Als Hannah Arendt am 4. Dezember 1975 in New York starb, hat wohl kaum jemand geahnt, dass ihr Werk auch ein halbes Jahrhundert später noch so präsent sein würde. In den zurückliegenden Monaten ist nicht nur einiges von Arendts Schriften neu und teils erstmals ediert worden. Es gab auch eine Reihe bemerkenswerter Spezialuntersuchungen und, nicht zu vergessen, drei neue große Biographien. Eine davon stammt von dem Journalisten Willi Winkler.
In seiner Vorbemerkung schreibt Winkler: „Als Intellektuelle, als Autorin, als stets gegenwärtige Zeitgenossin hat sie sich selber erschaffen.“ In Amerika, wo sie nach ihrer Flucht aus Deutschland seit 1941 lebte, fand Arendt ihre eigentliche Berufung. Dort „wurde sie eine Medienintellektuelle, ehe noch irgendjemand von Medien sprach und eine kritische Öffentlichkeit sich überhaupt erst bilden musste“. Um diese Entwicklung nachzuzeichnen, greift Winkler an mehreren Stellen auf das wohl bekannteste Interview zurück, das der Journalist Günter Gaus am 28. Oktober 1964 mit Arendt geführt hat. Darin hatte sie unter anderem erklärt: „[I]ch habe einfach gemacht, was ich gerne machen wollte.“ Das betraf in erster Linie ihre Entscheidung für ein Studium der Philosophie, die aus dem unbändigen Wunsch nach einem „Verstehenwollen“ und „Verstehenmüssen“ erwuchs. Schon mit 14 Jahren hatte sie Kants „Kritik der reinen Vernunft“ gelesen und seither stand für sie fest: „Entweder kann ich Philosophie studieren, oder ich gehe ins Wasser sozusagen.“
Kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag, im Herbst 1924, folgte Arendt dem „Gerücht Heidegger“ und ging zum Studium nach Marburg. Über das, was sich privat zwischen dem Professor und der jungen Studentin in der Folgezeit entwickelte, ist schon oft geschrieben worden. Winkler fasst das Verhältnis der beiden, das Auf und Ab sowie deren Brüche, etwas lax mit einem Zitat aus dem „Zigeunerbaron“ zusammen: „Die Liebe ist eine Himmelsmacht, und sie waltet hier auch auf Erden.“ Streckenweise liest sich das Buch wie die Parallelbiographie einer 50 Jahre währenden Beziehung, die alles offenlässt und bis heute manch Rätsel aufgibt. Niemand, so Winkler, habe Heidegger so ernst genommen wie Hannah Arendt. Bereits in den Fünfzigerjahren sorgte sie sich um die circa 50.000 Seiten seines Nachlasses. Und späterhin kümmerte sie sich darum, dass seine Schriften auch in Amerika gedruckt wurden.
Im New York der Nachkriegsjahre, folgt man Winklers Darstellung, „herrschte als salonière Hannah Arendt, immer bereit, sich in den jüngsten intellektuellen und politischen Streitfall einzumischen“. Sie entfaltete eine rege publizistische Tätigkeit und wurde schnell zu einer der populärsten und zugleich kontroversesten Autorinnen des „Aufbau“, der 1934 gegründeten deutsch-jüdischen Exilzeitung. Als „öffentliche Intellektuelle nach dem Bilde von Karl Kraus und Émile Zola“ konnte und wollte sie es nicht allen recht machen. Das zeigte sich spätestens im Zusammenhang mit ihrer fünf Artikel umfassenden, Anfang der Sechzigerjahre im „New Yorker“ veröffentlichten Berichterstattung über den Eichmann-Prozess, den Winkler einmal mehr als eine Inszenierung des BND darstellt.
Winkler widmet den Diskussionen um Arendts 1963 erschienenes Buch „Eichmann in Jerusalem“ rund 70 Seiten. Ihr Blick auf den Drahtzieher des Holocaust und die „Banalität des Bösen“ sowie auf Israel und das Schicksal der Juden trug ihr viele Feinde ein. Und auch etliche ihrer Freunde wandten sich ab von ihr. Zum wiederholten Mal wurde sie in dieser Zeit „als unverbesserliche deutsche Schulmeisterin wahrgenommen“. Das Buch, das Arendt trotz oder gerade wegen der Kontroverse darum weltberühmt machen sollte, steht für Winkler „am Anfang einer Serie von True-Crime-Erzählungen“, zu denen er Truman Capotes Reportage „In Cold Blood“, die Geschichte der Manson-Familie von Ed Sanders oder auch Norman Mailers Roman über den Mörder Gary Gilmore rechnet.
An der einen oder anderen Stelle des Buches finden sich Formulierungen, über die man stolpert. So spricht Winkler einmal von „Mutti Arendt“, die den Forschungseifer eines jungen amerikanischen Wissenschaftlers bremsen muss. Bei ihrem ersten Besuch im Nachkriegsdeutschland blickt sie mit Schrecken auf das Trümmerfeld Berlin; doch es gibt auch Ecken, schreibt sie an ihren Mann, in denen es halbwegs normal aussieht. Winklers Kommentar dazu: „Zwischen den Ruinen blüht vorschriftsmäßig neues Leben.“ Und sicherlich tut er Hannah Arendt auch Unrecht mit einer Bemerkung wie dieser: „Weil sie einfach über alles geschrieben hat und sich furchtlos selber widersprechen konnte, diente sie mehr und mehr als Lieferantin von Kalendersprüchen und wurde zur heiligen Hannah der Festredner und Kolumnistinnen.“
Winklers Buch ist nicht zu vergleichen mit den Biographien von Thomas Meyer (siehe Das Blättchen, 1/2024) oder Grit Straßenberger. So erfährt man neben dem Biographischen einiges, für das Verständnis durchaus Notwendiges über die europäisch-amerikanische Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts; doch schweift Winkler an solchen Stellen oftmals weit ab und verliert sich – zwar in durchaus interessanten – aber teils auch überflüssigen Details, was den Lesefluss doch ein wenig stört.
Selbst wenn man als ein mit Arendts Werk Vertrauter kaum etwas Neues erfährt – eine Leseempfehlung ist dieses Buch allemal. Zeigt es doch, dass man mit dieser herausragenden Denkerin nicht an ein Ende kommt.
Willi Winkler: Hannah Arendt – Ein Leben. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2025, 509 Seiten, 32,00 Euro.
Hinweis zum Nachhören: Auf der Website von radio3 findet sich die Aufzeichnung einer Veranstaltung, die am 22. November 2025 im Deutschen Theater Berlin stattfand. Unter dem Titel „Gefährliche Denkerin? Hannah Arendt im Kontext unserer Zeit“ diskutierten Natascha Freundel, Anne Eusterschulte und Willi Winkler.
Schlagwörter: Biographie, Eichmann-Prozess, Hannah Arendt, Mathias Iven, Philosophie, Willi Winkler

