Am 20. Oktober 2024 starb der Berliner Philosoph Peter Ruben. Er war nicht nur „Mathematiker und Marxist“ sowie „Wissenschaftsphilosoph“, wie es in Nachrufen hieß, sondern hatte sich vor allem nach 1990 auch mit zentralen gesellschaftstheoretischen Fragen beschäftigt. Insbesondere solchen, die für das Verständnis des realexistent gewesenen Sozialismus und seines Endes zentral sind.
Geboren wurde Peter Ruben am 1. Dezember 1933 in Berlin. Nach Vorwürfen, in „staatsfeindliche“ Aktivitäten verstrickt gewesen zu sein, musste er 1958 sein Philosophie-Studium unterbrechen, schloss es aber nach „Bewährung in der Produktion“ 1963 ab. Es folgten 1969 Promotion und 1976 Habilitation. Sein Interesse galt zunächst dem Verhältnis der Philosophie zu theoretischer Physik und Mathematik. Er sah die Dialektik als Methode der Philosophie, die Analytik als die der Fachwissenschaft. Die materialistische Philosophie entwickelte Ruben von der Kategorie der Arbeit her. Seit den 1970er Jahren befasste er sich mit wirtschaftstheoretischen Fragen, dem Problem der Entwicklung von Wirtschaft und deren Berechnung sowie den „Langen Wellen“ nach Schumpeter und Kondratieff.
Da Rubens Philosophie-Konzept der SED-Staatsideologie nicht in den Kram passte, versuchte man ihn Anfang der 1980er Jahre mit dem Revisionismus-Verdikt aus der Wissenschaft auszuschließen. Nach politischen Interventionen aus dem Westen behielt er jedoch seinen Arbeitsplatz, verbunden allerdings mit einem Verbot von Publikationen und öffentlichem Auftreten. In den Umbruchzeiten am Ende der DDR wurde Ruben zum ersten (und letzten) frei gewählten Direktor des Zentralinstituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften. Seine Bemühungen, das Institut als Forschungsstätte der Philosophie des vereinten Deutschlands zu erhalten, scheiterten an der Borniertheit bundesdeutscher Wissenschaftspolitik. 1990 bis 2010 war Peter Ruben Präsident des maßgeblich von ihm gegründeten Vereins Berliner Debatte Initial. Aber weder der Verein noch die gleichnamige Zeitschrift haben sich nach dem Generationswechsel bemüßigt gesehen, sein Erbe zu pflegen.
Den Realsozialismus charakterisierte Ruben bereits 1990 unter Bezug auf den jungen Marx als „rohen Kommunismus“. Wie solle man eine sozialökonomische Verfassung nennen, die wesentlich nur einen einzigen Produzenten kennt, den Staat, die entscheidend auf dem Ausschluss des Marktes, also des Austauschs, basiert, die mit dem Gebrauch einer reinen Binnenwährung die Außenwirtschaftsbeziehungen dem Staatsmonopol unterwirft? Dieser „rohe Kommunismus“ sei zwar Aufhebung des Privateigentums gewesen, doch Erscheinungsform der Niedertracht des Privateigentums, „das sich als das positive Gemeinwesen setzen will“. Daher war der Realsozialismus nicht „der Sozialismus“ im Sinne von Marx, sondern eine wesentlich im politischen Kampf hergestellte „abstrakte Negation des Kapitalismus“. Die Frage nach dem Sozialismus sei daher mit dem Ende des „realen Sozialismus“ im Osten Europas nicht erledigt, sondern stelle sich auf historisch neue Weise.
Eines der sozialtheoretischen Probleme, die bei Marx und Engels nicht hinreichend ausgearbeitet wurden, ist die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Unter Bezug auf den Soziologen Ferdinand Tönnies hob Ruben hervor, dass „die Gemeinschaft durch die unmittelbare Kooperation in der Erhaltung des physischen Lebens via Produktion realisiert“ ist, „die Gesellschaft aber durch den Austausch, durch den Handel.“ Daher ist Gemeinschaft gleichsam „die naturhistorische Verbindungsweise zwischen Menschen […]. Gesellschaft dagegen ist Produkt des Handelns der Individuen als Personen, vermittelt durch den Kontrakt, den sie schließen. Das Individuum ist Teil der Gemeinschaft und zwar sein letzter unteilbarer Teil […]. Die Gemeinschaft ist gegen ihre Individuen daher auch in der Verteilung, in der Distribution wirklich. Die Gesellschaft wird […] durch den Austausch gebildet“. So ist die Gemeinschaft unerlässliche Bedingung individueller Existenz. Die Gesellschaft dagegen ist die eigentlich historische Erfindung. So stellen Gemeinschaft und Gesellschaft nicht, wie von Geistes- und Sozialwissenschaftlern oft unterstellt, einen konträren Gegensatz dar. Auch ist nicht Gemeinschaft eine niedere Form, weil in ihr etwa die bürgerliche Distinktion der Gesellschaft nicht gelten würde. Es handelt sich um einen unaufhebbaren Dualismus, der jedoch in einem beständigen Spannungsverhältnis steht.
Die Frage, wie nach dem Scheitern des Realsozialismus über Sozialismus und Kommunismus zu reden ist, sei nicht nur eine sozial-theoretische Frage, sondern auch eine programmatische. Der Begriff „kommunistisch“ beschreibt präzise das, was seit 1917 beziehungsweise 1945 bis 1989/91 im Osten Deutschlands und Europas historisch absolviert wurde. Der ursprüngliche Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus ist nicht der, der von Marx kam und später unter Stalin dogmatisiert wurde, nämlich einer von zwei Phasen einer Gesamtentwicklung der Gesellschaft in der Geschichte. Die ursprüngliche Differenz, wie sie Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa allgemein bekannt war, ist – wie Ruben unterstrich – die zwischen zwei unterschiedlichen politischen und Gesellschaftskonzepten: Mit dem Heraufkommen der Industrie war die soziale Frage die nach dem Anteil der Besitzlosen, der Proletarier an der Gesellschaft. Die „kommunistische Antwort“ darauf waren die Enteignung des privaten Produktivvermögens und der Versuch, die Produktion anders zu organisieren, nämlich über eine Zuteilung von Ressourcen, die Verteilung der Arbeiter auf die Produktionszweige, die Kontrolle und Verordnung der Preise. Demzufolge ist Kommunismus die Herstellung einer Gemeinschaftsordnung, die auf dem Prinzip der Abschaffung des persönlichen Produktivvermögens beziehungsweise Eigentums beruht, Sozialismus dagegen eine Gesellschaftsordnung, die die Institutionen der Gesellschaft nicht abzuschaffen, sondern zu nutzen trachtet, um sie den Interessen der Mehrheit, die nicht über großes Kapitaleigentum verfügt, nutzbar zu machen. Soziale Demokratie, demokratische politische Verhältnisse, Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat sind deren moderne Gestalten.
Zum Platz der DDR in der deutschen Geschichte forderte Ruben, allgemeine weltgeschichtliche Bedingungen der Existenz der DDR – vor allem der Sieg der Anti-Hitler-Koalition und die Besetzung Deutschlands durch die vier Mächte und der Kalte Krieg – und die spezifisch deutschen Umstände zu unterscheiden. Die besondere deutsche Natur der Existenzbedingungen der DDR lag darin, „die staatliche Konstituierung einer der Bürgerkriegsparteien in der Revolution von 1918/19 zu sein. Was sich vierzig Jahre, von 1949 bis 1989, in Deutschland in Entgegensetzung gegenüberstand, waren die Parteien der linken Reichstagsmehrheit von 1917 (SPD, Zentrum, Linksliberale) einerseits und die revolutionären Sozialisten andererseits, die in der Revolution die angenommene Alternative – Nationalversammlung oder Rätemacht – im Widerspruch zueinander entscheiden wollten. Die Phrase ‚Rechtsstaat oder Arbeiter-und-Bauern-Macht‘ ist nur eine andere Benennung des von der Revolution gestellten Problems.“ Dass die DDR unter Besatzungsrecht entstand, bedeutet nur eine konkrete geschichtliche Bedingung des Handelns der linken Opposition. Dieses Schicksal teilte sie mit der Bundesrepublik. Es machte also keine Besonderheit der deutschen Politik nach 1945 aus. „Die DDR als spezifisch deutsches Geschehen zu verstehen, heißt, sie als Erbin des deutschen Kommunismus zu denken. Und der ist wahrhaftig ein hausgemachter Geselle, kein in die deutsche Geschichte hineingeschmuggelter ‚Agent einer ausländischen Macht‘.“
Die deutsche Vereinigung wie die Verselbstständigung der vormaligen Sowjetrepubliken oder der Republiken Jugoslawiens zeigten bereits bald: Das in der bundesdeutschen Staatsideologie verbreitete Bild einer „verspäteten“ oder „zu späten“ Nation ist falsch. Der Nations-Bildungsprozess als Moment der Modernisierung hält auch im 21. Jahrhundert an. Peter Ruben hat diese Problematik insbesondere vor dem Hintergrund von Gemeinschaft und Gesellschaft bearbeitet. Ausgangsthese war, „dass die Nation zu jenen menschlichen Bildungen gehört, die wir unter den Begriff der Gemeinschaft subsumieren können. Die Nation ist, wenngleich die entsprechende Wortbildung oft genug verwendet wird, keine Gesellschaft, sondern eine Gemeinschaft. Sie ist das als Verein zur wechselseitigen Unterstützung ihrer Angehörigen ohne Rücksicht auf den individuellen Anteil in der Bildung des Unterstützungsfonds. Sie ist das als die Produzentin einer volks- oder nationalwirtschaftlichen Infrastruktur“.
Seit den politischen und sozialen Kämpfen des 19. und 20. Jahrhunderts wird die Nation mit den Bürger- und Menschenrechten in eins setzt, sie hat die Verfassung zur Voraussetzung. So bleibt, „dass die Nation keine bloße Ethnie ist, eine besondere unter speziellen Naturbedingungen oder unter spezifischen sozialen Umständen handelnde Volksgruppe, mehr oder weniger von den Ereignissen des Weltverkehrs betroffen. Sie ist vielmehr das Ergebnis politischer Konstituierung unter Voraussetzung der Teilnahme am Weltmarkt. Völker werden Nationen, indem ihre Individuen Staatsbürger werden, indem der Citoyen auftritt, der die Konstitution, die Verfassung, zur ideellen Bedingung seines politischen Verhaltens macht. […] In diesem Sinne ist die Bildung einer Nation stets die ideelle Antizipation einer stände- und klassenfreien Gemeinschaft. Und eben darin besteht die Attraktivität und Macht der Idee der Nation.“
Peter Ruben hat einen Schatz sozialtheoretischer Überlegungen und Konzepte hinterlassen, die für weitere Überlegungen einer progressiven Zukunft Grundlagen liefert. Dafür steht die vierbändige Ausgabe seiner Gesammelten philosophischen Schriften zur Verfügung.
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