28. Jahrgang | Nummer 19 | 3. November 2025

Ukraine in der Geopolitik

von Erhard Crome

Der promovierte Jurist und Schriftsteller Wolfgang Bittner hat ein lesenswertes Buch über die Ukraine in der geopolitischen Auseinandersetzung der Gegenwart publiziert. Der Titel ist etwas weit gefasst. Im Grunde ist es keine Analyse zur aktuellen Geopolitik mit ihren wichtigen Akteuren auf globaler Ebene, sondern eine konzentrierte Darstellung des Ukraine-Krieges aus Sicht der USA und Westeuropas und der absichtlich herbeigeführten Verfeindung Russlands.

Etwas holzschnittartig postuliert Bittner, es ginge seit 200 Jahren „letztlich immer um die globale Vorherrschaft der USA“. Das ist historisch falsch; bis zum Ende des Ersten Weltkrieges bestimmte die europäische „Pentarchie“ aus Großbritannien, Frankreich, Preußen/Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn das Weltgeschehen. Die USA und Japan waren seit Ende des 19. Jahrhunderts neue, aufstrebende imperiale Mächte, die sich in dieses Machtgefüge einzudrängen versuchten. Das Ganze war seit 1815 überwölbt von einer globalen Hegemonialordnung, die von Großbritannien bestimmt wurde.

Nach dem Ersten Weltkrieg endete die britische Hegemonie und mit dem Zweiten Weltkrieg begann die Hegemonie der USA, die sich zunächst Russland in Gestalt der Sowjetunion gegenübersah. Diese Bipolarität prägte die Periode des ersten Kalten Krieges. Erst nach dem Ende des Realsozialismus und der Sowjetunion wähnten sich die USA in einer Situation der Unipolarität.

Hier verweist Bittner auf Zbigniew Brzezinski, der zur „Strategie der Vorherrschaft“ der USA unter Verweis auf den britischen Geopolitiker Halford Mackinder bereits 1997 betont hatte, dass die Welt beherrscht, wer das Zentrum Eurasiens kontrolliert. Ein zentraler Gesichtspunkt war, die Ukraine als von Russland unabhängigen Staat zu stärken – ohne Ukraine sei Russland kein eurasisches Reich mehr. Darauf zielte die Konfrontationspolitik der US-Regierungen Obama und Biden. Letzterer, der sämtliche Konflikte und Kriege der USA der vergangenen Jahrzehnte mit zu verantworten hat, hatte bereits 2014 geprahlt, Putin zur Respektierung der Souveränität der Ukraine gezwungen zu haben und die EU dazu, durch die Aggressions- und Sanktionspolitik den eigenen Wirtschaftsinteressen zu schaden. Insofern ging es nicht nur darum, Russland zugrunde zu richten und strategisch zu vereinnahmen, sondern Deutschland gegen Russland aufzustellen, als Konkurrent der USA auszuschalten und die deutsche Exportnation ruinieren. „Für die Behauptungen, Russland wolle Westeuropa angreifen, gibt es keinerlei Beweise.“ Die wahnwitzigen Milliardenbeiträge für das deutsche Militär fußen auf einer reinen Propaganda-Behauptung.

Die Schuld am Ukraine-Konflikt und dem daraus resultierenden Krieg wird von den staatstragenden Politikern im Westen und Medien ausschließlich Russland und Präsident Putin zugeschoben. Bittner hat nun einige zentrale Vorgänge noch einmal genauer rekapituliert, die im öffentlichen Bewusstsein seither in den Hintergrund gedrängt wurden. Nachdem „in Kiew im Februar 2014 der von auswärtigen Kräften lange vorbereitete Regime Change stattgefunden hatte“ und dort Nationalisten und Bandera-Verehrer an die Macht gebracht wurden, fanden in mehreren ukrainischen Städten antirussische Aufmärsche statt, die von dem neuen Regime organisiert worden waren. Dagegen wandten sich prorussische Demonstranten, die sich ihre Muttersprache nicht verbieten lassen wollten. Dabei kam es zu Straßenschlachten mit den ukrainischen Nationalisten, mit zahlreichen Verletzten. Als dabei im Mai 2014 in Odessa ein Teil der Demonstranten in das Gewerkschaftshaus flüchtete, zündeten die Verfolger das Gebäude an; 42 Menschen verbrannten, sprangen aus dem Fenster oder wurden totgeschlagen. Die Polizei griff nicht ein, die Feuerwehr begann erst nach 40 Minuten mit dem Löschen. Insgesamt starben bei den Auseinandersetzungen 48 Menschen, mehr als 250 wurden verletzt. Die Kiewer Regierung spielte das Geschehen herunter, westliche Medien berichteten heuchlerisch. Zur Verantwortung gezogen wurde lediglich ein Täter, der einen Demonstranten erschossen hatte. Die Medien-Darstellung sollte das offizielle Bild, das Kiewer Regime träte für Demokratie und westliche Werte ein, nicht stören.

Folgenreicher noch waren die Ereignisse um „Butscha 2022“, die Berichte über ein unfassbares Kriegsverbrechen, das angeblich von russischen Militärs begangen worden war. Die russischen Streitkräfte waren seit dem 24. Februar 2022 in Richtung Kiew vorgerückt, hatten sich angesichts der Friedensverhandlungen in Istanbul am 30. März 2022 aber zurückgezogen. Anfang April tauchten die erschütternden Bilder von einem Massaker in Butscha auf, 458 Leichen wurden gefunden, die meisten waren erschossen, misshandelt und gefoltert worden, sie waren über die Straßen verteilt, viele gefesselt. Noch bevor irgendwelche Untersuchungsergebnisse vorlagen, wurde behauptet, das sei ein russisches Kriegsverbrechen. Der britische Premier Boris Johnson forderte, die Istanbuler Vereinbarung der Ukraine mit Russland nicht zu unterzeichnen, und machte zahllose Versprechungen zur Unterstützung der ukrainischen Kriegsführung. Westliche Politiker, so auch Bundeskanzler Olaf Scholz, erklärten, „tief erschüttert“ zu sein und beschuldigten Russland. Butscha, etwa 25 Kilometer nordwestlich von Kiew, „wurde zu einer Pilgerstätte der Kriegseiferer“, vorneweg die damalige Außenministerin Annalena Baerbock und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Tatsächlich gab es von vornherein Zweifel an der Version der Kiewer Machthaber, die von westlichen Politikern und Medien ohne genauere Prüfung übernommen wurde. Der Abzug des russischen Militärs war am 30. März 2022 abgeschlossen, aber erst am 1. und 2. April tauchten die ersten Bilder von den Ermordeten auf. Am 31. März hatte der Bürgermeister von Butscha, Anatolij Fjodoruk, in einer Videobotschaft den Rückzug der russischen Truppen bestätigt, ohne von einem Massaker oder Leichen zu berichten. Ukrainische Soldaten und Abgeordnete, die ebenfalls zu dieser Zeit vor Ort waren, hatten ebenfalls keine Leichen gesehen. Später stellte sich heraus, dass viele der Toten weiße Armbinden trugen – das war Erkennungsmerkmal derer, die mit der russischen Armee kooperierten – und durch Schüsse in den Hinterkopf getötet wurden, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Der französische Journalist Adrien Bocquet berichtete, dass er bei einer Fahrt in die Stadt gesehen hatte, wie Leichen von LKW abgeladen und am Straßenrand deponiert wurden. Es handelte sich offensichtlich „bei dem Massenmord in Butscha um eine inszenierte Aktion […], um einen Friedensschluss in Istanbul zu verhindern und den Stellvertreterkrieg der USA gegen Russland unter Beteiligung der NATO-Staaten zu befeuern“.

Bittner ist bemüht, auch die möglichen Veränderungen der US-Politik nach der Wahl von Donald Trump zu erfassen. Zunächst zweifelt er, ob „mit der Präsidentschaft von Donald Trump ein echter Politikwechsel stattgefunden hat“. Zugleich vermerkt er eine „Abkehr von der Kriegspolitik seiner Vorgänger“. Andererseits merkt er an, dass auch Trump „den imperialen Anspruch der USA aufrechterhält“. Aber was hatte er denn von einem US-amerikanischen Präsidenten auch anderes erwartet? Wesentlich ist daher eine andere Konklusion Bittners: „Gleich nach seinem Amtsantritt hat sich Friedrich Merz mit Emmanuel Macron und Keir Starmer zusammengetan, um – so absurd es klingt – die Beendigung des Ukraine-Krieges zu verhindern.“ Hinzugekommen ist der polnische Ministerpräsident Donald Tusk. Diese Viererbande kooperiert mit Trump-Gegnern auch im US-Kongress und in US-amerikanischen Behörden, um Trumps Vorhaben, den Krieg zu beenden, zu verhindern.

Die eigentlichen Kriegstreiber im gewollten Krieg gegen Russland sitzen nicht mehr in Washington, sondern in Berlin und Brüssel. Es gibt offenbar bei einigen Deutschen einen Traum von der „Revanche“ für Stalingrad. Ohne Atomwaffen wird das nicht gehen. Eine solche Perspektive ist jetzt aber bereits jenseits von Bittners Betrachtungen.

 

Wolfgang Bittner: Geopolitik im Überblick. Deutschland-USA-EU-Russland, Hintergrund GmbH,

Berlin 2025, 144 Seiten, 14,80 Euro.