimmer und mit Heinrich Lübke auch schon peinlicher besetzt war – aber trotzdem: Nach einer Lichtgestalt im Schloss Bellevue sieht es bisher nicht aus …
Schramm: Sagen wir mal so – gegenüber seinem Vorgänger ist Gauck durchaus ein Gewinn. Was ich zunächst mehr als Werturteil über den Vorgänger verstanden wissen möchte. Gauck ist Teil unserer politischen Landschaft. Allerdings geht mir die Art und Weise, wie er sich präsentiert, gegen den Strich – obwohl ich ansonsten, auf der Bühne, einen großen Faible für Pathos habe. Andererseits ist Gauck zwar politisch auf mindestens anderthalb Augen kurzsichtig, aber blind ist er nicht, denn er hat eine opportunistische Ader und will gut wegkommen als Bundespräsident. Jedenfalls will er nicht so eine Elendsgestalt abgeben wie sein Vorgänger. Die dafür notwendige Lernfähigkeit erkenne ich bei Gauck durchaus. Es war doch schön, wie der seine Unterschrift unter das jüngste Gesetz zum Fiskalpakt sofort ausgesetzt hat, als das Bundesverfassungsgericht mit seinem zu diesem Themenfeld bekanntermaßen kritischen, man könnte auch sagen verfassungskonformen Blickwinkel das Gesetz zu prüfen begann. Bei solchen Persönlichkeiten sind Überraschungen, selbst positive, nie ganz auszuschließen.

Sie sind Jahrgang ’49, also hinreichend gereift für die Anschlussfrage: Sind Sie schon mal überrascht worden?
Schramm: Aber ja – zum Beispiel durch die Bundespräsidentschaft Richard von Weizsäckers. Über dessen Wahl war ich ob seiner politischen Vita erst entsetzt. Aber allein seine Rede zum 8. Mai – nämlich diesen Tag als einen der Befreiung zu würdigen – hat’s gelohnt. Diese überfällige Rede, mit dieser Wirkung konnte in der Bundesrepublik übrigens nur von einem Konservativen gehalten werden. Wie es auch kein Versehen war, dass eine rot-grüne Regierung Deutschland außenpolitisch wieder in den Krieg geführt und innenpolitisch die Axt an den Sozialstaat angelegt hat. Bei der jetzigen Bundeswehrreform mit der Abschaffung der Wehrpflicht wiederum hat ein Konservativer den Hut auf. Nicht zuletzt die Möglichkeit solchen Wechselspiels hat unserem Zwei-Parteien-System mit seinen zusätzlichen beiden kleinen Mehrheitsbeschaffern bisher eine beachtliche Stabilität beschert.
Doch zurück zum Bundespräsidenten. Der einzige, der mich von Anfang an überzeugt hat und bis heute mein Lieblingspräsident geblieben ist, war Gustav Heinemann. Es hat aber noch weitere Personen gegeben, die unser Land demokratisch nach vorn gebracht hätten. Hildegard Hamm-Brücher etwa. Sie ist leider an der Ignoranz der SPD gescheitert, die seinerzeit unbedingt ihr Versprechen gegenüber Johannes Rau halten wollte, dass er Bundespräsident werden darf, wenn er als Ministerpräsident endlich zurücktritt. Manche Versprechen hält die SPD eben auch ein – oder arbeitet sie verzweifelt ab. Und dann kommen halt Persönlichkeiten wie Frau Hamm-Brücher, die Lauterkeit, Würde und andere seltene Wesenszüge verkörpern, nicht zum Zuge. Auch Jutta Limbach wäre eine großartige Bundespräsidentin gewesen.
Im Endeffekt ist das Amt aber nicht wichtig genug, um sich länger dabei aufzuhalten. Als Ersatzkönig ist der Bupräsi ja in jedem Fall zu schwach, und unter den obwaltenden Gegebenheiten wäre es eigentlich konsequenter, wenn Burda bei der jährlichen Bambi-Verleihung den Präsidenten gleich mit ernennen würde. Wegen mir auch mit der Option auf Verlängerung um ein zweites Jahr.

Auch in der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise hat es die Politik nicht vermocht, der Finanzwirtschaft Regeln aufzuerlegen, die deren systemgefährdende Auswüchse unterbinden. Was hierzulande zwischen Regierung und Opposition etwa unter dem Stichwort Transaktionssteuer allenfalls viertelherzig verfolgt wird, gleicht ja eher einem Notpflästerchen auf einer Verletzung, die nach Amputation schreit. Ist das Unfähigkeit der Politik oder Unwilligkeit?
Schramm: Zwischen Wirtschaft, speziell Finanzwirtschaft, und Politik besteht meines Erachtens ein sehr enges und stabiles Geflecht von Abhängigkeiten. Die sind durchaus gegenseitig, wobei allerdings heute kein Zweifel an der Rollenverteilung zwischen Koch und Kellner mehr besteht. Seit Jahrzehnten hat sich die Politik mit der Staatsverschuldung in die Abhängigkeit von der Finanzindustrie begeben, und die exponentiell gewachsenen Schulden infolge Bankenrettung seit dem Crash von 2008 haben den Finanzköchen fast schon eine Allmacht verschafft, der die Politik mit ihrer Marktgläubigkeit und ihrem lediglich auf Zeit Spielen heute mit einer fast rührenden Hilflosigkeit gegenüber steht. Die Finanzoligarchen ihrerseits lieben schwache, verschuldete Staaten, denen sie immer wieder ihr Geld zuschieben können, um relativ sichere Gewinne zu kassieren. Volkswirtschaftlich und gesellschaftlich gesehen ist das Ganze ein Mechanismus irrwitziger Umverteilung von unten nach oben. Das war von beiden Seiten gewollt, und die Politik hat profitiert: Es ergaben sich immer wieder Spielräume, mit Staatshaushalten zu jonglieren und die Wiederwahl zu sichern. Inzwischen aber profitiert nur noch eine Seite, und da kommen selbst Beteiligten Bedenken, dass das Ganze aus dem Ruder laufen könnte. Der Chef des Weltwirtschaftsforums in Davos, Klaus Schwab, brachte es vor einiger Zeit gegenüber der Finacial Times Deutschland auf den Punkt: „Man kann durchaus sagen, dass das kapitalistische System in seiner jetzigen Form nicht mehr in die heutige Welt passt.“ Recht hat der Mann, und das Unbehagen darüber ist längst im Herzen des Bürgertums angekommen. Dessen Wertkonservatismus ist ja inzwischen zu einer nachgerade fortschrittlichen Komponente geworden, wenn Sie sich etwa die gesellschaftspolitische Debatte in der Frankfurter Allgemeinen ansehen. Was in diesen Kreisen heute gedacht und gesagt wird, dagegen sieht die Sozialdemokratie ausgesprochen blass und kleingeistig aus.
Ich selbst habe immer darauf gehofft – und rein emotional tue ich das heute noch –, dass der von den USA ausgehende Finanzkapitalismus eines Tages einfach zusammenkracht. Mein Verstand sagt mir allerdings, dass auch in diesem Falle die wirklich Leidtragenden wieder nur diejenigen wären, die jetzt schon zu den Verlierern des Systems gehören.

Als das der Kapitalismus die letzten Male so richtig krachen ging – 1917/18 und 1945 – traten anschließend Entwicklungen ein, deren Wiederholung kein vernünftiger Mensch wirklich wollen kann. Trotzdem hat es keinen Sinn, die Augen vor dem Ernst der Lage zu verschließen, den Egon Bahr mit den Worten auf den Punkt gebracht hat: „Was als Krise im System begann, ist eine Krise des Systems geworden.“ Die Systemfrage ist gestellt. Sehen Sie Alternativen?
Schramm: Das fragen Sie mich? Ist das Ihr Ernst?

Unsere eigene Suche nach Alternativen hat bisher leider zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt …
Schramm: Umso schlimmer, denn ich muss Sie enttäuschen – Sie fragen den Falschen. Ich bin Kabarettist, das heißt, ich bin nicht die Therapie, ich bin der Schmerz. Ich hätte selbst gern eine Antwort oder wegen mir auch mehrere, aber ich habe keine. Ich beschäftige mich mit diesen Fragen sehr intensiv, ich lese und lese, und am Ende gibt es die eine oder andere Teilantwort, aber vor allem nur wieder neue Fragen, und ich empfinde es als äußerst schmerzhaft, dass ich bei vielen der heutigen finanzwirtschaftlichen Entwicklungen gar nicht verstehe, was überhaupt vorgeht, zu welchen Konsequenzen das führt und wie man dem Ganzen eine andere Richtung geben könnte. Wobei ich schon sehe, dass das System und seine Akteure es auch zielgerichtet darauf anlegen, von uns Normalbürgern nicht verstanden zu werden – allein damit die Umverteilung nicht stockt. Würde ich noch mal studieren, ich wählte VWL. Und ich plädiere dafür, ein obligatorisches Schulfach „Geld & Finanzwirtschaft“ einzuführen, um der Gesellschaft überhaupt eine Chance zu geben, je wieder nach so etwas wie Waffengleichheit auch nur zu streben.
Wenn die Gesellschaft in unserem Wirtschaftssystem mithalten will, dann braucht es nämlich gebildete Bürger ohne Ende. Aber die Chancen stehen denkbar schlecht. Ein amerikanischer Nobelpreisträger traf kürzlich die Feststellung, dass in den westlichen Gesellschaften ein beachtlicher Teil der Jugend ungebildet gelassen wird. Ich glaube, das ist kein Versehen, dahinter steckt Absicht: Die sind leichter zu regieren, die kann man mit BILD-Zeitung und Idiotenfernsehen abspeisen. Ich hatte, wenn diese Abschweifung gestattet ist, schon Befürchtungen, als vor einiger Zeit diskutiert wurde, ob man den Hartz-IV-Empfängern weiterhin Alkohol und Zigaretten finanzieren solle. Wenn man denen dann noch verboten hätte, RTL II zu sehen … Aber so schlimm ist es ja Gott sei Dank nicht gekommen! Der Gesellschaft allerdings geht dadurch viel Potenzial verloren – von dem, was das für das gesamte Leben der Betroffenen, für die gern so genannte bildungsferne Unterschicht bedeutet, ganz zu schweigen.
Im Übrigen: Dass ich selbst keine Antwort auf die Frage nach Alternativen weiß, ist für sich genommen noch kein Grund zum Verzweifeln. Der liegt erst darin, dass nirgendwo eine Idee zu erkennen ist. Aber wo soll die auch herkommen – so, wie die Gremien besetzt sind? Nehmen Sie Jean-Claude Juncker, der ist pro forma Ministerpräsident eines Landes namens Luxemburg, das in Wahrheit nichts anderes als eine von jenen Steueroasen ist, die ein Lebensnerv des heutigen Casinokapitalismus sind, der seinerseits die jetzige Krise herbeigeführt hat. Juncker gilt als ehrenwerter Mann. Tatsächlich ist er Teil des Systems der Ausplünderung der Volkswirtschaften durch die Finanzindustrie. Es heißt immer, die Habgier habe kein Gesicht. Also Juncker ist oft genug im Fernsehen. Und dieser Mann präsidiert seit Jahren der Euro-Gruppe, die die Krise bewältigen soll. Da muss man schon sehr fest in dem Glauben sein, dass Beten gegen Pest hilft.

Dank Ihrer Nicht-Antwort auf die Frage nach Alternativen hat sich unsere nächste Frage, wie man diese in unserem System denn gegebenenfalls politisch durchsetzen könnte, quasi gleich miterledigt.
Trotzdem erscheint es uns – da es neben dem Großen und Ganzen auch noch solche Alltagsfragen wie die gibt, wo unser Atommüll verbuddelt werden oder ob eine ganze Innenstadt für einen Bahnhof untertunnelt werden soll, – nicht müßig, einige Gedankenarbeit auf unsere Demokratie zu verwenden, also auf „die schlechteste Staatsform“, wie Churchills Aperçu lautet, „ausgenommen all diese anderen, die man von Zeit zu Zeit ausprobiert hat.“
Wir wollen die Latte dabei nicht zu hoch legen, denn schließlich war die Demokratie bereits dort, wo sie erfunden wurde, im klassischen Griechenland, alles andere als wörtlich – Herrschaft des Volkes – zu nehmen. Zugelassen zum Ostrakismos auf der Agora von Athen waren ausschließlich männliche, erwachsene Bürger – keine Frauen, keine Zugezogenen, keine freigelassenen Gefangenen oder Sklaven und letztere sowieso nicht. Die Demokratie im klassischen Hellas war also das Privileg einer absoluten Minderheit, über die Mehrheit zu herrschen. Diesen Sachverhalt könnte man mit Fug und Recht als Geburtsfehler der Demokratie bezeichnen. Der Begriff selbst jedenfalls war schon zum Zeitpunkt seiner Entstehung ein Euphemismus und wurde wahrscheinlich von gewieften Demagogen geradezu mit der Absicht in die Welt gesetzt, diesen Geburtsfehler nicht ins öffentliche Bewusstsein dringen zu lassen.
Mehr direkte Demokratie wird heute von manchen empfohlen, um die Zustände im Lande zu bessern. Das wäre ein Ansatz, für den auch wir unsere Sympathie nicht verhehlen wollen. Allerdings gibt uns zu denken, was Thomas Ebermann kürzlich gesagt hat: „Das Vertrauen in die Massen, ein Postulat nahezu aller Linken durch alle Zeiten – ich glaube, das geht nach Auschwitz nicht mehr. Vor Volksentscheiden habe ich regelrecht Angst.“ Man stelle sich vor, in Deutschland wäre per Volksentscheid über die Wiedereinführung der Todesstrafe – etwa für Kinderschänder – zu entscheiden. Mit einem landesweiten Leitmedium wie
BILD muss man kein Prophet sein, um das Ergebnis vorherzusagen. Wie entgeht man solchen Dilemmata?
Schramm: Dieses Risiko ist in der parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts grundsätzlich unvermeidlich. Auch die Nazis sind mal demokratisch gewählt worden. Aber es muss ja nicht so kommen. Das ist immer eine Frage der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Ich habe zu Hause das Beispiel der Schweiz vor der Nase. Dort gibt es alle ellenlang Volksentscheide, die die Regierung binden. Zu wichtigen Fragen und zu eher belanglosen auch. Häufig erscheinen mir die Entscheidungen ganz vernünftig, manchmal stehen mir die Haare zu Berge. Aber worauf es ankommt: Die Schweizer haben einen politisierten Alltag, das ist Teil von deren Kultur, da wird vor Entscheiden über das Pro und Contra öffentlich diskutiert – und nicht hinter verschlossenen Türen oder in einer Pseudodebatte des Bundestages am Freitagnachmittag, wo das Plenum im Fernsehen meist ausgeblendet bleibt, damit man nicht sieht, dass da keine 20 Hanseln mehr sitzen, egal um welche Frage es geht. Könnte sein, dass die Schweizer Spielart von Demokratie eine gewisse Hürde gegen gefährliche Extreme darstellt.
Eine andere Sache ist das Mobilisierungspotenzial der neuen Medien. Das ist offen nach jeder Richtung, bietet also auch positiven Möglichkeiten, wie der arabische Frühling gerade erst gezeigt hat. Oder nehmen Sie die Piraten bei uns. Die brauchen gar keine Programmatik und haben trotzdem Erfolg, weil die Leute der Programmatik der alteingesessenen Parteien immer weniger glauben beziehungsweise von denen gar nichts mehr erwarten. Die Piraten blasen neuen Wind in die erlahmende Demokratie – wie damals, als die Grünen in die Parlamente einzogen. Das zwingt die anderen, sich wieder zu bewegen.
Und nicht zuletzt: Sehen Sie sich die halsbrecherische Kehrtwende Angela Merkels in der Atompolitik an. Die erfolgte nicht aus Angst vor einem deutschen Fukushima, die erfolgte aus Angst vor einem Gau bei den nächsten Bundestagswahlen. Das zeigt doch, dass auch hierzulande der Wähler noch grundlegende Weichenstellungen erwirken kann. Er müsste dies nur bewusster, offensiver, öfter tun.
Apropos Angela Merkel: Das war immer so ein Punkt zwischen Urban Priol und mir in „Neues aus der Anstalt“. Ich habe schon damals gesagt, wenn diese Frau aus politischem Opportunismus mal das Richtige tut, dann muss man auch die Größe haben zu sagen: „Bravo. Das war aber jetzt in Ordnung.“
Wenn ich mir all diese – hier zugegebenermaßen nur aufgereihte und nicht fundiert analysierte – Beispiele, und man könnte weitere nennen, vor Augen halte, dann bin ich, was die Chancen unserer Demokratie anbetrifft, weit weniger pessimistisch, als es meinem Naturell eigentlich entspricht.

Bei uns schaffen es ja selbst Politiker in höchste Ämter, die öffentlich als unfair beklagen, dass Wähler sie nach den Wahlen an ihre Versprechen von vor den Wahlen erinnern oder gar an diesen messen. In der letzten Anstalt vor der Sommerpause hat Ihre Kollegin Luise Kinseher – als „Leiterin des Psychologischen Dienstes des Deutschen Bundestages“ – mit der Auffassung aufgeräumt, dass die persönliche Deformation von politisch tätigen Mandatsträgern Folge von deren Ämtern sei. Im Gegenteil: „Die Störung führt zum Amt.“ Sie sind ja selbst einschlägig beruflich vorbelastet. Teilen Sie den Befund?
Schramm: Ich glaube auch, dass ein bestimmtes Ausmaß an Deformation in der Persönlichkeitsstruktur hilfreich ist, um in der Politik zu reüssieren – so wie bestimmte asoziale Persönlichkeitsmerkmale hilfreich sind, um Hedgefondsmanager zu werden. Skrupellosigkeit und andere Eigenschaften, die für ein soziales Gemeinwesen eher nicht förderlich sind, gehören dazu. Normale Eltern allerdings, und das sind hoffentlich immer noch die meisten, erziehen solche Charaktereigenschaften ihren Kindern nicht vorsätzlich an. Die müssen die Betreffenden sich schon selbst hart erarbeiten. Erstaunlich ist allerdings, dass immer wieder auch völlig anders geartete Persönlichkeiten in die Politik gehen und sich dort nicht deformieren lassen. Das zählt für mich zu den großen Wundern unserer Demokratie, die ich im Übrigen gar nicht verstehen will. Die sollen nur nie enden!

Thomas Mann hielt, durchaus schon als gereifter Mann, eine aufgeklärte Diktatur für die ideale Staatsform …
Schramm: Ja, und George Bernard Shaw wollte mal Sozialisten züchten …

Das wollten wir in der DDR auch.
Schramm: Womit wir beim Stichwort „politische Naivität“ wären. Ich hatte mein Déjà-vu in dieser Hinsicht, nämlich die erschütternde Selbsterkenntnis, aber auch gar nichts von dem begriffen zu haben, was Politik in ihrem innersten Wesen ausmacht, nach dem Zusammenbruch der DDR. Ich war damals einerseits felsenfest davon überzeugt, dass die SPD im Gefolge der Entwicklung auf Jahrzehnte zur stärksten politischen Kraft in ganz Deutschland werden und die überwältigende Mehrheit der DDR-Bürger selbstverständlich SPD wählen würde, und andererseits, dass Deutschland nach der Wiedervereinigung aus der NATO austreten und alle, auch die Verbündeten, das gut finden würden. Die tatsächliche Entwicklung hat mich sehr demütig gemacht.

Kehren wir zurück zur Demokratie. Da ist ja auch noch die seit Jahrzehnten zu beobachtende schleichende Kastration des Bundestages im politischen System – ein Prozess, der sich in der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise so außerordentlich vertieft hat, dass Bettina Gaus jüngst davon sprach …
Schramm: Wollen Sie mich mit Ihren ständigen Zitaten eigentlich einschüchtern?

Wäre das denn möglich? Also, Bettina Gaus meint, die parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik werde gerade „lautlos und undramatisch abgeschafft“. Von Gegenwehr der betroffenen Parlamentarier ist nichts zu spüren …
Schramm: Frau Gaus trifft den Nagel auf den Kopf. Ein früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Jürgen Papier, hat schon vor Jahren sinngemäß davor gewarnt, dass eine unlegitimierte Kraft drauf und dran sei, stärker zu werden als die drei Säulen der Demokratie – Legislative, Exekutive und Judikative. Der Mann meinte damals bereits den Lobbyismus und die Interessenverbände der Wirtschaft, die dabei waren, die Entscheidungsmacht im Lande zu gewinnen. Dieser Prozess hat sich seither dramatisch beschleunigt. Und Angela Merkel ist feste mit dabei. Fast der letzte Fels in der Brandung ist heute das Bundesverfassungsgericht, das in den letzten Jahren ein ums andere Mal dem Trend zur Aushöhlung der Demokratie Grenzen gesetzt hat und dies auch derzeit tut. Hochachtung, kann ich da nur sagen.
Ich merke schon, dass Sie mich mit Ihren Fragen dazu treiben, unsere verfassungsmäßige Ordnung zu verteidigen. Gut, sei’s drum. Denken Sie nur daran zurück, was Deutschland im Dritten Reich für eine grauenhafte Richterschaft hatte, die bis 1968 und zum Teil darüber hinaus weiter amtieren durfte. Muss man sich da nicht die Augen reiben, was für vorbildliche Demokraten heute in Karlsruhe ihres Amtes walten und der Regierung immer wieder in den Arm fallen mit der Begründung, dass am Souverän vorbei regiert werde. Das hätte ich mir vor 40 Jahren, als die 68er auf die Straße gingen, nicht träumen lassen.

Das müssen Sie uns als Westdeutscher aber dann doch erklären, wie dieses Phänomen eigentlich möglich ist, wo doch die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts regelmäßig zwischen den Parteien ausgekungelt werden, denen sie anschließend in den Arm fallen.
Schramm: Das kann ich nicht erklären. Vielleicht passiert da etwas beim Durchschreiten der Pforte in Karlsruhe, wer weiß. Aber wie ich schon sagte: Wunder will ich nicht verstehen, es genügt, wenn sie sich wiederholen. Die dortigen Hüter unserer Verfassung sind jedenfalls viel besser als so mancher qua Wahlfunktion zur politischen Umsetzung des Grundgesetzes Verpflichtete, und das ist gut so. Ich habe das Grundgesetz nämlich im Laufe der Jahre sehr schätzen gelernt – viel mehr, als ich mir als junger Mensch je hätte träumen lassen.

Nach über 20 Jahren als neu hinzugekommene Bundesdeutsche schließen wir uns Ihrer Wertschätzung dem Grunde nach an.
Schramm: Das ist natürlich ein großer Trost für das Grundgesetz. Schließlich habt ihr jungen Bundesbürger es ja vermasselt, dass unsere Verfassung nicht noch besser ist.

???
Schramm: Um das Provisorium des Grundgesetzes in eine Verfassung für Gesamtdeutschland zu überführen, hatten die Gründerväter eine entsprechende Volksabstimmung vorgesehen. Steht im Grundgesetz. Das wäre auch Gelegenheit gewesen, das Gesetz inhaltlich zu diskutieren und zu verbessern – etwa was die eher schwammige Sozialverpflichtung des Eigentums anbetrifft. Aber ihr in Eurer hastigen Gier nach der D-Mark konntet es ja nicht abwarten und musstet einfach nur beitreten – nach Artikel 23. Daher: kein neuer Staat, keine neue Verfassung. Damit habt ihr damals denen, die das sowieso nicht wollten, die Steilvorlage geliefert.

Nicht alle in der DDR wollten einfach beitreten …
Schramm: Okay. Vielleicht sollten wir uns künftig einfach gemeinsam darauf konzentrieren, den ungehobenen Schätzen des Grundgesetzes ans politische Tageslicht zu verhelfen.

An welche denken Sie?
Schramm: Wenn ich Artikel 15 zitieren darf – „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden […].“

Der Kapitalismus ist also kein bundesrepublikanisches Verfassungsgut.
Schramm: Sehr gut – Sie denken mit!

Unbestreitbar braucht unsere Demokratie frischen Wind. Geradezu Windverhinderer sind allerdings die etablierten Parteien – längst zu Kanzlerwahlvereinen, verlängerten Armen der Groß- und Finanzindustrie, Vertretern von Partikularinteressen (Apotheker, Hoteliers, Sportschützen, Lehrer, Beamte) sowie zu Selbstbedienungsläden für Mandatsträger mutiert, nein degeneriert. Diese Parteien für zehn Jahre vom politischen Prozess und allen wählbaren Ämtern wegsperren – zum Zwecke der programmatischen und personellen Selbsterneuerung – wäre das Mindeste. Aber wer regiert zwischendurch?
Schramm: Wenn wir die alle in die Wüste schicken, ruinieren die die auch noch. Aber im Ernst – die Crux bei radikalen Ansätzen besteht ja oft darin, dass es mit der Realisierbarkeit hapert. Die Erneuerung muss bei laufendem Betrieb – in statu operandi, wie wir Fachleute sagen – erfolgen. Wie wäre es mit folgendem Anfang: Jeder Abgeordnete des Bundestages muss vor einem Redebeitrag im Plenum seine sämtlichen Nebentätigkeiten und -einkünfte aufzählen, und die dafür notwendige Spanne wird von der Redezeit abgezogen. Gut, da bräuchte mancher sein Manuskript erst gar nicht mit nach vorn nehmen. Aber wir bekämen gläserne Abgeordnete. Der SPD-Politiker Norbert Gansel hat das in den 90er Jahren vorgemacht. Der hat stets all Einkünfte offen gelegt und seine Partei immer wieder damit gequält, sie solle eine entsprechende Entschließung für den gesamten Bundestag einbringen. Der Querulant Gansel wurde schließlich zwar als OB nach Kiel entsorgt, aber das spricht nicht wirklich gegen die Idee.

Vom Großen und Ganzen möchten wir nun zum eher Mittleren und Teilweisen wechseln. Wir haben gelegentlich den Eindruck, Sie legten es bei Ihren Auftritten regelrecht darauf an, sich eine Beleidigungs- oder Verleumdungsklage aus dem politischen Establishment einzufangen, um die damit verbundene Tribüne dann zur finalen Bloßstellung der satirisch Angegriffenen zu nutzen: Trügt unser Eindruck nicht oder wollen Sie diesen hier doch ganz entschieden dementieren?
Schramm: Unter uns älteren Pfarrerstöchtern – ich habe es manchmal schon darauf angelegt. Vor allem in der Anstalt. Das Kalkül war natürlich, wenn sich jemand dagegen zur Wehr setzt, dann kann ich mich in der nächsten Sendung entschuldigen und dabei die in Rede stehende Passage noch mal sagen. Die hätte dadurch erst die richtige Aufmerksamkeit erhalten. Leider war niemand persönlich so töricht.
Allerdings hatten der Priol und ich mal eine Phase, in der gesetzt war: Keine Sendung ohne Schmähung des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler. Das haben wir sehr systematisch betrieben, und dann gab es Beschwerden im Programmbeirat, auf die die ZDF-Intendanz schließlich reagierte: Wir sollten doch nicht in jeder Sendung, es gäbe gehäuft Beschwerden von Zuschauern … Daraufhin haben wir in der nächsten Sendung den Köhler dreimal ausdrücklich gelobt, allerdings für die dümmsten Sachen, die er sich wieder geleistet hatte, und nach der zweiten Bemerkung sagte ich zum Priol: „Ich merke schon, Sie haben auch den Aushang am Schwarzen Brett gelesen, wo uns die Anstaltsleitung gebeten hat, nett zum Bundespräsidenten zu sein.“ „Ja“, antwortete Priol, nimmt das Bild von Köhler und küsst es. Das ZDF hat uns danach signalisiert, dass sie verstanden haben – und uns machen lassen, bis die Beschwerden auf dem Tisch liegen. Und so lief’s dann auch, und damit konnten wir gut leben.
Die Verhinderung von Zensur war übrigens einer der maßgeblichen Gründe, warum wir eine Sendung wie die Anstalt nur live machen wollten. Damit wir immer eine Hintertür hatten – wie der legendäre Dieter Hildebrandt, der sich in Fällen, wo sie ihm für den Scheibenwischer was untersagen wollten, so ans Publikum wandte: „An dieser Stelle hätte ich wahnsinnig gern etwas gesagt, aber das darf ich nicht. Ich erzähle Ihnen nur mal schnell, worum es ging …“

Hatten Sie häufig mit Zensurversuchen zu tun?
Schramm: Eher selten. Beim Scheibenwischer hielt in den letzten Jahren selbst der Bayerische Rundfunk die Hufe still. Es sei denn, der Papst kam vor, da waren die unerbittlich. Das Ausmaß der Liberalität beim ZDF allerdings, als wir mit der Anstalt anfingen, das hat mich schon erstaunt. Aber da sitzen ja auch kluge Leute, die einfach wissen, dass die Anstalt dem Sender beim Bildungsbürgertum ein feuilletonistisches Renommee verschafft. Dafür nehmen die das Bisschen politischen Kollateralschaden, den Kabarett hin und wieder anrichtet, in Kauf – zumal sich ja an der politischen Praxis im Lande in der Regel nix ändert.

Sie zitieren auf der Bühne Papst Gregor aus dem 6. Jahrhundert: „Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.“ Wie ist es aus Ihrer Sicht um die Wirkmacht von Intellektuellen, deren Rapier das Wort ist, in der heutigen Gesellschaft bestellt? Außer, dass sein Büchlein ein Bestseller geworden ist, hat Stephane Hessels „Empört Euch“ keine so rechten Folgen gehabt – oder?
Schramm: Einer der unvergesslichsten Sätze des deutschen Kabaretts der vergangenen Jahrzehnte stammt von Dieter Hildebrandt, der auf die Frage, was er denn bewirkt habe, mal geantwortet hat: „Kein deutsches Atomkraftwerk ist ohne unseren Protest ans Netz gegangen!“ Kabarett allein verhindert nichts. Es sind Ereignisse wie Fukushima, die die Verhältnisse aufmischen und etwa den ersten grünen Ministerpräsidenten der Bundesrepublik ermöglichen. Ausgerechnet in Baden-Württemberg, wo das persönliche Eigentumsrecht der CDU an der politischen Macht quasi Verfassungsrang hatte. Ich will jetzt überhaupt nicht zynisch erscheinen, aber muss man sich mehr solche Gaus nicht geradezu wünschen? Oder anders gefragt: Geht es Ihnen nicht auch manchmal so, wenn Sie eine Zusammenballung von Verantwortungsträgern der politischen und wirtschaftlichen Klasse sehen, Davos wurde schon erwähnt, dass Sie sich fragen: Was machen eigentlich die Taliban?

Dombrowski hatte sich in Ihrem Programm „Thomas Bernhard hätte geschossen“ einen Revolver besorgt – einen Enfield, das weltweit einzige Modell, das mit einer Hand nachzuladen ist –, um sich gegebenenfalls auf sehr drastische Weise Wirkung zu verschaffen. Kann Gewalt an der richtigen Stelle nicht doch ein legitimes Mittel sein, politische Veränderungen herbeizuführen?
Schramm: Das mag so scheinen, aber ich halte das Gewaltmonopol des Staates bei all seinen auch problematischen Aspekten für eine ganz wichtige zivilisatorische Errungenschaft – für eine, die zwischen uns und der Barbarei steht. Und das ist kein mächtiger Wall sondern eher ein ziemlich dünner Lack, der bei Terror und Krieg schnell ab ist. Ihre Frage will ich daher ganz klar verneinen. Auch und gerade als jemand, der das geschichtlich überhaupt nicht selbstverständliche Privileg hatte, in seinem Leben von keinem Krieg unmittelbar betroffen gewesen zu sein.
Die ganz persönliche Ebene ist ein andere. Da sehe ich mich durchaus in dem gleichen Zwiespalt wie George Clooney in „Ides of March“, als er gefragt wird, was er mit dem Täter tun würde, wenn der seine Tochter vergewaltigt oder getötet hätte:
„Wenn ich ihn kriegte, würde ich ihn erschießen.“
„Aber Sie sind doch gegen die Todesstrafe.“
„Ja, natürlich.“
Auch ich halte mich durchaus für fähig, in einer extremen Situation aus politischen oder anderen Gründen eine schwere Straftat zu begehen. Aber ich finde es zugleich völlig in Ordnung, ja für notwendig, dafür im Falle des Falles nach Recht und Gesetz bestraft zu werden. Gewaltausübung durch Einzelne zerstört den gesellschaftlichen Zusammenhalt, ohne den wir nicht leben können. Aus denselben Gründen darf jedoch auch das Gewaltmonopol des Staates kein grenzenloses sein, ist es eine bleibende große Herausforderung jeder Gesellschaft, für einen zurückhaltenden und vorsichtigen Umgang des Staates mit diesem Monopol zu sorgen. Schon der Verdacht auf Folterbereitschaft etwa wäre eine Grenzüberschreitung …

Ist es letztlich nicht so, wie Günter Gaus gesagt hat: Wir haben es noch immer mit dem alten Adam und der alten Eva zu tun? Und scheitern nicht daran immer wieder die guten Ideen von Weltverbesserern? Falls diese Frage von Pessimismus getragen scheint, so legen wir allerdings Wert darauf, für den unseren die Definition von Oscar Wilde zu reklamieren: „Pessimismus ist informierter Optimismus“ …
Schramm: Es gibt auch Theorien, denen zufolge der Mensch über einen genetisch angelegten Altruismus verfügt. Ich selbst bin zugegebenermaßen grundsätzlich pessimistisch. Andererseits erlebe ich im Alltag immer wieder Dinge – ob Stuttgart 21, Occupy oder in meiner badenser Heimat das vielfältige gesellschaftliche Engagement von Mitbürgern –, die mich den Optimismus nicht gänzlich über Bord werfen lassen. Letztlich verdanke ich dem wahrscheinlich auch mein seelisches Gleichgewicht. Da bin ich besser dran als Dombrowski. Der leidet, wenn er der Gesellschaft den Spiegel vorhält und die Leute lachen. Der verzweifelt daran, dass er der einzige Verzweifelte ist. Daher der Griff zum Enfield.

Wie würden Sie Ihr Wesen als zoon politicon definieren – oder anders: Gibt es irgendeinen Ismus, dem Sie sich nahe fühlen?
Schramm: Nein, ich würde mich allenfalls als Verfassungspatrioten mit einer hohen Wertschätzung für Rationalität bezeichnen. Wobei der letztere Aspekt in den vergangenen Jahren eine gewisse Relativierung erfahren hat. Als Dombrowski fand ich früher Friedrich den Großen besonders deshalb sympathisch, weil der keinen Nationalstaat wollte, sondern einen Rationalstaat. Heute sehe ich, dass die kalte, absolut moralfreie und bis zur äußersten Konsequenz getriebene hemmungslose Rationalität der Finanzkapitalisten uns direkt in die Katastrophe führt und verstehe endlich einen Gedanken von Adorno und Horckheimer aus deren „Dialektik der Aufklärung“, auf den ich erst spät in meinem Leben, erst vor anderthalb Jahren, gestoßen bin: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“

Und der Ehrentitel „Gesinnungspreuße“, der Ihnen mal verliehen wurde?
Schramm: Dem hänge ich immer noch an, wohl wissend, dass in diesem Gesinnungsbett auch Scherben liegen, an denen man sich übel schneiden kann. Siehe Adorno/Horckheimer. Allerdings wird man immer noch häufig scheel angesehen, wenn man an Preußen, seinen Eigenheiten und Strukturen, Positives findet und verteidigt. Das hat auch damit zu tun, dass Preußen in der Bundesrepublik nach dem Krieg politisch dafür benutzt worden ist, alles Negative aus der deutschen Geschichte der letzen 200 Jahre auf ihm abzuladen. Da wurde eine gerade Linie gezogen von Friedrich II. zu den Nazis, wie es bereits die Goebbelssche Propaganda getan hatte. Das war zwar grober Unsinn, nach dem Krieg aber sehr bequem. Da brauchte man sich mit vielem anderen nicht mehr auseinanderzusetzen. Adenauer hatte daran eine große Aktie; der hat sehr zielstrebig und im Zusammenspiel mit den Briten darauf hingewirkt hat, dass Preußen als einziges Land in Deutschland 1947 durch ein Kontrollratsgesetz rechtlich aufgelöst wurde. Der Katholik Adenauer verfolgte damit zugleich den Hintergedanken, das Gewicht des Protestantismus in Deutschland zu schwächen. Aus ähnlichen Gründen setzte er ja auch alles daran, dass Frankfurt nicht Hauptstadt wurde. Das war protestantisch, überdies eine Hochburg der SPD und hatte zu allem Übel mit der Paulskirche auch noch eine demokratische Tradition, die Adenauer vehement ablehnte. Die offiziellen Gründungsmythen der Bundesrepublik lauten heute zwar etwas anders, aber das war die Realität.

Als junger Mann sind Sie mit der Persönlichkeitsnote „mangelhaft“ und wegen „charakterlicher Nichteignung“ bei der Bundeswehr nicht zum Offizier befördert worden. Warum hatten Sie überhaupt diesen Berufswunsch?
Schramm: Den hatte ich nicht, aber ich kam aus einem mittellosen Elternhaus und hatte mir ausgerechnet, dass ich mir durch eine freiwillige dreijährige Dienstzeit beim Bund mit anschließender Entlassung als Leutnant durch die dann fällige Abfindungssumme hätte ein Studium zumindest teilweise finanzieren können. Insofern war die Nichtbeförderung ein Schlag ins Kontor meiner Lebensplanung.

Und worin bestand Ihre „Nichteignung“? Haben Sie in der Nase gebohrt oder neigten Sie schon seinerzeit zu intellektueller Insubordination?
Schramm: Seinerzeit war es nicht schwer, sich eine Beurteilung einzufangen, man sei als Vorbild für die Truppe und damit als Offizier ungeeignet. In meinem Falle genügte es, an der Heeresoffiziersschule in den damaligen heißen Debatten um die Notstandsgesetzgebung offen kritische Argumente zu vertreten. Die waren gar nicht einmal auf meinem Mist gewachsen, die hatte ich aus Materialien des DGB entlehnt.
Ich bin zwar noch beim Bund rehabilitiert worden, aber meine Beförderung zum Leutnant der Reserve erfolgte erst nach meiner offiziellen Entlassung. Und da sich damals die Höhe der Abfindung nach dem letzten Dienstgrad beim Bund bemaß, erhielt ich nur die eines Fähnrichs …

Dieter Hildebrandt hat zu seinen persönlichen Motiven gegenüber dem Blättchen unter anderem freimütig bekannt, er stelle sich auch gern dar. Ist das für Sie ebenfalls ein Beweggrund, sich dem dauernden Stress unentwegter Bühnenauftritte auszusetzen?
Schramm: Sie meinen die Lust, mich über Ungerechtigkeiten, kleine und große, tatsächliche und vermeintliche aufzuregen, und zwar nicht im stillen Kämmerlein, sondern öffentlich? Ja, das spielt ’ne Rolle – nicht zuletzt aus Gründen der Familienhygiene. Meine Kinder können’s schon lange nicht mehr hören, meine Frau winkt regelmäßig ab, und auch ich selbst werde mir rasch langweilig, weil – ich kenne halt meine Texte. Da bleibt nur die Öffentlichkeit. Denn ohne Aufregung über Ungerechtigkeiten und Missstände, das muss an meiner Sozialisation in sehr kleinen Verhältnissen liegen, geriete ich permanent in eine innere Schieflage. Die Ableitung all dessen, was in mir arbeitet, nach außen hat eine kathartische, eine seelenreinigende Wirkung. Davon profitiert auch meine Umwelt: Ein Abend auf der Bühne macht mich für den nächsten Tag friedlich und erträglich. Eigentlich müsste ich dafür Therapiestunden zahlen, stattdessen bringt das Publikum noch Geld mit! Das ist eine ganz gerissene Nummer. Ich bin mir dieses Privilegs sehr bewusst und schäme mich manchmal dafür. Daher gebe ich in aller Stille einiges davon immer wieder zurück.

Kommen wir abschließend nochmals auf die Idee Dombrowski for President zurück und nehmen an: Der Jahreswechsel steht ins Haus, also die Neujahrsansprache. Was wäre Ihnen da besonders wichtig?
Schramm: In meiner letzten Sendung in der Anstalt im Jahre 2010 hatte ich das Glück, dass Köhler kurz zuvor abgetreten war, so dass die Idee in der Luft lag, ich verlasse die Anstalt, um zu kandieren. Ich habe damals, wenn ich mich recht erinnere, einiges zusammengetragen, was für eine Antrittsrede infrage käme.* Ich würde zum Beispiel gern versuchen, die Reichen unter den Deutschen an ihrer patriotischen Ehre zu packen in der Hoffnung, sie hätten denn eine, damit sie mehr dafür tun, dass dieses Land blüht und gedeiht, und nicht soviel Intelligenz und Kraft darauf verwenden, ihr Geld im Ausland zu verstecken. Die paar löblichen Ausnahmen, die es auch gibt, sind einfach zu wenige. Ich würde – für den Anfang – die reichsten 500 direkt fragen wollen, gern auch bei einer großen Audienz im Bellevue – mit Übertragung auf den Öffentlich-Rechtlichen zur Primetime –, ob sie sich nicht schämen, in den bunten Blättern den großen Patrioten heraushängen zu lassen und im Übrigen schamlos zu raffen, dass die Schließfächer in Luxemburg und Lichtenstein aus den Nähten platzen.
Bei der Neujahrsansprache müsste ich mich aber auf jeden Fall auch dafür entschuldigen, dass ich nicht als Präsident aller Deutschen vor dem Mikrofon säße. Ich kenne einfach etliche, die zu repräsentieren mir die allergrößten Schwierigkeiten bereiten würde. Kämen die nächste Woche ins Amt, würde ich sie als erstes fragen, ob ich ihnen bei der Ausbürgerung behilflich sein kann. Und da meine ich jetzt nicht Josef Ackermann, denn der ist ja schon Schweizer.

Das Gespräch für Das Blättchen führten Heinz Jakubowski und Wolfgang Schwarz am 27. Juni 2012.

* Nachgehört werden kann hier: http://www.youtube.com/watch?v=SlY6Gg5Riek