Sommer 1918. Mitte Juli reist Familie Mann – Vater, Mutter und fünf Kinder – in die Sommerfrische. Ihr Ziel ist die Villa Defregger, ein abgeschiedenes Haus auf der Südwestseite des Tegernsees, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in Künstlerkreisen als ein kreativer Kraftort bekannt ist.
Thomas Mann schätzt diesen Ort, denn er braucht Ruhe. Gerade erst hat er die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ abgeschlossen. Mit dem Buch bekannte er sich nicht nur zum herrschenden politischen System, es war zugleich eine Kriegserklärung an seinen Bruder Heinrich, mit dem er sich politisch völlig überworfen hatte. Doch bei einem letzten Blick ins Manuskript kommen ihm Zweifel. Wie wird die Öffentlichkeit sein neues Buch aufnehmen? Sollte er nicht besser auf die Veröffentlichung verzichten? Und als wäre das nicht schon genug an Verdruss, da machen sich die seit einiger Zeit auftretenden Zahnschmerzen wieder bemerkbar, die sich zu einer äußerst schmerzhaften, ihn drei Jahre „quälenden Zahn-Misere“ entwickeln werden.
Von all dem abgesehen: Für die Mann-Kinder sind das Haus, der See und die Umgebung das Paradies. Den ganzen Tag sind sie draußen unterwegs, gehen schwimmen oder angeln. Derweil kümmert sich Katia um die Versorgung der Familie. Zweimal in der Woche fährt sie mit dem Fahrrad in das knapp zehn Kilometer entfernte Gmund, doch die Ausbeute ist, wie in Kriegszeiten nicht anders zu erwarten, meist mager.
Auch in den Ferien und trotz aller trüben Gedanken und gesundheitlichen Probleme hält Thomas Mann an seinem Tagesablauf fest. Am Vormittag wird geschrieben. Er arbeitet an seinem neuen Manuskript, mit dem er im Frühjahr in München begonnen hat. „Herr und Hund. Ein Idyll“ soll das autobiographische Büchlein heißen, das von Bauschan, Thomas Manns vierbeinigem Begleiter, handelt. Bauschan, so benannt nach dem Hofhund in Fritz Reuters Roman „Ut mine Stromtid“, ist der einzige von Manns Hunden, dem er ein literarisches Denkmal errichtet. Was Katia angeht: Von ihr aus brauchte man keinen Hund im Haus. Doch sie sieht ein, wie gut das Tier der Stimmung seines Herrn tut, und so begrüßt sie die Arbeit an der Hundegeschichte, die ihren Mann auf andere Gedanken bringt und die einzig vernünftige Antwort auf den politischen Weltwahnsinn zu sein scheint. Die Arbeit, in seinen Augen „bei aller Anspruchslosigkeit etwas Gewagtes“, geht gut voran. Als die Familie am 9. September 1918 abreist, fehlen nur noch ein Stück des letzten Kapitels und der Schluss. – „Tegernsee lebt noch in mir“, notiert Thomas Mann zwei Tage nach der Rückkehr nach München in seinem Tagebuch. Im Jahr darauf, am 26. November 1919, erscheint „Herr und Hund“ und wird trotz zwiespältiger Reaktionen der Kritik ein Erfolg.
Kerstin Holzer schildert das Leben der Familie Mann in den wenigen Sommerwochen des Jahres 1918 mit einer überraschenden Detailtreue. Zuletzt hervorgetreten mit einer Biografie der Thomas Mann-Tochter Monika (siehe Das Blättchen 25/2022), zeigt sie sich auch in ihrem neuen Buch als intime Kennerin der „amazing family“.
Kerstin Holzer: Thomas Mann macht Ferien. Ein Sommer am See. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 200 Seiten, 22,00 Euro.
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Zwanzig Jahre später. Am 21. Februar 1938 geht Thomas Mann in New York von Bord der „Queen Mary“. Bereits wenige Tage nach seiner Ankunft begibt er sich auf eine mehrwöchige Vortragstour, die ihn von Ost nach West durch das Land führen wird. Sein Thema: „Der zukünftige Sieg der Demokratie“.
Als die Deutschen in diesen Wochen in Österreich einmarschieren, ist für ihn klar, dass er und seine Familie nicht mehr nach Europa ins Schweizer Exil zurückkehren werden. Im Herbst lassen sich die Manns zunächst in Princeton nieder, wo Thomas Mann Gastprofessor an der dortigen Universität wird. Um von seiner Arbeit möglichst wenig abgelenkt zu werden, versucht er das Weltgeschehen so weit als möglich auszublenden. In seinem Tagebuch formuliert er den Vorsatz: „Beschränkung aufs Persönliche und Geistige. Ich brauche Heiterkeit und das Bewußtsein meiner Bevorzugung. Ohnmächtiger Haß darf nicht meine Sache sein.“
Zu den Stationen seiner Vortragsreise gehörte auch Kalifornien. Zahlreiche der aus Deutschland und Österreich emigrierten Künstler hatten sich seit der Machtergreifung der Nazis in Pacific Palisades, im Westen von Los Angeles, angesiedelt. Alfred Döblin und Vicki Baum gehören dazu, ebenso Hanns Eisler und Arnold Schönberg oder auch Max Horkheimer und Lion Feuchtwanger. Zusammen bilden sie eine kleine verschworene Gemeinschaft. Sie leben, so Thomas Mann, in einer Art von „Emigranten-Inzucht“, die von Ansichten und Vorstellungen einer längst abgelaufenen Epoche bestimmt wird. Thomas Mann fühlt sich in diesem „Weimar unter Palmen“ (siehe Das Blättchen 15/2023) , wie es Jahre später genannt werden wird, dennoch schnell zu Hause und sein Wunsch, sich dort anzusiedeln, nimmt mehr und mehr Gestalt an.
Im Juli 1940 beziehen die Manns – sozusagen zur Probe – für ein paar Monate ein Haus im gleichfalls im Westen von L. A. gelegenen Stadtteil Brentwood. Nur wenige Monate darauf, Thomas Mann arbeitet am letzten Band seiner Joseph-Tetralogie, erfolgt schließlich der endgültige Umzug von Princeton an die Westküste und es wird der Entschluss für den Bau eines Hauses gefasst. Am 5. Februar 1942 ist es endlich soweit: Das neue Heim am San Remo Drive 1550 wird bezogen und bis zum Juni 1952 der Hauptwohnsitz der Manns. Für den Architekten Julius Ralph Davidson ist das Haus ein Kompromiss zwischen seinen und den Vorstellungen des Bauherrn, „nostalgic German“, wie er sagt. Als Innenarchitekt wurde Paul Huldschinsky, ein guter Bekannter aus der Münchner Zeit, gewonnen. Eine Gruppe hoher Palmen gibt dem Haus, das Anfang dieses Jahres leicht ein Opfer der Flammen hätte werden können, seinen Namen: „Seven Palms“.
Während seiner Zeit im amerikanischen Exil avancierte Thomas Mann, der am 23. Juni 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, zur führenden Stimme der intellektuellen deutschen Exilgemeinde. Am 22. Februar 1938, einen Tag nach seiner Ankunft in Amerika, hatte er in einem Interview mit der New York Times erklärt: „Wo ich bin, ist Deutschland.“ Nachdem er von einem kalifornischen Abgeordneten vor dem Kongress als „fellow traveller“ des Kommunismus angeklagt wurde, verließ Mann nach 14 Jahren im Juni 1952 die Vereinigten Staaten. Da ihn das Heimweh nach Europa in all der Zeit nicht verlassen hatte, kehrte er freudig in die Alte Welt zurück – doch nicht nach Deutschland, sondern in die Schweiz.
Martin Mittelmeier wirft einen erfrischenden Blick auf diese anderthalb Jahrzehnte im Leben von Thomas Mann. Neben dessen schriftstellerischer Arbeit zeigt er ihn als politischen Menschen, der vor allem mit den 58 Radioansprachen der im Oktober 1940 begonnenen BBC-Sendereihe „Deutsche Hörer!“ die Bevölkerung seines Heimatlandes aufklären wollte. Er selbst meinte dazu: „Ich kann mir nicht helfen: es tut doch wohl, Hitler so recht ins Gesicht hinein einen blödsinnigen Wüterich zu nennen.“
Martin Mittelmeier: Heimweh im Paradies. Thomas Mann in Kalifornien, DuMont Buchverlag, Köln 2025, 192 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: Exil, Familie, Kerstin Holzer, Martin Mittelmeier, Mathias Iven, Thomas Mann