28. Jahrgang | Nummer 18 | 20. Oktober 2025

„Wir haben eine Rechnung mit euch offen“
Im Gespräch mit – Wolfgang Engler

von Susanne Lenz

Wolfgang Engler lebt im Kollwitz-Kiez in Berlin-Prenzlauer Berg unterm Dach. Von seinem Balkon hat man eine tolle Aussicht, unter anderem auf den Fernsehturm. Bloß wie lange noch? Womöglich wird das Hochhaus, das am Alexanderplatz gerade gebaut wird, bald den Blick verstellen. Wir nehmen am Küchentisch Platz, in einer Vase stehen ein paar Basilikumstängel.

 

Herr Engler, Sie sollen mal in einem Seminar an der Ernst Busch zu Ihren Studenten gesagt haben, dass man heutzutage als unzivilisiert gilt, wenn man kein Basilikumtöpfchen auf dem Fensterbrett stehen hat. Was meinten Sie denn mit diesem Satz? 

Das hat Thomas Ostermeier mal erzählt. Ich kann mich nicht daran erinnern, aber es wird wohl so gewesen sein. Nur was ich damit gemeint habe? Weiß der Teufel.

 

Ich dachte, Sie sprechen über Ihre Nachbarschaft im Prenzlauer Berg. Wie ist es damit? 

Die Bevölkerung hier hat sich ausgetauscht. Ich weiß nicht, ob wir hier im Haus noch die einzigen Mieter sind, die meisten sind jedenfalls Eigentümer, haben von den Eltern das vorgezogene Erbe bekommen und dann ziehen sie ein. Ich treffe hier kaum Leute, die ich von früher kenne. Wir selbst sind aus unserer Wohnung ums Eck vertrieben worden. Eigenbedarf. Aber das war nur gefakt. Der wollte seine Miete verdoppeln. Nun sind wir hier unters Dach gezogen.

 

Immerhin haben Sie eine Wohnung in derselben Ecke gefunden. 

Ja, wenn man es sich leisten kann. Deshalb ist die Bevölkerung hier auch so homogen. Die neue Mittelschicht.

 

In Ihrem Buch „Stand der Zivilisation“ beschreiben Sie diese neue Mittelschicht als eine, die sich über Distinktionsgewinne abgrenzt. Was genau sind die Hebel? 

Etwa das Quartier, in dem man wohnt, wo man seinen Urlaub verbringt, wo die Kinder zur Schule gehen. Der eigene Status wird gar nicht so penetrant demonstriert, aber man ist halt da und dominiert ein ganzes Viertel. Das hat und hatte wahrscheinlich auch immer mit politischen Optionen zu tun. In unserem Viertel waren bei der letzten Wahl die Grünen die stärkste Partei.

 

Fühlen Sie sich noch wohl? 

Ich fühle mich wohl, weil ich denke, ich bin ein Alteingesessener. Im Grunde bin ich 1957 mit meinen Eltern hierhergezogen. Damals war das ein Arbeiterbezirk, kleine Angestellte, ganz normale Leute. Die anderen sind gekommen, ich war schon immer da. Und ich konnte mir es leisten, hierzubleiben, aber mit einem mulmigen Gefühl.

 

Gab es Distinktion eigentlich auch in der DDR, also, dass man sich bewusst von anderen sozialen Gruppen abgrenzte? Und wie machte man das? 

Über zwei Güter. Das eine war Westgeld. Wer das hatte, war privilegiert, denn er konnte auch im Intershop einkaufen. Das zweite war ein Reisepass. Alles andere konnte man irgendwie kompensieren, aber diese beiden Sachen nicht. Es lief also nicht über Wohlstand, sondern über Privilegierung. Wer nicht rauskonnte, der gehörte nicht dazu.

 

Wozu gehörte man nicht? 

Im Kulturbetrieb war das so. Ich bekam meinen Reisepass Mitte der Achtziger und konnte endlich nach West-Berlin in die Bibliotheken fahren. An der Schauspielhochschule, wo ich im Regieinstitut unterrichtete, konnten die meisten mit ihren Dramaturgen und Ensembles in den Westen. Klar hatten Manfred Wekwerth oder Friedo Solter einen Reisepass. Das Land verlassen zu dürfen, war für mich aber auch eine Möglichkeit, hierzubleiben. Als sich die Lage 1987/88 nach der Luxemburg-Demonstration wieder verschärfte, die Zügel angezogen wurden, man sich von Gorbatschow abgrenzte – mein Gott, das wäre schwierig gewesen. An die Mauer wäre ich nicht gegangen, einen Reiseantrag hätte ich nicht gestellt, denn dann hätte ich meinen Job verloren. Aber für den Fall des Falles hatte ich einen Reisepass, und meine Frau auch.

 

In Ihrem Buch machen Sie das Milieu, von dem Sie im Prenzlauer Berg umgeben sind, zumindest teilweise dafür verantwortlich, dass linke und rechte Parteien so stark geworden sind. 

Wobei ich glaube, dass die doch sehr, sehr unterschiedliche Art, wie Ostdeutsche urteilen, wie sie wählen, sich aus den 90er-Jahren herleitet. Diese Zeit hat so tiefe Wunden gerissen. Erst ging in den 90ern jede vierte, fünfte Wahlstimme an die PDS, dann an die Linke. Ab 2015 haben dann viele von denen, die früher links gewählt haben, relativ weit rechts gewählt. Aber da schwingt immer derselbe Grund mit: Was war das für ein Abräumprozess! Was war das für eine Ignoranz uns gegenüber! Die sind mit uns Schlitten gefahren! Wie haben sie uns stigmatisiert als obrigkeitshörig, diktaturgeschädigt! Abgesehen davon, dass man uns die Lebensgrundlage entzogen hat, hat man auch noch unser Leben in Zweifel gezogen! Und das setzt sich bis heute fort. Die Grünen waren letztlich die Partei, die das schlicht ignoriert hat.

 

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk spricht von einem „Freiheitsschock“ im Osten, den die Menschen bis heute nicht verarbeitet hätten. 

Das Problem ist weniger, dass sie mit der Freiheit nicht zurechtkommen, sondern dass ihnen ihr Leben entzogen wurde. Es gibt im Grunde zwei große Erzählungen über die Erfolgsgeschichte der AfD im Osten. Die eine besagt, der Erfolg erkläre sich zu 99 Prozent aus der DDR, aus der Unfreiheit in der Diktatur. Die andere Erzählung, die mir plausibel erscheint, sieht die Erfolgsgeschichte der AfD durch das bedingt, was in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre passiert ist. Natürlich war die DDR ein kulturell und sozial homogenes Land, es gab wenig Ausländer, wenig Austausch. Und dann gab es Abstoßreaktionen, feindliche Reaktionen, nicht nur in Rostock-Lichtenhagen, sondern auch später. Aber letztlich ist doch entscheidend, dass den Menschen im Osten die Lebensgrundlage abhanden kam, dass sie sich entwertet fühlten. Die Arbeitslosigkeit war wie eine Seuche, die ganze Landstriche plattgemacht hat. Man dachte, was ist das, was passiert mit unserem Leben?

 

War das veränderte Wahlverhalten ab 2015 also auch eine Reaktionen auf die Vielzahl von Flüchtlingen, die damals nach Deutschland gekommen sind? 

Klar. Das zeigt aber auch, dass die halbe Million Linkswähler, die zur AfD überwechselten, vorher nicht wirklich links gedacht haben. Und jetzt sind sie wohl genauso wenig rechtsextrem, sondern sie tragen eine unglaubliche Wut in sich. Wut auf diese geschichtlichen Prozesse, auf das, was aus ihnen geworden ist. Die Linken zu wählen, das war, als würde man Parias wählen, das waren rote Socken, das war der Stalinismus, das war die Nachfolgepartei der SED, hallo! Und die wählt ihr jetzt, jeder Vierte von euch Idioten wählt die Linke! Na klar, wer aus der Diktatur kommt, der kann ja nicht anders.

 

Frank Castorf sagte einem Kollegen kürzlich, die AfD sei die Rache des Ostens. 

Absolut. Ich glaube, dass das Rache-Motiv bis heute eine große Rolle spielt. Aber das ist nicht auf die Ostdeutschen beschränkt. Es hat auch den Brexit mitbedingt. Da dachte die bessergestellte Hälfte der Briten, das wird schon. Natürlich wird man nicht so dumm sein, uns von Europa abzukoppeln. Und die Befürworter des Brexit sind von Haus zu Haus gelaufen, haben die Leute gefragt, wie es ihnen geht, ob sie zufrieden sind mit ihrem Leben? 

Die sind zum ersten Mal gefragt worden. Da haben die gedacht, na hallo, jetzt würgen wir den Etablierten mal richtig eins rein. Und bei der Wahl von Donald Trump ging es gegen das liberale Ostküstenamerika.

 

Sie glauben also nicht an eine Zeitgeistveränderung, sondern dass es um Rache an den Eliten geht, die häufig in den Städten wohnen und lange den Ton angegeben haben? 

Genau. Und das passiert, ohne dass in Deutschland eine besondere Verarmung herrscht oder Leute massenhaft ins Elend stürzen. Es gibt keinen Krieg, keinen Bürgerkrieg. Aber es gibt das Gefühl, dass die anderen die Werte vorgeben, die Maßstäbe setzen, während die eigenen Maßstäbe entwertet werden. Die eine Hälfte der Gesellschaft hat die andere aus dem Blick verloren und geglaubt, die sind nicht wirklich wichtig, die zählen nicht. Das machen wir unter uns aus. Sorry, aber nun gibt es eine politische Repräsentanz, und das ist überall in Europa die neue Rechte, und viele Menschen haben geradezu darauf gewartet, dass der Moment erscheint, in dem sie selber Geschichte machen können. Und sei es auch destruktiv oder disruptiv.

 

Auch wenn sie sich damit selbst schaden? 

Das ist ja das Verrückte. Den Briten hat man gesagt, dass ihnen der Brexit schaden wird. In den USA haben die Demokraten gesagt, wenn ihr Trump wählt, macht ihr die Reichen reicher. Und dem Osten sagt man, wenn ihr AfD wählt, kommen keine Arbeitskräfte zu euch und die Investoren bleiben auch weg. Dann haben die gesagt, leckt uns. Wenn ihr sagt, dass wir unsere ökonomischen Interessen verraten, dann sagen wir, dass wir noch eine Rechnung mit euch offen haben. Und die begleichen wir jetzt. Deswegen bin ich relativ davon überzeugt, dass sich dieser Aufschwung der AfD nicht so schnell korrigieren lassen wird. Denn die Gründe sind ja noch vorhanden.

 

Was müsste passieren? 

Erwogen wird alles Mögliche: Man ignoriert sie, man lässt sie nicht zum Zuge kommen, die kriegen einfach keine Posten. Man verbietet sie. Man kopiert sie, siehe CDU und teilweise auch BSW, übernimmt bestimmte Elemente der Innenpolitik sowie deren Haltung zur Zuwanderung. Und alles macht die AfD nur stärker. Total verrückt. Ich wüsste momentan kein Rezept zu nennen.

 

In Ihrem Buch stellen Sie fest, dass der Wohlstand bröckelt und damit zivile Verhaltensstandards, was Sie etwa an Angriffen auf Staatsdiener, sei es die Polizei, seien es Leute in Bürgerämtern, festmachen, aber auch an Angriffen auf Kulturinstitutionen, auf Migranten. Worin genau besteht der Zusammenhang? 

Es gibt so etwas wie ein zivilisatorisches Kalkül. Damit wir einigermaßen gedeihlich zusammenleben, ist jeder gehalten, sich zurückzunehmen, seine Affekte zu kontrollieren. Das ist die Grundidee des Soziologen Norbert Elias. Davon erwartet man sich natürlich etwas, Respekt möglicherweise, gesellschaftliche Anerkennung. Wenn man aber auf längere Zeit merkt, ich halte mich an die Regeln, ich diszipliniere mich, aber das zahlt sich nicht aus für mich, die anderen machen das Rennen, dann sieht man keinen Sinn mehr darin, sich im Zaum zu halten.

 

Ich muss an eine Begegnung in meiner Neuköllner Nachbarschaft denken. Ein Mann kommt mit einer Mülltüte aus einem Haus und wirft sie an den nächsten Baum. Ich dachte, du wohnst doch hier. Bei Ihnen in Prenzlauer Berg ist aber alles schön sauber. 

Richtig, aber in anderen Quartieren ist diese Selbstbindung nicht in dem Maße ausgeprägt, da gibt es ein Unterschied zwischen Innen und Außen. Auf das Innen passt man auf, aber für das Außen fühlt man sich nicht verantwortlich. In gewisser Weise ist das ein Phänomen von Gesellschaften mit starker sozialer Spannung und Differenzierung. Aber wenn man in andere Teile der Welt schaut, nach China, nach Japan, nach Südkorea, da passiert das nicht. Obwohl es dort Megastädte gibt, im Vergleich zu denen Berlin ein Nest ist. Wenn man durch diese Städte läuft, sieht man keinen Müll. Offenbar ist da eine Art von Zivilisation wirksam, die dafür sorgt, dass man nicht nur an sich denkt.

 

Ohne jetzt ein Klischee bemühen zu wollen, aber in Asien steht das Gemeinwohl stärker im Zentrum. 

Das ist ein interessanter Punkt. Das Eigeninteresse ist dort auch wichtig, aber es ist an das Wohlergehen der anderen gekoppelt ist. Das fängt in der Familie an, in den Bildungseinrichtungen, den Arbeitsverhältnissen, in der Nachbarschaft. Man hält sich zurück, weil man denkt, dann haben wir insgesamt ein schöneres Leben. Deswegen fühlt man sich auch für den öffentlichen, den sozialen Raum verantwortlich. 

Ich habe während der Corona-Krise einen Briefwechsel mit einer ehemaligen Studentin in Seoul geführt. Sie schrieb, natürlich trägt man die Maske ungern, aber man tut es, weil man glaubt, dass das auch für die Gemeinschaft gut ist. In Teilen des globalen Ostens tickt der Zivilisationsprozess anders als bei uns, wo er sehr stark individualistisch orientiert ist.

 

Sie stellen fest, dass das das Bröckeln von Wohlstand und Zivilisation auch dazu führt, dass das Vertrauen in die Demokratie schwindet. Wie genau passiert das? 

Laut Norbert Elias setzen sich zivilisatorische Verhältnisse am leichtesten dort durch, wo die Menschen den Eindruck haben, dass sie gefragt sind, dass sie mitwirken, dass sie eine Rolle spielen, dass das große Ganze für sie zugänglich ist. Und wenn man diesen Eindruck nicht mehr in dem Maße hat, dann schwächt das die Zustimmung und das Engagement für die demokratischen Institutionen.

 

China beweist auch, dass ein Land keine Demokratie sein muss, um ökonomisch erfolgreich zu sein. Von diesem Zusammenhang zwischen ökonomischer Dynamik und Demokratie ist man im Westen lange ausgegangen. 

Von dem Gedanken muss man sich verabschieden. China und auch Indien haben weltpolitische Ambitionen. Ich war mehrmals in China, weil wir da Partnerschaften hatten. In Schanghai und Peking, manchmal mehrere Wochen, und ich habe mit Leuten geredet, die teilweise der Regierung sehr kritisch gegenüberstanden, die aber stolz waren, dass sie endlich eine Rolle spielen in der Welt, dass man sie nicht mehr verachten, nicht mehr geringschätzen kann. Auf die Konkurrenz mit den Brics-Staaten ist der Westen mit seinem Individualismus vielleicht gar nicht so gut vorbereitet.

 

Was mich frappiert hat in Ihrem Buch: Sie stellen die Systemfrage. Halten Sie die Verbindung zwischen zivilem Bürgertum und Kapitalismus nicht für unauflösbar? 

Im Augenblick haben wir keine Alternative. Aber Dinge müssen ja nicht genau so bleiben, wie sie sind. Das System funktioniert momentan nur insofern, als Unternehmen mit ihren Produkten Absatz finden. Dafür muss es hinreichend viele Menschen geben, die gearbeitet haben, um als Konsumenten in Erscheinung treten zu können. Wenn Robotisierung, Automatisierung, KI und andere Systeme die Arbeit immer produktiver machen, braucht man vielleicht nur noch die Hälfte der Arbeitskräfte.

Eigentlich wäre das toll. Nach Marx ist die wirkliche Freiheit, die Freiheit der Selbstbestimmung, das Reich, in dem man seine schöpferischen Kräfte entfaltet. Parallel dazu tritt die Erwerbsarbeit mehr und mehr in den Hintergrund der Lebensführung.

 

Warum haben dann so viele Menschen, die mit voller gesellschaftlicher Anerkennung in den Ruhestand gehen, solche Probleme, ihren Tag zu füllen? 

Das ist die Wucht der Lohnarbeitsgesellschaft. Dass man eigentlich nur ein richtiger Mensch ist, wenn man eine Arbeit leistet und dass man enorme Schwierigkeiten hat, sein Leben auf die Reihe zu kriegen, wenn man auf sich gestellt ist: Wo ist mein Auftrag, wo ist mein Job, wo mein Zusammenhang, die soziale Einbindung? Wo gehöre ich dazu? Wenn man mal ausgestiegen ist, ist es schwierig, diesen sozialen Zusammenhang zu stiften.

 

Zurück zur Systemfrage. 

Wenn aufgrund rasant wachsender Produktivität ein Teil derer, die heute konsumieren, aus dem Prozess herausfallen, also auch kein Einkommen bilden, ist man an dem Punkt, den auch Marx im Blick hatte: Dann bricht das System der Tauschwirtschaft zusammen, weil nicht genügend Konsumenten da sind.

Dann macht man sie eben zu Konsumenten, indem man ihnen Geld gibt. 

Genau. Aber in der Debatte über das Bürgergeld heiß es: Gebt ihnen so wenig wie möglich. Es müsste einen mentalen Wechsel geben, weg von der knallharten Idee, wer nicht arbeitet, soll nicht essen, hin zu der Idee, dass Menschen ein Recht auf Existenz haben, unabhängig davon, ob sie durchgehend, teilweise oder gar nicht arbeiten. Deswegen war ich immer ein Befürworter des Grundeinkommens, denn das bedeutet, du bist ein Mensch, du hast ein Recht auf Existenz, die einigermaßen auskömmlich ist und dich teilhaben lässt am Gemeinwesen. Es wird nicht überschwänglich sein, wer arbeitet, schneidet vielleicht besser ab, aber du fällst nicht heraus, du bleibst Teil von uns. Und jetzt wird allenthalben Kritik am Bürgergeld laut, die SPD schwenkt ja auch darauf ein. Das beunruhigt mich.

 

Der Staat argumentiert mit finanzieller Überforderung. 

Und nimmt gleichzeitig viel Geld auf. Hier mal 500 Milliarden, da mal unbegrenzt. Wobei ich die 500 Milliarden für den Entwicklungsfonds für sinnvoll halte. Deutschland ist enorm zurückgefallen. Straßen, Brücken, Eisenbahnen, Katastrophe! Und Deutschland war mal das modernste Land der Welt. Wir haben fast alles erfunden, S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahnen, überhaupt öffentliche Daseinsvorsorge. 

Jetzt ist vieles in miserablem Zustand. Ich denke, ich lebe in der späten DDR, wo alles auf Verschleiß lief. Da fallen Brücken zusammen. Was soll das denn? Es ist ein totales Déjà-vu mit der Abstiegsgesellschaft DDR. Nicht, was das politische System angeht, aber weil man überall das Gefühl hat, das Land fällt zurück. Ein Freund von mir, der seit 1994 in China lebt, sagt, du sorry, was Digitalisierung angeht oder andere Modernisierungsprozesse, ist Deutschland aus unserem Blick ein Entwicklungsland. Abgehängt. Keine Ahnung, ob wir das noch mal schaffen.

 

Am 3. Oktober jährte sich die Deutsche Einheit. Bedeutet Ihnen dieser Tag etwas? 

So als herausgehobener Tag nicht, aber natürlich war das eine extreme historische und auch persönliche Zäsur. Die meisten waren freudig, erwartungsvoll gestimmt, und kaum einer hätte gedacht, dass Ost und West nach Jahrzehnten mental und politisch noch so weit auseinanderliegen.

Wolfgang Engler wurde 1952 in Dresden geboren, er ist in Ost-Berlin zur Schule gegangen, hat EDV-Facharbeiter gelernt, machte das Abitur an der Volkshochschule, studierte 1973–1978 Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach der Promotion 1980 ging er ans Zentralinstitut für Philosophie und wechselte 1991 an die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. 2005 bis 2013 war er deren Rektor. 

Er schrieb viel beachtete Bücher wie „Die Ostdeutschen. Kunde von einem anderen Land“ (1999, erweitert 2019), „Die Ostdeutschen als Avantgarde“ (2002), „Wer wir sind“ (2018, zusammen mit Jana Hensel), „Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen“ (2021) und „Brüche. Ein ostdeutsches Leben“ (2025).

Sein neues Buch „Stand der Zivilisation“ ist am 2. Oktober bei Matthes & Seitz, Berlin erschienen (156 Seiten, 14,00 Euro).

Berliner Zeitung, 04.10.2025. Übernahme mit freundlicher Zustimmung des Interviewten, der Autorin und des Verlages.