28. Jahrgang | Nummer 17 | 6. Oktober 2025

Hintergründiges zum Ukrainekrieg

von Erhard Crome

Mit ihrem Buch „Der lange Weg zum Krieg“ (siehe Das Blättchen 17/2024) hatten Günter Verheugen und Petra Erler, zwei ausgewiesene Außenpolitik-Experten, begründete Gegenposition zum weithin propagierten Narrativ des vordergründig russisch-ukrainischen Krieges bezogen. „Russland startete unbestreitbar am 24. Februar 2024 einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Doch damit endet die historische Wahrheit nicht“, schrieben sie und klagten zugleich, die hierzulande ausgerufene „Zeitenwende“ habe mit allen Prinzipien gebrochen, „die bisher deutsche Außenpolitik leiteten.“ Die derzeitige Merz-Regierung setzt das voller Eifer fort. Begleitet „von einem falschen Kriegsnarrativ, einem gefährlichen Kriegsziel und einer Propagandawelle, die jeden, der diesen Krieg anhalten wollte, denunziert“.

Den „schnellen Frieden“ habe der Westen im Februar-April 2022 nicht gewollt, Interventionen der USA-Regierung und des britischen Premiers Boris Johnson in Kiew verhinderten ihn. Seither ist die Ukraine Stellvertreterkrieger, ihre Soldaten müssen kämpfen und sterben, ihre Bevölkerung leidet, ihr Land wird verwüstet. Für die USA gehe es mit dem Ukrainekrieg „um die Absicherung ihrer hegemonialen Position. Aus russischer Sicht geht es um die Absicherung der eigenen Existenz.“

Tatsächlich hätten die USA in einem „endlosen Kalten Krieg“ nie aufgehört, „in Russland einen Feind zu sehen“. Hauptgrund für die Feindschaft des Westens sei, dass Russland sich nicht in die US-dominierte Welt einfügen will. Heute fehle, so Verheugen/Erler, „was in der Frühzeit des Kalten Krieges noch üblich war: Man studierte den Gegner genau, sprach dessen Sprache, kannte dessen Kultur und analysierte messerscharf, statt sich in Postulaten zu verlieren.“ Stattdessen heute klischeehafte Russland-Bilder in Schwarz-Weiß. Nachdem Russland in den militärischen Konflikt mit der Ukraine marschierte, war die Verurteilung des Westens und im Rahmen der UNO zwingend. Aber wo andere Staaten nüchtern reagierten, um den Schaden zu begrenzen, reagierte westliche Politik emotional und triumphal, hatte den Bösewicht nun dort, wo man ihn hinhaben wollte, um sein Land zu „ruinieren“.

Der Geschichtsphilosoph Hauke Ritz hat sich mit seinem Buch: „Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas“ nun daran gemacht zu analysieren und nachzuweisen, dass es hier nicht nur um machiavellistische Machtintrigen und geopolitische Projektionen geht, sondern die westliche Kriegspolitik gegenüber Russland einen ideologischen und geistesgeschichtlichen Unterbau hat. Die Ausgangsfrage formuliert er bewusst als „Kinderfrage“: „Warum hasst der Westen Russland so sehr?“ Die Frage müsste eigentlich an Universitäten behandelt werden, wo die Geschichte von Feindbildern erforscht wird. Da sich auch Universitäten an Sprachregelungen halten, wurde sie so einfach zuerst in sozialen Medien gestellt. Es gelte, „die Tür zu den tiefsten Geheimnissen unserer gegenwärtigen Epoche“ zu öffnen.

Die Gegnerschaft zu Russland hat, wie Ritz analysiert, nicht nur den Kalten Krieg, den Vernichtungskrieg der Nazis und den Krim-Krieg des 19. Jahrhunderts strukturiert. Die ersten Zuschreibungen, Russland zu „orientalisieren“ und als asiatische Macht zu beschreiben, stammen bereits aus dem 16. Jahrhundert, noch bevor Russland begonnen hatte, nach Asien auszugreifen. Europa war christlich geprägt und bildete historisch und kulturell eine Einheit. Westeuropa wurde erst zu Beginn der Neuzeit als besonderer Teil Europas erkennbar. Hier bildeten sich die ersten Nationalstaaten, die bereits im 15. Jahrhundert ihren kolonialen Ausgriff auf die übrige Welt eröffneten, um sie weitgehend ihrer Macht zu unterwerfen, beginnend mit Portugal und Spanien, gefolgt von den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich. Diese Staaten hatten typologische Gemeinsamkeiten, standen praktisch jedoch in Konkurrenz und Krieg untereinander.

Der europäischen Kultur wohnte ein spezielles machtpolitisches Potenzial inne. Bereits in der frühen Neuzeit diente die Verbreitung des Christentums als Legitimationsgrundlage für die Errichtung der Kolonien. Später wurden machtpolitische Ziele im Namen der Aufklärung verfolgt. Heute sind es der Schutz von Menschenrechten, die Verbreitung der Demokratie oder der Schutz von Minderheitenrechten, die zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder berechtigen sollen.

Im Zentrum Europas existierte Deutschland, dessen Staatlichkeit jedoch föderale Formen aufwies, im Osten Russland, das eine starke Staatlichkeit ausbildete. Sie alle waren mit je eigenen Charakteristika Bestandteile Europas. Allerdings unterschied sich Russland kulturell in vielem vom Westen Europas. So bezog es sich, was das antike Erbe betraf, eher auf Byzanz als auf Rom. Das Schisma zwischen Orthodoxie und Katholizismus von 1054 prägte das religiöse Verhältnis bis heute, die sozialistische Prägung kam im 20. Jahrhundert hinzu. Insofern sei Russland europäisch, ohne westlich zu sein. „Ziel Russlands war nie die dauerhafte Kontrolle über Europa, sondern vielmehr die Herstellung einer langfristigen, für beide Seiten vorteilhaften Partnerschaft im Rahmen eines Mächtegleichgewichts“, stellt Hauke Ritz fest.

1914 zerfiel nicht nur „die Welt von gestern“ (Stefan Zweig), sondern Ritz zufolge zerbrach auch die kulturelle Einheit Europas. Der Kontinent trat in eine lange Periode des Bürgerkrieges ein. Jeder Abschnitt dieses Bürgerkrieges hat Europa weiter geschwächt, auch in Bezug auf seinen Reichtum und seine Machtpositionen in der weiten Welt. Gleichzeitig dehnte sich nach jedem dieser Abschnitte „der Westen aus und wurde Europa weiter verwestlicht. Mit jeder neuen Phase in diesem Bürgerkrieg begann die einstige Einheit ‚Europa‘ weiter zurückzutreten und wurde schleichend durch eine neue Einheit ersetzt, die Einheit des ‚Westens‘, die im Unterschied zur ersten nicht mehr auf den Kontinent Europa beschränkt war, sondern sein Zentrum sogar in Nordamerika, einem ganz anderen Kontinent, hatte.“

Nach 1989 hätte man beenden können, was 1914 begann, die Epoche des europäischen Bürgerkrieges. Nachdem sich Russland als Rechtsnachfolger der UdSSR „selbst vom Sozialismus verabschiedet hatte, bestand die Möglichkeit, das Land in den Westen zu integrieren“. An entsprechenden Angeboten Russlands hatte es nicht gefehlt, einschließlich des Vorschlags, der NATO beizutreten. Das hätte eine Dreierkonstellation zur Folge gehabt. Das Ende des Kalten Krieges wäre nicht als Sieg einer Seite, sondern als Einigung beider interpretiert worden. In dieser Konstellation hätte auch EU-Europa wirkliche Souveränität erlangt, der einstige Vasallenstatus gegenüber den USA und der Sowjetunion hätte der Vergangenheit angehört.

Ritz verortet die tiefsten Ursachen des Streits der Supermächte im Kalten Krieg darin, dass es letztlich darum ging, welches der beiden Systeme den europäischen Universalismus im besten zu vertreten vermag. Diesen Streit hatte am Ende der Westen gewonnen. Die USA und ihre Verbündeten hatten jedoch nach 1989 keine Lust, ihre Siegerposition zu verlassen und mit Russland über neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu verhandeln. Die USA wiederholten „mit der Osterweiterung der NATO lediglich die Eroberung des einstigen wilden Westens, in den über Generationen hinweg die Siedler vorstießen. So wie sie damals versuchten, eine Grenze ständig nach Westen zu verschieben, so verschoben sie nun die Grenze der NATO beständig nach Osten. Die Russen waren für sie nur Indianer, mit denen man Verträge abschließt, die man später wieder bricht.“

Ritzens Fazit lautet: „Spätestens seitdem die USA mit Unterstützung der EU und Deutschlands 2014 einen Staatsstreich in der ukrainischen Hauptstadt Kiew durchführten, befindet sich der gesamte europäische Kontinent in einem Zustand der hypnotischen Starre. Dass die Ukrainepolitik allem widerspricht, wofür sowohl das Projekt der europäischen Einigung als auch die deutsche Außenpolitik seit 1949 eigentlich gestanden haben, konnte fortan nicht mehr öffentlich artikuliert werden.“ Fast die gesamte politische Klasse reagiere fortan nur noch auf Signalwörter und bewege sich reflexionslos in Richtung Krieg.

Hauke Ritz: Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas. Promedia Verlag, Wien 2025, 264 Seiten, 23 Euro.