28. Jahrgang | Nummer 11 | 16. Juni 2025

Zementierte Frontlinie

von Jan Opal, Gniezno

Polens politische Szenerie bleibt tief gespalten, die Wahl des Staatspräsidenten am 1. Juni zementierte die Frontlinie zwischen den annähernd gleichstarken Hälften. Das Pendel schlägt immer nur ein wenig nach der einen oder der anderen Seite. Nun hatten die oppositionellen Nationalkonservativen wieder knapp die Nase vorn, der von Jarosław Kaczyński ins Rennen geschickte Kandidat Karol Nawrocki gewann mit 50,9 Prozent der abgegebenen Stimmen gegen 49,1 Prozent für Rafał Trzaskowski von der anderen Hälfte. Nawrocki, der 42-jährige Historiker und eingefleischte Antikommunist, krabbelte die Karriereleiter in dem für die Kaczyński-Richtung so wichtigen Gebiet der Geschichtspolitik hinauf. Zunächst war er ab 2017 Direktor im Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk, ab 2021 der vom Sejm gewählte Direktor des Instituts für Nationale Erinnerung (IPN). Ohne Kaczyńskis Segen wäre er nicht zu diesen Posten gekommen; Nawrocki als Staatsoberhaupt ist demzufolge ganz Kaczyńskis Erfindung.

Der Chef der Nationalkonservativen schickt ein drittes Mal seinen Mann in den Präsidentenpalast. 2005 gelang ihm der Coup mit Zwillingsbruder Lech, 2015 mit Andrzej Duda, nun folgt Nawrocki. Der im politischen Leben bis dahin kaum beachtete Nawrocki wurde um die Jahreswende zum sogenannten Bürgerkandidaten der Nationalkonservativen erkoren, selbst treue Weggefährten Kaczyńskis bezweifelten damals, ob das eine gute Entscheidung sei. Mitunter wurde gemunkelt, diese Wahl sei aus Verlegenheit getroffen worden, galt doch Trzaskowski aus dem Regierungslager weithin als haushoher Favorit.

In der Nawrocki-Kampagne spielte der sogenannte Bürgerkandidat eine große Rolle, der Wahlbürger könne endlich einen parteipolitisch „unabhängigen“ Kandidaten ins Amt wählen, denn die schlechte Alternative sei ja der „Parteisoldat“ Trzaskowski, immerhin stellvertretender Parteivorsitzender der von Ministerpräsident Donald Tusk geführten Bürgerplattform. Leszek Miller, der linksgerichtete Veteran polnischer Politik, rechnete hinterher auch mit einem strategischen Fehler in der Trzaskowski-Kampagne ab, denn man habe den Kaczyński-Braten zu spät gerochen. Sofort nach der Nawrocki-Nominierung hätte der Kandidat des Regierungslagers die Parteimitgliedschaft aufgeben müssen, bereits während der laufenden Kampagne, um Kaczyński den zusätzlichen Wind aus dem Segel zu nehmen. Den brauchte der, um gegen den großen Regierungswind in die richtige Ausgangsposition zu gelangen, was wohl ziemlich gut gelang.

Es war nicht der große und breite nationalkonservative Durchmarsch wie in vergangenen Jahren. Die Entwicklungen nach dem Herbst 2023 – der von einer breiten demokratischen Koalition unter Tusk gewonnenen Parlamentswahl – zeigten deutlich, dass die Kaczyński-Richtung allenfalls mit 30 Prozent Wählerstimmen rechnen konnte. Um das Präsidentenamt zu erobern, brauchte es also weitere gute 20 Prozent Wählerstimmen. Klar war obendrein, dass die Frontlinien hin zur Mitte festgefahren waren, nennenswerte Wählerwanderung zwischen den beiden Hauptlagern war nicht zu erwarten. Es blieb aber der Blick nach ganz rechts, den Kaczyński erstmals strategisch – nicht abschätzig! – ausrichtete. Der Vorteil des Bürgerkandidaten Nawrocki war, nicht als Parteisoldat zu gelten, er konnte sich geschickt spreizen als Vertreter des „patriotischen Polens“, als Vertreter des gesamten rechten Bogens in Polen – der Nationalkonservativen wie der im rechten Sumpf fischenden Nationalisten. Als sichtbarer wurde, dass hier zusammengerechnet eine Mehrheit lockte, gab es kein Zurück mehr, es wurde mit offenen Karten gespielt.

In der ersten Wahlrunde Mitte Mai kam es, wie von Kaczyński abgeschätzt: Selbst blieb man knapp unter der 30-Prozent-Marke, aber rechts von der eigenen Marke standen zusammengerechnet stolze 21 Prozent an Wählerstimmen zu Buche. Jetzt zog Kaczyńskis Trumpf, denn Bürgerkandidat Nawrocki stand tatsächlich nur mit dem einen Bein im nationalkonservativen Feld, das andere war längst dort, wo die nationalistischen Wählerstimmen abgeholt werden mussten. Manche sagen, Kaczyńskis selbst sei ein hohes Risiko eingegangen, denn von politischer Kontrolle Nawrockis – in einem umfassenden Sinne (wie bei Duda!) – könne gar keine Rede sein. Kaczyński wollte indes unbedingt das Präsidentenamt, er zahlte bereitwillig den Preis.

Von 2015 bis 2019 hatte das Kaczyński-Lager alles – die absolute Mehrheit im Sejm und im Senat (dem Oberhaus), dazu Duda im Präsidentenamt, der den nationalkonservativen Gesetzesvorhaben die abschließende Unterschrift nie verweigerte. Von 2019 bis 2023 hatte die demokratische Opposition wenigstens die absolute Mehrheit im Oberhaus, das erschwerte dem Kaczyński-Lager den schnellen Durchlauf. Im Herbst 2023 gab es die schmerzhafte Niederlage bei den Parlamentswahlen, denn Sejm wie Oberhaus waren nun in der Hand des liberal geführten demokratischen Lagers. Dudas Rolle war seither, den ungeliebten Gesetzesentwürfen der Regierungsseite die Unterschrift zu verweigern, also das sogenannte Präsidentenveto einzusetzen, das nur mit Zweidrittelmehrheit im Parlament überstimmt werden kann. Das Regierungslager unter Tusk setzte alles auf die Präsidentenwahl im Frühjahr 2025 – und verlor!

Die nächsten Parlamentswahlen folgen turnusgemäß im Herbst 2027. Jetzt kommen schwere politische Zeiten auf Polen zu. Eine solch vertrackte Machtkonstellation hat das Land seit 1990 noch nie erlebt. Nawrocki hat bereits freimütig erklärt, ein tüchtiger Präsident aller patriotischen Polen gegen das regierende Tusk-Lager sein zu wollen, also gegen die andere Hälfte.