28. Jahrgang | Nummer 3 | 10. Februar 2025

Selbstkritik üben – muss das sein?

von Dieter Segert

Am 20. Oktober letzten Jahres starb Peter Ruben, ein schöpferischer marxistischer Philosoph und Gesellschaftstheoretiker. Das Blättchen erinnerte an ihn im Heft 23/2024. Seine Thesen waren Gegenstand einer Auseinandersetzung in der DDR-Philosophie in den Jahren 1980/81, die zu faktischen Berufsverboten für eine Gruppe mit ihm verbundener Personen an der Akademie der Wissenschaften führten. Die sogenannte Ruben-Affäre zog ihre Kreise auch in anderen philosophischen Instituten der DDR, etwa in dem an der Humboldt-Universität, wo ich als junger Assistent arbeitete, nachdem ich 1978 von einer Aspirantur an der Moskauer Lomonossow Universität zurückgekehrt war. Die Sinnlosigkeit der Abwehr von Rubens These von der Praxis als marxistischer Zentralkategorie durch das immerwährende Mantra der zentralen Bedeutung der „Grundfrage der Philosophie“ seitens der Dogmatiker an meiner Einrichtung ließ mich damals am Sinn philosophischer Arbeit zweifeln und bestärkte mich in meinem Entschluss, besser gesellschaftsanalytisch tätig zu werden.

Warum komme ich, über vierzig Jahre danach, auf diese Angelegenheit zurück? Das scheint mir sinnvoll zu sein, weil sie in unseren Köpfen noch virulent ist.

Zum einen lieferten sich die Anhänger der einen wie der anderen Seite des damaligen Konflikts noch später, nach 1989, einen Schlagabtausch. Herbert Hörz, in der DDR während der Auseinandersetzung mit Rubens Positionen auf der Seite der marxistisch-leninistischen Dogmatiker – aus welchen Gründen, ob theoretischen oder machtpolitischen sei dahingestellt – verteidigte seine damalige Frontstellung in seiner Autobiografie, die er 2005 veröffentlichte, in welcher er Ruben und seine Gruppe als die „wahren Leninisten“ denunzierte. Das rief erneut eine Erwiderung Peter Rubens in der Zeitschrift Berliner Debatte Initial (in der Nummer 1-2 des Jahrgangs 2006) hervor. Ruben legte dabei auch die theoretischen Gründe der Hörz‘schen Angriffe auf sich dar und verfasste eine Gegendarstellung zu dessen Narration über die Auseinandersetzungen am Zentralinstitut für Philosophie nach 1990, als Ruben dessen gewählter Direktor war.

Für die Geschichte der DDR-Philosophie ist das eine relevante Auseinandersetzung. Aber ist sie darüber hinaus relevant? Für wen und aus welchen Gründen könnte eine selbstkritische Position der damaligen Gegner Rubens heute noch wichtig sein?

Ich kenne zumindest drei Gründe: Zum einen wäre sie das für eine bessere Einsicht in das Verhältnis von politischer Macht und Gesellschaftswissenschaftlern in der DDR. Es geht dabei um die Frage, welche Verantwortung die damaligen Angehörigen der akademischen Elite für das Funktionieren jener spezifischen Diktatur hatten. Zum zweiten wäre eine selbstkritische Haltung der damaligen Protagonisten der Hörz’schen Position, die sich heute noch in der Leibniz Sozietät engagieren, wichtig für das Selbstverständnis dieser Einrichtung. Die Gründergeneration der Leibniz Sozietät hat das Verdienst, den Demütigungen von DDR-Wissenschaftlern durch die „Abwicklung“ der Akademie der Wissenschaften der DDR im Prozess der deutschen Vereinigung ein Zeichen des eigenen Selbstbewusstseins entgegengesetzt zu haben. Sie hat allerdings versäumt, sich mit den wissenschaftsfeindlichen Aktionen von eigenen Mitgliedern, wie denen des Ausschlusses einer Gruppe von Wissenschaftlern aus dem wissenschaftlichen Leben im Ergebnis der Ruben-Affäre, selbstkritisch auseinanderzusetzen. Und, drittens, eine Auseinandersetzung in der Redaktion der von Peter Ruben und anderen Wissenschaftlern nach 1989 gegründeten Zeitschrift Berliner Debatte Initial im Jahr 2022, in deren Gefolge zwei der Gründungsmitglieder der Zeitschrift unter Protest ausgeschieden sind, zeugt von den weiterwirkenden Verletzungen dieser bisher versäumten Aufarbeitung.

Es gibt also Gründe dafür, eine selbstkritische Reflexion des Verhaltens von Wissenschaftlern im letzten DDR-Jahrzehnt für sinnvoll anzusehen. Ich selbst habe eine solche Selbstkritik dahingehend versucht, dass ich nach 1990 verschiedentlich über die Rolle der akademischen Intelligenz im System der politischen Macht geschrieben habe. Einer Schicht, der ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter und ab 1986 als Hochschullehrer an der Sektion marxistisch-leninistische Philosophie der Humboldt-Universität auch angehörte. Mein wissenschaftlicher Begriff für die stabilisierende Funktion der Gesellschaftswissenschaftler in jener spezifischen Diktatur ist der einer „Dienstklasse“. Diese erfüllt ihre Aufgabe als Vermittlungsglied im Machtverhältnis zwischen Führungsgruppe der SED und größtenteils loyaler Bevölkerung.

Wenn man die Disziplinierungsmaßnahmen gegen Peter Ruben und seine Verbündeten in dieses Schema einer funktionierenden DDR-Staatsmacht einordnet, so fallen sie in den Bereich der Wechselbeziehungen zwischen Führung und „intellektueller Dienstklasse“. Die „Dienstklasse“ erfüllte ihre Vermittlungsaufgabe auf verschiedenen Gebieten, sowohl im eigentlichen Gewaltapparat als auch in den „ideologischen Staatsapparaten“ (Althusser) wie Schulen, Universitäten und Hochschulen, Literatur- und Kunstbetrieb. Dabei geht es nicht allein um eine individuell bewusst wahrgenommene Aufgabenerfüllung, sondern auch um eine unbewusste Realisierung der instrumentellen Mitwirkung an der Herrschaft. Aber es war immer auch eine solche vermittelnde Tätigkeit, in der Impulse, Forderungen, Hoffnungen aus der Bevölkerung aufgenommen und an die Führung weitergegeben wurde. In diesem Sinne geschah durch die Tätigkeit der „Dienstklasse“ sowohl eine Befestigung der Herrschaft der Staatsparteien über die Gesellschaften Osteuropas als auch deren Zivilisierung und Liberalisierung. Der Begriff der Zivilisierung meint: Die herrschende Politik wurde auf diesem Wege auch angepasst an sich verändernde Bedürfnisse.

Soweit meine Position zu ersten Frage. Mit der zweiten und dritten Frage müssen sich diejenigen Institutionen befassen, die ich oben erwähnt habe, die Leitung der Leibniz Sozietät, der ich angehöre, und die Redaktion der Zeitschrift Berliner Debatte Initial.

Auch hier gilt, die Selbstkritik, die einige noch aus den Parteiverfahren innerhalb der SED kennen, ist nicht nur ein überholtes Konzept einer stalinistischen Partei zur inneren Disziplinierung ihrer Mitglieder. Sie hat auch eine Funktion in der Suche nach einer Antwort auf die große Frage: Was ist unsere Verantwortung als Sozial- und Geisteswissenschaftler in modernen Gesellschaften? Wie müssen wir unsere Arbeit gestalten, dass wir dieser unserer politischen Verantwortung gerecht werden?