28. Jahrgang | Nummer 11 | 16. Juni 2025

„Es geht um Interessen, nicht um Moral“

von Stephan Wohanka

Es gibt Sätze im politischen Diskurs, die scheinen ehern zu sein; die Überschrift ist ein solcher. Unhinterfragt wird er in die Debatte geworfen und alle – fast alle nicken beifällig. Nach Sebastian Haffner „(haben) solche Sätze eine große Suggestivkraft. Wer sie liest, hat das Gefühl, daß ihm plötzlich ein Licht aufgeht: Das Verworrene wird einfach, das Schwierige leicht. Sie geben dem, der sie willig akzeptiert, ein angenehmes Gefühl von Aufgeklärtheit und Bescheidwissen, und sie erregen außerdem eine gewisse wütende Ungeduld mit denen, die sie nicht akzeptieren, denn als Oberton schwingt in solchen Machtworten immer mit: ´… und alles andere ist Schwindel´“.

Schauen wir uns heute in der Welt um, fallen zunächst drei Staaten auf, die ihre Interessen mit brachialem Einsatz verfolgen, sich dabei teils (verbaler) Aggression und Völkerrechtsbrüche bedienend – Russland, Israel und die USA.

Russland führt einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine, wobei es um weit mehr geht als um Frontverläufe. Es geht um eine historische Auseinandersetzung, um die Frage, wie eine europäische Friedensordnung fürderhin aussehen sollte. Die sollte auch Gegenstand wünschenswerter Friedensverhandlungen sein. Russland war und ist ein Imperium; es unterwarf über lange Zeiträume hinweg andere Völker und erweiterte sein Territorium zu dem riesigen Reich, das es einmal war. Putins Politik wird zu Recht als „neo-imperial“ bezeichnet. Es geht ihm um territoriale Revision, um das Imperium an sich; Geschichte ersetzt Zukunft. Eine wirtschaftlich prosperierende Ukraine, demokratisch und rechtsstaatlich verfasst (von diesem Ideal freilich bisher noch weit entfernt) und dem russischen Einfluss entzogen, wäre geradezu das Gegenmodell zu Putins imperialer Idee. Sein Interesse liegt bislang darin, einen Zustand fundamentaler Unsicherheit aufrechtzuerhalten.

Er sei der einzige, der Israel schützen könne, sagt Benjamin Netanjahu. Schützt er sich nicht vor allem selbst? Gegen den Premierminister läuft ein Prozess wegen Korruption und Amtsmissbrauch; zudem ermittelt der Inlandsgeheimdienst wegen Geheimnisverrats. Mindestens mit der gleichen Verbissenheit wie nach außen kämpft Netanjahu deshalb nach innen – gegen einige der wichtigsten Institutionen des Landes, gegen die Justiz, das Oberste Gericht und seinen Prozess.

Im Lande wird die Debatte über Israels entgrenzte Kriegsführung im Gazastreifen immer härter geführt, eine große Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich einen Geiseldeal und eine Waffenruhe. Benny Gantz, ehemals Minister im Kriegskabinett, schrieb, die Geiselbefreiung sei die dringendste Aufgabe und nicht nur Kriegsziel Israels, sondern auch „unser moralischer (Hervorhebung – St. W.) Imperativ als Land und als Volk“. Auch hier ist die Interessenlage deutlich: Netanjahu will Zeit gewinnen, um sich weiterhin politische Immunität zu sichern. Der Krieg verlängert die Polarisierung zwischen seinen Anhängern – rechtsnationalen, religiöse Gruppen – und liberalen Kräften; ein andauernder Konflikt hilft ersteren, also Netanjahu.

Noch im Wahlkampf verkaufte Trump sich als Isolationist: Er wolle „sich raushalten“, den „Fußabdruck verkleinern“ und innenpolitisch für Ordnung sorgen. Dann machte er genau das Gegenteil dessen und drohte, Grönland und den Panamakanal zu annektieren und Kanada zum 51. Bundesstaat der USA zu machen. Was will er damit erreichen? Man sollte Trump vor allem als Geschäftsmann sehen, seine Präsidentschaft ist ihm Vehikel zu persönlicher Bereicherung. Diesem Zwecke dient auch sein Ansinnen, die USA stärker zu machen in der Auseinandersetzung mit China und sein Eiertanz um den Friedensschluss im Ukrainekrieg.

Trumps „Außenpolitik“ beeinflusst lokale und regionale Konflikte, wie den in Nahost, und untergräbt das Völkerrecht wie auch demokratische Prinzipien. Problematischer als die rein wirtschaftlichen Kosten von Zöllen ist auch Trumps Neigung, Außenwirtschafts- und Sicherheitspolitik zu verknüpfen und Staaten so zu erpressen. Historiker sehen in Trumps Präsidentschaft die „korrupteste in der Geschichte der USA“.

Diese drei Staaten agieren nach außen als Völkerrechtssubjekte, verfolgen also „Interessen“. Und drücken sie ohne jeden moralischen Skrupel durch. Bei näherem Hinschauen zeigt sich jedoch: Was ihre Lenker verantworten respektive auslös(t)en, dient ihrem ureigenen persönlichen Interesse, mal direkter, mal indirekter, und deckt sich nur teilweise mit den Belangen der Bevölkerung dieser Staaten; auch nicht denen der Welt. Alle drei verantworten einen geopolitischen Zeitenbruch, den man in seiner Radikalität kaum für möglich gehalten hätte.

Die täglichen Nachrichten und Bilder vom Ukrainekrieg und von dem in Gaza führen der Welt täglich das Grauen der „Kriegsführung“ vor Augen. Im ersten Falle soll so die Moral der Verteidiger gebrochen werden, im zweiten wird eine ethnische Vertreibung ins Werk gesetzt; einer von Netanjahus Spießgesellen, Bezalel Smotrich, sagt es klar: „Wir erobern, säubern und bleiben in Gaza“.

Dem deutsch-jüdischen Historiker Michael Wolffsohn folgend gibt es „im Krieg keine Verhältnismäßigkeit“. Die Hamas nehme „willentlich und wissentlich das eigene Zivil als Kanonenfutter in Kauf“ und „in dem Moment, wo die Hamas die Waffen niederlegt und die Geiseln freilässt, […] ist auch dieser Krieg beendet“. Kennt Wolffsohn Smotrichs Äußerung nicht; immerhin Mitglied in Netanjahus Kabinett? Angesichts dessen klarer „Botschaft“ ist vielmehr davon auszugehen, dass palästinensische zivile Opfer durchaus ins israelische Kalkül passten; und militärische Operationen, die viele zivile Opfer nach sich ziehen, sind tatsächlich unverhältnismäßig. Die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit sind nicht nur juristisch-technisch, sondern auch ethisch motiviert – sie sollten unnötiges oder übermäßiges Leid verhindern und eine gewisse Ausgewogenheit wahren; genuin moralische Anliegen.

Die „Interessen-Moral-Debatte“ ist nicht an diesen drei Staaten festzumachen; „normale“ Staaten sind in der großen Mehrheit. Sie folgen in der Regel dem so genannten Realismus in der Außenpolitik, was heißt, sie handeln rational, um die Durchsetzung ihrer Interessen und ihre Sicherheit in einer ungeordneten Welt zu maximieren. Was letztere angeht, führt dieses Vorgehen – wie zu beobachten – in ein Sicherheitsdilemma. Denn bemühen sich Staaten, zumindest ein Gleich- wenn nicht Übergewicht an (militärischer) Macht zu behaupten, um potenzielle Aggressoren abzuschrecken, und unternehmen sie zu diesem Zwecke (militärische und politische) Maßnahmen zur Stärkung ihrer eigenen Sicherheit, so wird das von anderen Staaten als Bedrohung wahrgenommen, was schnell zu Eskalationszyklen führt.

Die auf unterschiedlichen Werten, Machtkonstellationen und Abhängigkeiten beruhenden  nationalen Interessen stoßen im globalen Raum logischerweise auf andere nationale Interessen. Soll es dabei nicht beständig zu Interessenkonflikten kommen, die nicht selten zu militärischen Konflikten führen, bedarf es des Interessenausgleichs. Neben der Vermeidung von Konflikten und Kriegen steht die Notwendigkeit im Raum, globale Probleme wie den Klimawandel, Pandemien, Terrorismus, Migration oder Wirtschaftskrisen anzugehen; kein Staat könnte sie allein lösen. Ein funktionierender Interessenausgleich fördert internationale Stabilität, weil er Verlässlichkeit, Vertrauen und Regeln schafft, an denen sich Staaten orientieren können; zum Beispiel durch internationales Recht oder multilaterale Institutionen. Ein fairer Ausgleich verhindert, dass stärkere Länder dauerhaft auf Kosten schwächerer agieren. Er ermöglicht mehr Gerechtigkeit, zum Beispiel bei Handelsabkommen, Umweltpolitik oder der Verteilung von Impfstoffen.

Ohne Interessenausgleiche nähmen globale Missklänge, Konflikte und Machtmissbrauch unkontrollierbar zu. Es ist also ein grandioser Irrtum zu glauben, die „Welt“ könne nur durch Politik – also Interessen – zusammengehalten werden. Nein – nur durch Verträge, Recht und Gesetz bleibt sie beieinander; alles Derivate der Moral. Sie ist das Fundament, von dem aus bei aller (notwendigen) Opportunität (internationale) Politik gestaltet und betrieben werden sollte. Artet Moral in der Politik in Belehrung oder Missionierung aus, ist sie falsch verstanden worden: Ihre Rolle ist die des Normengebers, der Rechtfertigung und des langfristigen Einflussfaktors.

Wer sagt, es ginge (nur) um Interessen, nicht (auch) um Moral, redet politischem Zynismus das Wort. Heute mehr denn je. Wer der Moral absagt, wird bald unter ihrem Mangel leiden.