28. Jahrgang | Nummer 5 | 10. März 2025

Der Glaube an die Zufriedenheit

von Detlef Jena

Auf der Krimkonferenz im Februar 1945 unterhielten sich Stalin und Churchill über die Friedensperspektiven nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie waren für einen Augenblick sogar einig, dass nachfolgende Generationen die Lehren aus dem Krieg in ihrer praktischen Politik zwar noch als historische Ikone bewahren, aber bei der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen kaum noch befolgen werden.

Ihre Voraussicht hat sich bestätigt. Seit 1945 hat es weltweit mancherlei reale Zeitenwenden und Kriege gegeben, die neue Prioritäten gesetzt haben. Die jüngste Zeitenwende rief der deutsche Bundeskanzler aus, als Russland 2022 militärisch in die Ukraine eingedrungen war. Kann ein deutscher Kanzler eine globale Zeitenwende ausrufen? Angewendet nur auf Deutschland, wäre der Begriff ebenfalls fehl am Platze.

Die entscheidende deutsche Zeitenwende vollzog sich mit dem von westdeutschen Politikern vorgegebenen Beitritt der DDR zum Grundgesetz der BRD. Seither hat sich in Deutschland eine Entwicklung vollzogen, die die politische Organisation und Stabilität schleichend mehr und mehr infrage stellt und vorerst darin gipfelt, dass in den beigetretenen Bundesländern das politische System, zu dem man sich nach 1989 nicht schnell genug drängeln konnte, angezweifelt wird. Der jüngste Wahlerfolg der Alternative für Deutschland ist dafür ein unübersehbarer Ausdruck. Das hat ursächlich erst in zweiter Linie mit der Migrationspolitik und der Haltung zum Krieg in der Ukraine zu tun. Der Aufstieg der AfD begann vor 2015 und provoziert die grundsätzliche Frage, ob die parlamentarische Demokratie mit ihrem marktgerechten Freiheitsbegriff künftig noch in der Lage ist, die individuellen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, oder ob sich die Bürger an einem bestimmten Punkt wieder eine zentralistische und autoritäre Gewalt wünschen.

Demnächst wird die CDU in Deutschland erneut die Kanzlerschaft übernehmen und sieht sich mit der AfD als stärkster Oppositionspartei konfrontiert. Dabei hatte der designierte Kanzler einst versichert, er traue sich zu, die AfD zu halbieren. Das hat er bislang nicht geschafft, er wird sein Amt also mit einem Handicap antreten. Dafür hat er Angela Merkel schon mal für den Aufstieg der blauen Dragoner verantwortlich gemacht, weil sie so oft von den Alternativlosigkeiten in der deutschen Politik gesprochen habe. Die AfD mag innerparteiliche faule Spielchen in der CDU sehr gern.

Am Tag nach der jüngsten Bundestagswahl haben Parteien und Medien wie schon so oft erstaunt nach den Ursachen für den Aufstieg der AfD geforscht. Was da verbreitet wurde, lässt wahlweise den Atem stocken oder ruft ein breites Grinsen hervor.

Die in das politische, marktkompatible System der in Bonn geformten parlamentarischen Demokratie eingemummelten öffentlich-rechtlichen Medien kennen offenbar nur eine Art der politischen Analyse. Sie bevorzugen die aus Umfragen gebastelte tiefschürfende Statistik mit der Rangliste der beliebtesten Politiker im Zentrum. Sie lieben Grafiken zur parlamentarischen Sitzverteilung und zu Wählerwanderungen. Munter werden allerlei Zahlenkolonnen hin und her geschoben. Brave Politikwissenschaftler erklären dazu mit feierlicher Expertenmiene, was sich der Wähler auch selber denken kann. Die Darstellung politischen Handelns unterscheidet sich nicht von der Praxis der Werbemanager in der Warenwirtschaft, die zum Konsum immer neuer Produkte aufwiegeln. So wollen die Parteien der selbsternannten „bürgerlichen Mitte“ den Höhenflug der AfD stoppen. „Na ja“, hätte Klaus Bölling, einstiger profilierter Pressesprecher der Bundesrepublik, mehrfach laut und deutlich eingewandt. Wohl wissend, dass innere Stabilität die entscheidende Voraussetzung jeglicher Außenwirkung des Staates ist.

Erinnern wir uns! Am Ende des Ersten Weltkriegs zerbrachen die großen Monarchien Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn. Das politische System, das Europa seit dem Wiener Kongress 1815 mehr oder weniger verbunden hatte, gehörte der Geschichte an, nicht jedoch die in den Monarchien gezüchtete nationalistische Eigenliebe, die das Bürgertum dankbar übernahm und durch neue kapitalträchtige Inhalte und Formen erweiterte. Es entstanden zahlreiche unabhängige Nationalstaaten, die mit bürgerlich-demokratischen Herrschaftsmethoden noch nichts anfangen konnten. Sie griffen zu autoritären oder gar diktatorischen Herrschaftsmethoden, die keinerlei Solidarität füreinander kannten. Bis in die kleinsten Staaten überwucherte der Nationalismus Europa. Selbst in traditionellen Demokratien nistete er sich ein. Das Netz internationaler Verträge, Bündnisse und Garantieversprechen im Lichte des Völkerbunds verhinderte aggressive Bestrebungen nicht, die – verursacht durch das nationalsozialistische Deutschland – in den Zweiten Weltkrieg mündeten. Wie unterschiedlich die Menschen auch dachten und handelten, die Allgegenwart der Hydra des Nationalismus, rot, schwarz oder braun, verschlang Millionen Menschen.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Karten im großen Spiel der Politik neu gemischt. Stalin und Churchill wussten bei ihrem vertrauten Gespräch in Jalta sehr genau, dass sie hinter dem Rücken bereits neue Lunten auslegten. Unter der Atom-Drohung spalteten sich Europa und ein Teil der Welt in zwei erbittert rivalisierende Blöcke, die lediglich die beiderseitige Angst vor totaler Vernichtung davor zurückschrecken ließ, übereinander herzufallen. Das machtpolitische Merkmal bestand darin, dass die Welt nunmehr kraft der US-amerikanischen und der sowjetischen Dominanz teils demokratisch, teils diktatorisch regiert wurde. Das belauernde Überbieten in der Hochrüstung währte bis 1989.

Das sowjetische Imperium verschwand und die abhängigen Länder konnten sich erstmals in ihrer Geschichte frei für Demokratie und Marktwirtschaft entscheiden. Doch das Streben zum Markt führte zu neuen finanzpolitischen Abhängigkeiten. Mit der sowjetischen Herrschaft endete keinesfalls der bis dahin unterdrückte regionale Nationalismus. Neue Unterwerfungen unter das Kapital stachelte den Unmut der Bevölkerung an, nachdem das Begrüßungsgeld verbraucht war.

Viele glaubten damals auch in Deutschland, nun bräche der Frieden für viele Generationen an. Doch die Chancen, aus dem traditionellen und permanenten Teufelskreis west-östlicher Konflikte auszubrechen, wurden in West und Ost sträflich verspielt. Keine marktorientierte und keine autokratische Macht trat aus ihrem historisch gewachsenen Schatten heraus.

Es dauerte nicht lange und trotz aller offiziellen Bekenntnisse zu Einheit und Freiheit traten Kräfte, die dem Zentralismus oder gar einem diktatorischen Regime anhängen, wieder hervor. Sie präjudizieren neue Formen des politischen Kampfes innerhalb demokratischer Strukturen. Erneut gewinnt der Nationalismus in Europa an Stärke, weil die das Weltklima beherrschenden Mächte nach der Zeitenwende von 1989 mit ihrem Beispiel vorangehen. Geopolitischer Egoismus ist militanter Nationalismus und seine Forderungen sind in der Weltgeschichte noch nie ohne Kriege erfüllt worden.

Deutschland steht mitten in dem gefährlichen Spiel. So erklärt sich des Kanzlers Zeitenwende-Phantom, das in das Mantra mündet: Deutschland muss wieder eine politische und militärische Führungsrolle in Europa und der Welt spielen! Wie 1914 oder 1939? Nein – als freiheitlicher und demokratischer Staat! Der Russe steht ja vor den Toren! Das große Paradox besteht gegenwärtig darin, dass die Partei, die das obwaltende demokratische System am schärfsten bekämpft und selbst nach der Macht strebt, schärfster Kritiker der antirussischen Aufrüstung im Rahmen von EU und NATO ist. Das bringt ihr Sympathie im Volke ein, besonders zwischen Rügen und Erzgebirge und gerade dort, weil sie sich hier die gravierenden Fehler bei der Vereinigungspolitik zu Nutze machen kann. Das ist Deutschlands Gordischer Knoten: Die einstmals so geliebten Brüder und Schwestern jenseits des Eisernen Vorhangs sind nur noch lästige Querulanten unter der rosigen Wolke einer friedlichen Revolution, denen damals das Blaue vom Himmel versprochen wurde. Nun ist das Blaue da und es ist auch wieder nicht recht.