von Jörn Schütrumpf
Am Anfang war es kaum mehr als eine Laune: Die ZEIT befand sich auf dem Rechtsdrall; die WELTBÜHNE, Ende 1989 zurück auf den Weg eingebogen, den sie bis 1939 verfolgt hatte, war ordnungsgemäß auf dem Gabentisch der deutschen Einheit und transatlantischer Opportunitäten geopfert worden; der FREITAG schwächelte; die SPD suchte die Mitte; in der PDS begannen einige, von der Rückkehr an die Macht zu träumen – natürlich unter den Bedingungen des neuen Regimes: aus der SED-Kreisleitung, unterbrochen von einer marginalen Karrieredelle, hinüber ins Landesministerium.
Genügend Anlässe, der guten alten WELTBÜHNE in ihrer Heimatstadt Nachwuchs zu bescheren. Im Mai 1997 begannen für das Blättchen die Vorarbeiten; Ende August erschien in UTOPIE kreativ die erste Anzeige.
Diese Erinnerung verstört. Denn es war eine beinahe ruhig und beschaulich zu nennende Zeit, damals, vor zehn Jahren. Die Ruhe nach dem Sturm: die DDR abgewickelt, ihre Industrie zerstört, die intellektuellen Eliten unter ihren Stasiakten begraben. Kurzum, die Talsohle schien erreicht; jetzt konnte es eigentlich nur noch wieder bergauf werden.
Wie wir heute wissen, begann alles also mit einer Täuschung: Die Ruhe war die vor dem Sturm. Es gab noch die Arbeitslosenhilfe – notfalls lebenslang; für Frauen die Rente mit 60, für Männer mit 65, dazu verschiedene, sozial zu nennende Vorruhestandsregelungen und eine akzeptable Pendlerpauschale. Der Kanzler hieß Helmut Kohl – schlimmer geht’s nimmer, irrten wir uns. Gerhard Schröder galt als ein Emporkömmling aus Niedersachsen und Angela Merkel als eine doppelt quotierte Peinlichkeit – »Frau« + Ost. Armut gab’s vor allem im Westen: alt und weiblich – dafür unsichtbar. Im übrigen herrschte Frieden.
Das, was CDU und FDP sich nie gewagt hätten, gelang mit leichter Hand einem grünen Jungen im Armani: Deutschland zurück im Krieg. Wie 1914 stimmte die SPD-Führung zu. Sie hätte auch wie 1933 reagieren können; damals hatte sie sich dem Ermächtigungsgesetz verweigert, weil es die Nachkriegszeit zu beenden drohte. Anders 1999 – da wollte die SPD wie 1914 beweisen, wozu alles sie fähig ist: zu allem. Sogar dazu, die Nachkriegszeit zu beenden. Und das ging natürlich nur mit einem neuen Krieg, sonst wäre Nachkriegszeit ja ewig Nachkriegszeit.
Josephs Lüge lautete: Deutsche Bomben auf den Balkan, um ein neues Auschwitz zu verhindern; die Serben neigen ja zu Gaskammern. Mit dieser wirklichen Auschwitz-Lüge wurde der Mord an der serbischen Zivilbevölkerung legitimiert. Der Ur-Joseph hätte es kaum besser gemacht, und der war schließlich promoviert und hatte nicht nur einen Taxi-Schein.
Man muß eben nur lange genug in einer K- oder verwandten Gruppe gelernt haben, die Dinge »dialektisch« hin- und herwenden, dann sind selbst die von deutschen Nicht-Juden gemeuchelten europäischen Juden noch zu etwas nutze. Nicht nur bei den Grünen sah man das übrigens so, auch in der hessischen CDU wußte man um die Vorteile des Holocaust: Dort versteckte man Schwarzgeld hinter angeblichen Vermächtnissen verstorbener Juden.
Wie hatte 1986 noch Ernst Nolte gemeint: Die Bundesrepublik kranke an Geschichte, die nicht vergeht? Die deutsche Politik von Grün bis Schwarz hat gezeigt, daß sie Nolte verstanden hat: Für sie ist diese Geschichte vergangen. Der Weg ist frei. Auch hinter dem Hindukusch gibt es noch etwas zu verteidigen: »deutsche« Interessen.
Geschichte, die nicht vergeht, ist jetzt reserviert für die Jahre 1945 bis 1989 und für jene deutschen Gebiete, in denen das Grundgesetz erst ab dem 3. Oktober 1990 nach und nach zu gelten begonnen hat. Hier läßt sich prima bewältigen. Der Westen ist endlich dauerhaft entnazifiziert.
Zum Ausgleich sieht man Armut jetzt fast an jeder Ecke. Hartz IV wirkt! Die Kuriere, die unsere Redaktion in den ersten Jahren – mangels Technik – häufig in Anspruch nahm, waren gekleidet wie wir auch und in der Regel entspannt. Heute habe ich, wenn ich zum Telefonhörer greife – es geschieht selten, denn die elektronische Technik macht Kuriere täglich mehr überflüssig –, stets ein Drücken in der Bauchgegend: Ich bestelle Armut an die Haustür: abgetragene Kleidung, wie ich sie als Teenager als Provokation gegen den – eigentlich piefigen – DDR-Konsum trug, zerschlissene Schuhe, Gebisse zum Erbarmen. Elend, politisch gewollt.
Werden wir 2018 über ein »beschauliches« 2007 zu schreiben haben?
Schlagwörter: 1997, Blättchen, Gerhard Schröder, Hartz IV, Helmut Kohl, Jörn Schütrumpf, Rot-Grün