28. Jahrgang | Nummer 6 | 24. März 2025

Nuklearer Nonsens

von Wolfgang Schwarz

Vorbemerkung: Seit Jahrzehnten unterhält die Bundeswehr ein Kontingent an Kampfbombern, um im Kriegsfall US-amerikanische Atombomben zum Einsatz zu bringen. Die Flugzeuge – derzeit in die Jahre gekommene vom Typ Tornado, künftig bereits georderte US-Maschinen vom Typ F-35 – sind auf dem Fliegerhorst der Bundesluftwaffe bei Büchel in der Eifel stationiert, wo auch mutmaßlich bis zu 20 Atombomben lagern. Das Konstrukt gilt als Bestandteil des sogenannten US-Atomschirms (auch als erweiterte Abschreckung apostrophiert) – des Versprechens der USA, die westeuropäischen Verbündeten gegebenenfalls mittels Kernwaffen zu „verteidigen“. (Zum prinzipiellen Gegensatz der Begriffe Kernwaffen und verteidigen siehe Blättchen 3/2024.) Im NATO-Jargon wird das Konstrukt als Nukleare Teilhabe bezeichnet. Wobei Experten sich einig sind, dass damit ein reales Mitspracherecht der deutschen Regierung im Hinblick auf Einsatzzeitpunkt und Zielbestimmung der Waffen nicht verbunden ist. Die Entscheidungsbefugnis liegt einzig und allein beim US-Präsidenten. (Siehe dazu ausführlicher Blättchen 1/2021.)

Die herrschenden Eliten in NATO- und EU-Europa trieb schon vor den US-Präsidentschaftswahlen vom November 2025 die Frage um und tut dies seither erst recht: „Entzieht Trump Europa den Atomschirm?“ (Süddeutsche Zeitung)

*

In der vorangegangenen Ausgabe dieses Magazins war die Rede davon, dass derzeit „Vorstellungen, eine westeuropäische Atomstreitmacht aus der Taufe zu heben […], gerade ihre x-te Renaissance“ erleben. Und die Idee, Deutschland atomar zu bewaffnen, nicht minder, so wäre zu ergänzen.

Am 4. März 2025 titelte das Handelsblatt: „Friedrich Merz will mit Paris und London über eine europäische atomare Abschreckung verhandeln“. Im Interview der Woche des Deutschlandfunks am 9. März ergänzte der vermutlich nächste Bundeskanzler: „Deutschland wird nicht selbst über Atomwaffen verfügen können und dürfen. Es gibt mindestens zwei Verträge, die uns das nicht erlauben. Der letzte ist der 2-plus-4-Vertrag von 1990.“ (Der erste ist der Atomwaffensperrvertrag/NPT von 1968, dem die BRD erst nach mehrjährigem Zögern und diversen ausweichenden Pirouetten beigetreten war, nämlich 1975.) Was die jetzige Klarstellung Merzens anbetrifft, so bleibt allerdings abzuwarten, ob ihr nicht früher oder später ein vergleichbares Schicksal beschieden sein wird wie der Schuldenbremse. Die hatte der Spitzenkandidat der Union im Wahlkampf noch „eisern verteidigt“ (tagesschau), doch kaum war das Wahlergebnis verkündet, fiel sie einer grundlegenden Veränderung der Umstände zum Opfer.

Derweil herrscht in der öffentlichen Debatte kein Mangel an Wortmeldungen diverser Atomwaffen-Experten:

  • Ex-Bundesaußenminister Joschka Fischer beschied der ZEIT auf deren Frage: „Brauchen wir einen gemeinsamen europäischen Atomschirm?“: „Ja. Eindeutig, ja!“ (Während Fischer dabei zumindest einräumte: „Ich bin kein Waffenexperte.“, scheinen dergleichen Selbstrelativierungen bei den nachfolgenden Beiträgern nicht durch.)
  • Rüdiger Lucassen, Ex-Bundeswehroberst und Verteidigungspolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, verkündete per JUNGE FREIHEIT: „Eigene Nuklearstreitkräfte sind […] das logische Ende jedes Gedankens an Selbstbestimmtheit und Freiheit.“ Und: „äußere Sicherheit […] kann letztlich nur durch die […] Bombe garantiert werden“. Auch was bestehende internationale Verträge anbetrifft – klare Kante: „Ein blinder Rechtspositivismus […] kann nicht das Mittel der Wahl sein.“
  • Herfried Münkler, emeritierter Geschichtsprofessor, Humboldt-Universität, und medienmäßig auf vielen Kanälen unterwegs, hatte schon 2023 von einem „gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf“ fabuliert. Aktuell plädiert er laut Deutschlandfunk für „eine gemeinsame atomare Bewaffnung in Europa“, die „umfassender sein [müsse] als die bisherigen britischen und französischen Fähigkeiten“.

Einen Debattenbeitrag ganz eigener Art hat Klaus Bachmann – seines Zeichens Professor für Sozialwissenschaften an der privaten SWPS Universität, Warschau – in der Print-Ausgabe der Berliner Zeitung vom 5. März 2025 abgeliefert, betitelt mit „Sehnsucht nach Atommacht“.

Zur Erinnerung: Bereits 2022, wie damals in diesem Magazin registriert wurde (siehe Ausgabe 13/2022), hatte Bachmann der allgemeinen Wahrnehmung einer zunehmenden atomaren Kriegsgefahr optimistisch entgegengehalten: „Auch ein atomarer Schlagabtausch muss nicht das Ende der Welt bedeuten.“

*

Exkurs: Seit 1987 publiziert das US-amerikanische Bulletin of the Atomic Scientists mit seiner Reihe Nuclear Notebook regelmäßig unabhängige Analysen zu den nuklearen Rüstungsprogrammen, Waffenbeständen und Doktrinen der Atommächte. Recherchiert und geschrieben werden die Ausgaben seit Jahren von einem Team unter Leitung von Hans M. Kristensen, Direktor des Nuclear Information Project bei der Federation of American Scientists, Washington, DC., der als einer der besten Kenner der Materie weltweit gilt.

Die Angaben und Zitate in diesem Exkurs sind im Wesentlichen den jüngsten Notebook-Ausgaben entnommen – für Frankreich mit Stand von 2023 und für Großbritannien mit Stand von 2024.

Frankreich: Sein „Atomwaffenarsenal ist im letzten Jahrzehnt stabil geblieben und umfasst etwa 290 Sprengköpfe“. Die operativen Komponenten sind folgende:

  • 50 Mehrzweckkampfflugzeuge vom Typ Rafale (40 land-, zehn Flugzeugträger-gestützt; Reichweite: 2000 Kilometer) sind mit je einem Marschflugkörper vom Typ ASMPA (Reichweite: 600 Kilometer; Sprengkraft: unter 300 Kilotonnen) ausgerüstet.
  • Vier SSBN ¹ der Triomphant-Klasse. Eins davon ist mit 16 SLBM ² vom Typ M51.1 (Reichweite: über 6000 Kilometer) mit je vier bis sechs und zusammen 80 MIRV-Sprengköpfen ³ (Sprengkraft: 100 Kilotonnen) bewaffnet. Die beiden anderen SSBN befördern je 16 SLBM vom Typ M51.2 (Reichweite: über 9000 Kilometer) mit je vier bis sechs und zusammen 100 MIRV-Sprengköpfen (Sprengkraft: 100 Kilotonnen). Insgesamt hält Frankreich 48 SLBM vor, da sich ein Träger-U-Boot jeweils in Wartung befindet, wozu die Raketen jeweils demontiert werden.

In den 2030er Jahren werden die SSBN der Triomphant-Klasse voraussichtlich das Ende ihrer Einsatzzeit erreichen. Die Entwicklung der Nachfolgeklasse (SNLE-3G) begann 2021. Seit 2024 befindet sich das erste von vier geplanten Schiffen im Bau. Die Indienststellung soll 2025 erfolgen.

Großbritannien: „Das Vereinigte Königreich unterhält ein ‚unabhängiges, glaubwürdiges Mindestmaß an Abschreckung‘ (britisches Verteidigungsministerium 2022) mit einem Bestand von etwa 225 nuklearen Sprengköpfen, von denen bis zu 120 für den Einsatz auf vier ballistischen Raketen-U-Booten (SSBN) der Vanguard-Klasse bereitstehen. Die Bestände werden derzeit aufgestockt.“ (Auf knapp 260 Sprengköpfe, so eine Verlautbarung der britischen Regierung von 2021.) Zur Bewaffnung der SSBN stehen insgesamt 48 Trägerraketen vom Typ Trident II D5 des US-Herstellers Lockheed Martin (Reichweite: mehr als 10.000 Kilometer) zur Verfügung, ausgestattet mit je einem bis acht Gefechtsköpfen à 100 Kilotonnen Sprengkraft.

Ab den frühen 2030er Jahren sollen vier neue SSBN der Dreadnought-Klasse die dann 30 Jahre im Dienst befindlichen Vanguard-U-Boote ablösen.

Über weitere nukleare Einsatzmittel, land-, luft- oder seegestützt, verfügt Großbritannien aktuell nicht.

*

Nun im Detail zum erwähnten Bachmann-Beitrag.

„Was bisher in die öffentliche Debatte durchgedrungen ist“, so teilt der Autor mit, „deutet darauf hin, dass die neue Bundesregierung […] auf dem Gebiet der Bundesrepublik französische und britische [Hervorhebung – W.S.] Atomwaffen stationieren will.“ Eine Quelle gibt Bachmann dafür nicht an. Insofern bleibt die Falschaussage allein an ihm hängen, denn über Atomwaffensysteme, die in Deutschland stationiert werden könnten, verfügt London nicht. Damit führt sich auch Bachmanns anschließender Absatz ad absurdum: „Kann man davon ausgehen, dass […] Keir Starmer [britischer Premierminister – W.S.] nach einem russischen Angriff auf Deutschland einen Atomschlag auf seine Hauptstadt riskiert, indem er einem Gegenschlag mit britischen […] Atomraketen von deutschem Boden aus zustimmt? Solange diese Frage nicht mit einem klaren Ja beantwortet werden kann, ist es ziemlich egal, ob […] britische Atomwaffen in der Bundesrepublik sind oder zu Hause bleiben.“ Nicht nur das: Ob des Fehlens entsprechender Waffensysteme erübrigt sich mit Blick auf London die gesamte Fragestellung.

Und bezüglich Frankreichs? Da weiß Bachmann vom britischen Telegraph: „Frankreich sei dazu bereit, in der Bundesrepublik atomar bestückte Kampfflugzeuge zu stationieren […].“ Die Aussage bezieht sich auf landgestützte Rafale-Kampfflugzeuge, die man etwa nach Büchel, wo besonders gesicherte Bunker zur Lagerung von Kernwaffen vorhanden sind, verlegen könnte, wenn die USA ihre Nukes von dort abzögen. Das wäre dann zwar nicht die klassische Nukleare Teilhabe (ausländische A-Bomben, deutsche Trägersysteme), aber immerhin …

Bliebe die Frage nach einem deutschen Mitspracherecht für den Einsatzfall. Die wirft Bachmann leider gar nicht erst auf. Da aber Friedrich Merz die Nukleare Teilhabe in diesem Kontext als „Thema, über das wir reden müssen“, bezeichnet hat, ist zumindest nicht uninteressant, wovon ein langjährig mit Frankreich vertrauter Beobachter wie Christoph Schiltz, Welt-Korrespondent in Brüssel, überzeugt ist: Es sei „völlig undenkbar, dass ein französischer Präsident die Hoheit über die eigenen Nuklearwaffen teilt – und dies politisch überlebt“. Insofern sei Macrons Angebot, „einen ‚strategischen Dialog‘ über eine mögliche Teilhabe Deutschlands am französischen Nuklearschirm zu führen“ eine – Nebelkerze. Ganz abgesehen davon, wie sich die Sachlage unter Macrons Nachfolgern, möglicherweise unter der Rechtspopulistin Marie Le Pen, entwickeln würde.

Bachmanns eigentlicher Punkt impliziert die Fragestellung gleichwohl: „Die Bundesregierung braucht für eine glaubwürdige atomare Abschreckung nicht nur Atomwaffen im Land, sondern auch die alleinige Verfügungsgewalt über sie.“ Das damit verbundene grundsätzliche Problem sieht Bachmann zwar: Die alleinige Verfügungsgewalt dürfe die Bundesregierung „aber gar nicht anstreben“ – wegen des Atomwaffensperrvertrages.

Das hindert den Autor jedoch nicht daran, ein paar Zeilen weiter dennoch zur Tagesordnung überzugehen: „Einfach nur Atommacht zu werden, ist kein großes Problem, aber auch keine Lösung.“ Denn: „Wer Atomstaat werden und seine Ruhe haben will, muss dafür sorgen, dass er selbst nach einem atomaren Angriff noch imstande ist, atomar zurückzuschlagen.“ Das erfordere den Erwerb einer Zweitschlagskapazität.

Dafür hat Bachmann auch gleich eine Lösung parat: „Der schnellste Weg zur Zweitschlagskapazität läge darin, Frankreich und Großbritannien komplette Waffensysteme (womöglich mitsamt den Besatzungen) abzukaufen.“

Kann man diese Idee ernst nehmen?

Tun wir einfach mal so.

Als ideale Zweitschlagswaffe gelten nukleare Träger-U-Boote, da sie in den Tiefen der Weltmeere als gegen einen überraschenden entwaffnenden Erstschlag weitgehend gefeit gelten. Um jedoch ein SSBN permanent auf See zu halten, bedarf es einer Flottille von vier Schiffen. Im Falle Großbritanniens ist jeweils eines für bis zu drei Monaten Patrouille unterwegs und zwei liegen im Hafen, um die fällige Rotation zu gewährleisten und Mannschaften wie Material nicht über Gebühr zu verschleißen. Das vierte befindet sich jeweils für längere Zeit in Wartung und Reparatur.

Allerdings kommen britische SSBN zum „Abkaufen“ gar nicht infrage, nimmt Bachmann die von ihm unterstrichene überwölbende Zielstellung ernst, „von den USA militärisch unabhängig zu werden“. Denn nicht nur zentrale Antriebskomponenten britischer Atom-U-Boote stammen traditionell aus den USA, sondern vor allem die Trident-Trägerraketen. Letztere müssen selbst zur routinemäßigen Wartung jeweils in die USA verfrachtet werden.

Frankreich verfährt mit seinen vier Schiffen nach einem vergleichbaren Einsatz- und Rotationszyklus. Aber – alles stammt aus französischer Entwicklung und Herstellung, was von jeher auf Unabhängigkeit von Washington angelegt war. Einen Haken hätte die Sache trotzdem: Verkaufte Paris die Flottille, ginge Frankreich seines Status‘ als gleichberechtigter Player im Club der großen Atommächte und damit seiner weltpolitischen Bedeutung verlustig, denn taktische Kernwaffeneinsatzmittel wie die Rafale-Flugzeuge reichen für eine Zulassung nicht aus. Schon der Anflug einer Verkaufsidee dürfte jedem französischen Präsidenten daher politisch das Genick brechen …

*

Überdies wartet Bachmann in seinem Beitrag noch mit folgender Passage auf: „Welches Memorandum, welches Abkommen, welcher völkerrechtliche Vertrag könnten einen Schwellenstaat wie Nordkorea, Israel, den Iran, Indien oder Pakistan […] davon abhalten, ein Atomwaffenarsenal auf- oder auszubauen?“

Mal abgesehen davon, wie man diese Frage im Hinblick auf Memoranden, Abkommen oder völkerrechtliche Verträge beantwortet – atomare Schwellenstaaten sind Nordkorea, Israel, Indien und Pakistan schon längst nicht mehr, teilweise bereits seit Jahrzehnten.

*

Warum die Berliner Zeitung, die zu Recht dafür geschätzt wird, dass „sehr gegensätzlichen Standpunkten breiter Raum gewährt wird“ (so jüngst ein Lob in einem Leserbrief), derartigen nuklearen Nonsens wie den Bachmann’schen publiziert, bleibt ihr Geheimnis. Ein fundierter sicherheitspolitischer Debattenbeitrag war das jedenfalls nicht.

Trotzdem soll nicht unterschlagen werden, dass Autor Bachmann zumindest kein uneingeschränktes Plädoyer für eine künftige Atommacht Deutschland verfasst hat. Er gibt vielmehr zugleich zu bedenken: „Wer als Nachbar einer Atommacht darangeht, sich Atomwaffen zu beschaffen, macht Krieg wahrscheinlicher. Der Nachbar sieht sich dann veranlasst, gegen das Atomprogramm des Atomstaats in spe vorzugehen, und zwar bevor dieser so weit ist und selbst glaubhaft mit einem Atomschlag drohen kann.“

Allerdings ist diese Annahme nicht durch historische Erfahrungen gedeckt. Im Gegenteil: In den Fällen Israel, Indien, Pakistan und Nord-Korea wurde deren atomaren Ambitionen kein wirksamer Riegel vorgeschoben, weil die Interessengegensätze und geopolitischen Egoismen der „amtierenden“ Atommächte (USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien) jeweils zu groß waren. Ähnliches ist beim aktuellen Fall Iran zu beobachten.

 

1 – Ship Submersible Ballistic Nuclear, nukleargetriebenes U-Boot mit ballistischen Raketen.

2 – Submarine-launched ballistic missile, U-Boot-gestützte ballistische Rakete.

3 – Multiple independently targetable reentry vehicle, mehrfach unabhängig voneinander ausrichtbarer Wiedereintrittskörper; ermöglicht es, mit einer einzigen Trägerrakete mehrere Ziele gleichzeitig anzugreifen.