28. Jahrgang | Nummer 7 | 7. April 2025

Meine Rede im Bundestag

von Stephan Wohanka

Jahrzehntelang wurde ein neu gewählter Bundestag vom jeweils nach Lebensjahren ältesten Abgeordneten – apostrophiert als Alterspräsident – eröffnet. Das wäre bereits nach der vorhergehenden Wahl und auch dieses Mal wieder Alexander Gauland von der AfD gewesen. Man erinnert sich – Vogelschiss-Gauland.* Dass die anderen im Bundestag vertretenen Parteien dies dem Hohen Haus, dem Land und der Öffentlichkeit durch einen Geschäftsordnungstrick – zum Alterspräsidenten wurde mehrheitlich kurzerhand der dem Bundestag am längsten angehörende, also der lediglich dienstälteste Abgeordnete gekürt; das war 2021 Wolfgang Schäuble (CDU) und dieses Mal Gregor Gysi (Linke) – erspart haben, nun ja …

Doch Gysis Bundestagseröffnungsrede am 25. Februar 2025 – nun ja …**

Blättchen-Stammautor Stephan Wohanka jedenfalls hätte folgende Rede gehalten.

 Die Redaktion

* – „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“, sagte Gauland 2018 beim Bundeskongress der AfD-Nachwuchsorganisation Junge Alternative im thüringischen Seebach.

 

** – „Und plötzlich wurde der Rhetorik-Riese ganz klein“ (Nicole Diekmann, t-online); „Der schlimmste Gysi, den ich jemals gehört habe! Schrecklich, schrecklich, schrecklich!“ (Hans-Ulrich Jörges, WELT Nachrichten); „Der Bundestag konstituiert sich und wählt Julia Klöckner zur Präsidentin. Das war erwartbar. Ganz neu hingegen: Gregor Gysi hält eine schlechte Rede.“ (Benedikt Becker, WirtschftsWoche).

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

der 21. Bundestag versammelt sich heute zu seiner konstituierenden Sitzung. Mir fällt die Ehre und die Bürde zu, diesen Bundestag zu eröffnen. Er kam durch die vorgezogenen Wahlen am 23. Februar zustande; hervorgerufen durch das Scheitern der Ampelkoalition. Die Frustration im Lande über diese Regierung war groß; die Wähler waren auf einen politischen Neubeginn – ein großes, häufig gebrauchtes und doch schwer oder kaum einzulösendes Wort – aus. Deshalb so schwer einzulösen, weil bekanntlich schon Karl Marx wusste, dass die Tradition aller toten Generationen wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden lastet.

Nun geht es nicht gleich um Generationen, aber auf heutigen „Gehirnen“, dem ganzen Land, lastet seit geraumer Zeit eine in entscheidenden Teilen verfehlte Politik. Man kann auch von Selbstfesselung sprechen; ich habe das Bild des Gulliver vor mir. Den fesselten bekanntlich die weniger als 15 Zentimeter kurzen Liliputaner. Die geringe Größe widerspiegelt ihre Kleingeistigkeit; das englische Wort small-mindedness bringt es noch besser zum Ausdruck …

Das einzig Erfreuliche dieses Urnengangs war die hohe Beteiligung – sie lag bei 82,5 Prozent und ist so die höchste seit der Wiedervereinigung. Gegenüber der Bundestagswahl 2021 stieg sie um rund sechs Prozentpunkte. Man sollte das als Beleg für ein lebendiges Interesse der Menschen an der Politik sehen.

Dieses Positive korrespondiert jedoch mit einer veritablen Vertrauenskrise in die Politik. Ausdruck dessen sind die Wahlergebnisse: Die Union erreichte mit 28,5  Prozent der Zweitstimmen den ersten Platz und erzielte damit eines ihrer schwächsten Ergebnisse bei Bundestagswahlen überhaupt. Die Zugewinne der AfD und der Linken deuten auf eine Polarisierung sowohl des politischen als auch des geografisch-demografischen Spektrums hin: Die AfD profitierte von der Unzufriedenheit über die Migrationspolitik und wirtschaftliche Unsicherheiten, insbesondere in ländlichen Gebieten. Die Linke konnte vor allem bei jüngeren Wählern in städtischen Regionen punkten. Die SPD – 16,4 Prozent (2021: 25,7 Prozent) – setzt ihren Weg in die Marginalisierung konsequent fort. Auch die Grünen verloren Wähleranteile, und die Liberalen fielen ganz aus dem Bundestag – insgesamt ein sehr klarer Vertrauensverlust.

Aus Sicht vieler Menschen handeln die Exekutiven auf Länder- und Bundesebene oft (zu) intransparent, ja planlos bis chaotisch. Die Parlamente diskutieren derweil am Rande der Aufmerksamkeitsschwelle über Sachverhalte, die den Menschen zweit-, ja drittrangig erscheinen und die es gemessen an den Erfordernissen, den Notwendigkeiten auch häufig sind. In der Folge wenden sich (zu) viele ab: Enttäuscht, entrüstet, verständnislos. Mindestens misstrauisch.

Ein gesundes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen ist durchaus angezeigt; oder wie der US-amerikanische Gründervater Thomas Jefferson es ausdrückt: „Vertrauen ist die Mutter des Despotismus […] es ist die Furcht und nicht das Vertrauen, das Verfassungen schreibt, um diejenigen zu binden, die wir verpflichtet sind, mit der Macht zu betrauen“. Denn es wäre töricht, einfach nur blind darauf zu setzen, dass diejenigen, die wir mit der Macht betrauen, also die Vertreter des Staates, die Politiker stets verantwortungsbewusst mit dem Gewaltmonopol umgehen. Politiker irren und wirren wie andere auch und verfolgen zugleich nicht immer die besten oder selbst nur lautere Absichten. Wähler geben einen Vertrauensvorschuss – ob der eingelöst wird, ist offen. Deshalb gibt es umfangreiche Regelungen zum Verhältnis von Staat und Bürger. Die Grundrechte der Artikel eins bis 19 Grundgesetz zum Beispiel, oder das Verwaltungsrecht mit eigener Gerichtsbarkeit.

In unserem Land herrscht jedoch inzwischen in Teilen ein weit über das „gesunde“ Misstrauen hinausgehendes, die staatliche Ordnung, das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern unterminierendes Misstrauen. Vermeintliche Besserwisser, Querdenker und andere politische Randgestalten locken die Enttäuschten mit einfachen Wahrheiten, Verschwörungsmythen, Falschmeldungen, Lügen und wütenden Forderungen. Doch mit dem Vertrauen ist es offenbar paradoxerweise wie mit der Energie – es verschwindet nicht, es wandert nur in neue, in populistische Kanäle.

Sie, liebe Abgeordnete, ob schon länger Mitglieder des Parlaments oder auch gerade erst gewählt, müssen damit umgehen. Sie bilden in diesem Hohen Hause das breite Spektrum der Politik ab – ob als gute Konservative, Liberale und bekennende Sozialstaatsanhänger, gar Sozialisten. In der Regel stehen Parteien für diese politischen Strömungen (dass die FDP nicht mehr im Bundestag präsent ist, muss im Übrigen nicht das Ende liberalen Denkens sein, im Gegenteil); ich meine aber, dass man auch über Parteibindungen hinaus politisch agieren kann und sollte. Sie sind ja bekanntlich nur ihrem Gewissen verpflichtet. Angesichts der exorbitanten Risiken, Kampfansagen, Unwägbarkeiten, mit denen sich unser Land, seine Werte, Normen und die Wirtschaft beinahe täglich konfrontiert sehen und auf deren Beschreibung im Detail ich hier verzichte, muss es Ihnen, ohne dass Sie Ihre jeweilige politische Grundüberzeugung verraten, möglich sein, Sachverhalten, Verfahren und Gesetzen zuzustimmen, die Gefahren vom Land abwenden und neue, bisher nicht gedachte oder für möglich gehaltene Perspektiven eröffnen. Denn nicht jede Meinung oder Option, die man selbst nicht teilt, muss gleich politisches Teufelszeug sein. Demokratie im besten Sinne ist Zumutung.

Aber auch seitens der Regierenden, der Politiker ist das Misstrauen gegenüber dem „Volk, dem großen Lümmel“, wie Heine es nannte, erheblich. Offenbar bereitet der Gedanke, eine Demokratie dürfe sich nicht nur auf die Wahl von Abgeordneten beschränken, der Gedanke, den Bürgern darüber hinaus das Recht auf Einsprache und Initiative zu gewähren, einigen aus Ihren Reihen doch ziemliche Kopfschmerzen. Desgleichen ist die allseitig beklagte „Regelungswut“ Ausdruck eines tief verwurzelten Misstrauens gegenüber der Eigenverantwortung und dem Urteilsvermögen der Bevölkerung und widerspiegelt die Annahme: ohne staatliche Kontrolle könnten Bürger unvernünftig, fahrlässig oder gar gefährlich handeln. Zugleich entwickelt ein wachsender Verwaltungsapparat unübersehbar ein Eigeninteresse daran, sich durch immer neue Vorschriften selbst zu legitimieren.

Ich sprach eingangs von Selbstfesselung; was kann dagegen hilfreich sein? Da muss ich jetzt nicht das Rad neu erfinden. Ich nehme vielmehr gern Bezug auf eine erst kürzlich vorgestellte Initiative für „Umbauten im Maschinenraum des Staates“. Damit haben unter anderem ehemaligen Kollegen von Ihnen, die heute nicht mehr unmittelbar politisch aktiv sind (Peer Steinbrück/SPD, Thomas de Maizière/CDU), einen regelrecht revolutionären Beitrag zur Lösung der aufgelaufenen Probleme vorgelegt. Diese Initiative schätze ich deshalb so hoch, weil sie an die Wurzeln geht, weil sie für eine „Vertrauens- statt Misstrauenskultur“ im Verhältnis zwischen Staat und Bürgern plädiert. In meinem Verständnis ist das beiderseitig zu verstehen: beide sollten sich gegenseitig weniger misstrauen.

Zentrale Forderung der Initiative ist ein eigenes Ministerium für Digitales und Verwaltung, denn der digitale Staat sei „die Voraussetzung von allem“, heißt es; eine Ansicht, der ich vieles abgewinnen kann. Diese Behörde soll mit einem zentralen eigenen Budget – Geld ist ja nun Gottseidank in ausreichender Menge vorhanden – ausgestattet werden und die Digitalbudgets der anderen Ressorts steuern dürfen. Ziel sei es, den Rückstand bei der Verwaltungsdigitalisierung endlich aufzuholen – so sollte eine Neuordnung der mehr als 10.000 unterschiedlichen Softwarelösungen in Bund, Ländern und Kommunen gelingen. Und sollte darüber zugleich für einen überfälligen Kulturwandel in den Amtsstuben sorgen – eine Kultur, „die Neues möglich macht, die Räume schafft“, wie eine der Autorinnen des Projektes mitteilt. In diesem Ministerium sollte – und das ist nun wirklich bahnbrechend – eine Verwaltungsreform für sämtliche Bundesbehörden erarbeitet werden mit dem Ziel, Querschnittsaufgaben zu bündeln und Tätigkeiten neu zu verteilen

Die Initiative fordert eine Neuordnung der Aufgaben zwischen Bund, Ländern und Kommunen, ein Gesamtkonzept von Bund und Ländern für militärische und zivile Sicherheit, gemeinsame Standards beim Abitur – ein Jahrzehnte alte Forderung – sollten nicht mehr durch Absprachen der Kultusministerkonferenz, sondern durch verbindliche Beschlüsse des Bundesrats geregelt werden … Ich belasse es dabei; viele von ihnen werden die Vorschläge kennen.

Aber auch die Wähler sind gefragt. Demokratie ist keine Bringepflicht der Regierung, die „liefert“ nicht einfach, obwohl das offenbar der Erwartung vieler Menschen zu entspräche. Wer auch immer die neue Regierung führt, muss ehrlich sein, die Größe der Probleme benennen und der Bevölkerung sagen, dass es nicht ohne ihr Mittun geht. Demokratie ist anstrengend und fordernd. Ist sie es nicht, werden wir die Krisen nicht bewältigen.

Letztlich jedoch müssten alle diese Neureglungen bei den Kommunen ankommen, müssen dort Erhebliches zum Positiven wenden – denn die Akzeptanz unserer offenen und demokratischen Gesellschaft hängt maßgeblich davon ab, dass vor Ort, wo die Menschen unmittelbar leben, ihre Alltagsprobleme gelöst werden.

Und es liegt auch an Ihnen, wie weit diese oder andere Reformen Realität werden und unsere Gesellschaft, unseren Staat gründlich zum Guten hin verändern! Vielleicht kann so doch Neubeginn gelingen … ach was, er muss gelingen! Ihnen wünsche ich dazu den entsprechenden Mut, auch Unpopuläres zu wagen und gegen den Strom, auch unter Aufgabe eigener Vorteile und vermeintlicher „Wahrheiten“, zu schwimmen. Und: Reden Sie viel offener über die Probleme; immer wieder. Auch so lässt sich Misstrauen abbauen.

Ihnen alles Gute bei der Wahrnehmung ihres Mandats!