26. Jahrgang | Nummer 15 | 17. Juli 2023

Feuchtwanger und das Judentum

von Mathias Iven

Heute erscheint es uns selbstverständlich, dass sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu allen Fragen der Politik, der Wirtschaft, der Kunst oder zu den tausend Dingen des alltäglichen Lebens äußern. Vor einhundert Jahren war das bei weitem nicht so. Unter der Überschrift „Deutschland und seine Schriftsteller, gesehen vom Westen“ erschien Ende 1927 in den Frankfurter Nachrichten ein Artikel, in dem beklagt wurde, dass man als Autor lediglich „Hersteller eines guten Buches zu sein [habe] und damit Schluss“. Demgegenüber wurde die Forderung erhoben: „Ihn in die lebendige Welt lebendiger einzuordnen wäre von Vorteil für ihn und für die Welt.“ Es war Lion Feuchtwanger, der hier aussprach, was viele aus seiner Zunft dachten. Schließlich hatte er bereits 1908 eine eigene Zeitschrift gegründet, die später mit der von Siegfried Jacobsohn herausgegebenen Schaubühne fusionierte. Doch bis heute steht Feuchtwangers publizistisches Werk im Schatten seiner Romane. Um so verdienstvoller ist es, dass auch diese wenig beachtete Seite jetzt erschlossen wird.

Eine hochaktuelle, soeben im Aufbau Verlag vorgelegte Auswahl von vierundzwanzig Texten, entstanden zwischen 1931 und 1949 und in dieser Form bislang unveröffentlicht, zeigt Feuchtwanger als jemand, der nicht nur sein Verhältnis zum Judentum hinterfragte, sondern sich zudem intensiv mit den Traditionen seiner Vorfahren auseinandersetzte. Das traf im Übrigen auch auf seinen zu Unrecht vergessenen Bruder Ludwig zu, der als Herausgeber der Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung jüdischer Geschichte im weitesten Sinne leistete.

Lion Feuchtwanger sah sich schon früh mit der Frage konfrontiert, ob er ein deutscher oder ein jüdischer Schriftsteller sei. Im April 1933 nahm er dazu wie folgt Stellung: „Ich pflege zu antworten, ich sei nicht das eine noch das andere: ich fühlte mich als internationaler Schriftsteller. Wahrscheinlich seien meine Inhalte mehr jüdisch betont, meine Form mehr deutsch.“ Das hieß im Klartext: „Meine Bücher sind somit gefühlsmäßig jüdisch-national, verstandesmäßig international betont. Daraus wohl erklärt es sich, dass sie von einigen Juden als antisemitisch, hingegen etwa von deutschen Nationalisten als schlaue jüdisch-nationale Tendenzmache wüst beschimpft werden. Ich glaube nicht, dass irgendjemand eine wirkliche, klare Demarkationslinie ziehen kann zwischen dem, was jüdisch ist, und dem, was nicht.“

Es war vor allem das seinem Selbstverständnis entsprechende Kosmopolitische des Judentums, das Feuchtwanger in seinen Artikeln besonders betonte. Die These von der Auserwähltheit verleihe dem jüdischen Glauben zwar einen nationalen Anstrich, dieser jüdische Nationalismus habe jedoch „die Tendenz, nicht sich zu befestigen, sondern sich aufzulösen“. Eingeladen von amerikanischen Rabbinern hielt Feuchtwanger kurz nach seinem Eintreffen in den USA im Oktober 1940 eine Rede, die die Entwicklung seiner Stellung zum Judentum seit 1933 thematisierte. Darin kam er zu dem Schluss: „Mehr und mehr bin ich geneigt, in der Tatsache, dass ich Jude bin, einen Faktor zu sehen, der mein Sein und mein Schicksal bestimmt, aber keineswegs den allein ausschlaggebenden Faktor.“

Doch nicht nur die Frage seiner Herkunft und sein ambivalentes Verhältnis zum Judentum beschäftigten Feuchtwanger. So sprach er Anfang Oktober 1943 an der University of California über das Thema „Die Arbeitsprobleme des Schriftstellers im Exil“. In seinem Vortrag ging er zunächst auf die ökonomischen Schwierigkeiten und den aufreibenden Kampf mit den Nichtigkeiten des Alltags ein, von ihm als die äußeren Kennzeichen des Exils beschrieben. „Viele Schriftsteller“, erklärte er seinen Zuhörern, „sind davon zermürbt worden. Viele zogen den Selbstmord dem tragikomischen Leben im Exil vor.“ Daneben würden die inneren Schwierigkeiten stehen, deren bitterste der Verlust der Muttersprache sei. „Gewiss, man kann lernen, sich in einer fremden Sprache auszudrücken; die letzten Gefühlswerte des fremden Tonfalls lernen kann man nicht.“ Feuchtwangers Fazit: „Das neue Land, in dem wir leben, beeinflusst die Wahl unserer Stoffe, beeinflusst die Form. Die äußere Landschaft des Dichters verändert seine innere.“

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Werfen wir noch kurz einen Blick dorthin, wo Feuchtwanger in diesen Jahren lebte. Aus Frankreich war er 1940 in die USA gekommen. Zunächst lebten er und seine Frau Martha in New York, bevor sie 1941 nach Los Angeles übersiedelten. Mehrmals wechselten sie dort die Wohnungen, bis sie schließlich im Herbst 1943 in Pacific Palisades die 1927/28 von der Miramar Estates Sales Corporation als „Los Angeles Times Demonstration Home“ im spanischen Kolonialstil errichtete „Villa Miramar“ kauften, heute besser bekannt unter dem Namen „Villa Aurora“.

Thomas Blubacher, der unter anderem eindrucksvolle Biographien zu Ruth Landshoff-Yorck und den Geschwistern Eleonora und Francesco von Mendelssohn vorgelegt hat, war Anfang 2002 für drei Monate Stipendiat der „Villa Aurora“. Im Nachgang zu diesem Studienaufenthalt erschien 2011 der reich bebilderte Band „Paradies in schwerer Zeit. Künstler und Denker im Exil in Pacific Palisades“. Jetzt folgt eine mit Blick auf die Geschichte Hollywoods stark erweiterte Fassung dieses Buches, die Kultur- und Geistesgrößen wie Max Horkheimer und Arnold Schönberg, Thomas Mann und Hanns Eisler, Vicki Baum und Alfred Döblin, und, und, und … nachspürt. Eine unbedingt empfehlens- und lohnenswerte Lektüre.

 

Lion Feuchtwanger: Bin ich deutscher oder jüdischer Schriftsteller? Betrachtungen eines Kosmopoliten, Aufbau Verlag, Berlin 2023, 232 Seiten, 26,00 Euro.

Thomas Blubacher: Weimar unter Palmen – Pacific Palisades. Die Erfindung Hollywoods und das Erbe des Exils, Piper Verlag, München 2022, 271 Seiten, 24,00 Euro.