Nach Beratungen mit europäischen Regierungschefs betonte Kanzler Scholz Anfang Januar: „Die Unverletzlichkeit von Grenzen ist ein Grundprinzip des Völkerrechts”; dies gelte für jedes Land, ob im Osten oder Westen. Damit reagierte er auf Donald Trump, der zum Besuch seines Sohnes auf Grönland wissen ließ, dass es eine „absolute Notwendigkeit“ für die nationale Sicherheit der USA sei, sich die größte Insel der Welt einzuverleiben. Auch Panamas Kanalzone und Kanada sind bekanntlich ins geostrategische Visier Trumps geraten.
Damit unterwandern die Trump’schen USA zum einen das, was für Frieden und Sicherheit in Europa (auch global) über Jahrzehnte galt, nämlich dass Grenzen nicht mit Gewalt verschoben werden dürften, nämlich die Verständigung, dass man sich vor seinem mächtigen Nachbarn nicht fürchten müsse, dass Recht stärker sei als Gewalt. Anders als wir Mitteleuropäer (und namentlich wir Deutschen; Osteuropäer sehen das anders) kann sich Trump eine Welt vorstellen, in der der status quo nicht ewig ist.
Zum anderen bekennen sich Trumps USA nun wieder völlig ungeniert zu ihrer seit Anbeginn ihrer Existenz praktizierten geopolitischen Zügellosigkeit und artikulieren nun wieder territoriale Forderungen und markieren Einflusssphären. Schien es nach Ende der Ost-West-Konfrontation für kurze Zeit, als ob das westlich-liberale Projekt, getragen vom unipolaren Momentum der USA, sich endgültig global verbreiten und durchsetzen würde, so ist heute klar: Westliche Werte und die liberale Ordnung werden weltweit herausgefordert. Und nicht nur das: Die USA selber fordern diese Ordnung heraus!
Die unipolare Weltordnung nach dem Kalten Krieg stützte sich neben der militärischen und wirtschaftlichen Überlegenheit der USA auf die Verbreitung liberaler Werte – zwar nie erreicht, aber als Ideal auch nie infrage gestellt – wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Mit Trump kommt es durch die Aushöhlung nationaler und internationaler Normen und Standards zu einer Beeinträchtigung dieser Prinzipien und einer Legitimierung nationalistischer und autoritärer Politik durch die USA selbst, was Regime gleichen Charakters weltweit stärkt und auch zu Grenzverschiebungen ermuntert, wie etwa die Türkei in Syrien oder Israel im Westjordanland.
Der Fokus liegt auf Isolationismus einer „America First“-Doktrin, die ausschließlich auf nationale Interessen und die Reduktion internationaler Verpflichtungen setzt. Das Land will nicht mehr „globaler Ordnungshüter“ sein und signalisiert anderen Staaten, dass sie sich weniger auf die USA als stabilisierende Kraft verlassen können. Durchaus verständlich – mit der Selbstbeschränkung, die Trump den USA verordnet – befindet er sich im Einklang mit großen Teilen der US-Bevölkerung. Nach der imperialen Überdehnung durch den „Anti-Terror-Krieg“ und angesichts der eigenen sozialpolitischen Probleme käme dem zerrissenem Land durchaus eine Phase der Neuordnung seiner nationalen und außenpolitischen Prioritäten zugute. Offen ist, ob der misanthrope Narzisst Trump, der schon in seiner krisenhaften ersten Amtszeit immer nur auf den besten Deal für sich aus war und Menschenverachtung zum politischen Prinzip machte, dazu in Lage ist und welche dramatischen und vielleicht unumkehrbaren Auswirkungen seine zweite Amtszeit mit sich bringen wird.
Durch die Selbstreduktion der USA konnten und können Mächte wie China, Russland und die EU ihre Positionen stärken: China nutzte die Lücke, um seinen Einfluss in Asien, Afrika und Lateinamerika durch die Belt and Road Initiative und diplomatische Bemühungen auszubauen. Russland festigte seine Position in Regionen wie Syrien – bis zum Machtverlust von Diktator Assad – oder Osteuropa und im Kaukasus; oft in direkter Opposition zu US-Interessen. Die EU übernahm teilweise Führungsrollen bei globalen Themen wie dem Klimaschutz oder der Aufrechterhaltung des Iran-Atomabkommens. Sicherheitspolitisch verharrt die uneinige EU in strategischer Passivität.
Trumps geostrategisches Agieren veranlasste China und Russland, ganz aktuell für „ein UNO-zentriertes internationales System“ zu plädieren. Wenn das „Hauptziel der UN“ darin besteht, „Frieden herzustellen und zu erhalten, die Freundschaft zwischen allen Staaten zu stärken und den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern“ und Putin die russisch-chinesische Kooperation lobt, sie stabilisiere die internationale Politik, entbehrt das nicht einer gewissen Ironie, ja Komik – ist er nicht der, der die UNO-Charta aktuell mit Füssen tritt, der Krieg führt?
Schaut man auf diese Welt(un)ordnung, kann man sich des Eindrucks kaum erwehren – die „gute alte“ Großraumpolitik ist mit Macht zurück! Putin, Xi und nun auch Trump machen Carl Schmitts Großraumdenken wieder aktuell. Er formulierte seine Großraumtheorie vor allem in seiner Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ (1941); der Titel ist zugleich Programm. Ein „echtes Großraumprinzip“ bestand für Schmitt in der „Verbindung von politisch erwachtem Volk, politischer Idee und politisch von dieser Idee beherrschtem, fremde Interventionen ausschließenden Großraum“. Und zwar als Gegenkonzept zum westlich-universellen Völkerrecht.
Großraumdenken gab es in der Geschichte immer; man denke nur an die Breschnew-Doktrin – kein Staat, der mal kommunistisch war, dürfe aus dem Ostblock ausscheren. Oder die Monroe-Doktrin von 1823, die besagte, Europa solle sich nicht in Belange jenseits des Atlantiks einmischen, das regele der Doppelkontinent für sich. Hitler ließ den damaligen US-amerikanischen Präsidenten Roosevelt im April 1939 mit Blick darauf wissen: „Genau die gleiche Doktrin vertreten wir Deutsche nun für Europa, auf alle Fälle aber für den Bereich und die Belange des Großdeutschen Reiches“. Die EU hat es – bisher wenigstens – nie zu einem echten Großraum gebracht.
Schmitt monierte die Weltmacht des kapitalistischen Systems und sprach sich für die Koexistenz unterschiedlicher politischer Systeme aus; der angloamerikanische „Weltkapitalismus“ solle nicht allen sein Wesen aufzwingen. Klingt auch heute sehr aktuell!
In Russland berief sich der Ultranationalist Alexander Dugin schon 1991 auf Schmitt und schrieb, „dass die Trennung und der Zerfall des ‚Großraums‘, der einst UdSSR genannt wurde, der kontinentalen Logik Eurasiens widerspricht“. Die unterschiedlichen Völker dieses Raumes müssten die Möglichkeit haben, „sich an eine Supermacht zu wenden, die in der Lage ist, potenzielle oder tatsächliche Konflikte zu regulieren oder einzudämmen“. Dugin legitimiert dadurch „den Großraum als Rechtfertigung und als Manifest für Russlands Rückkehr zur Größe“. Russland versuchte dann auch, wieder als Großmacht aufzutreten, gestützt auf erhebliche Einnahmen aus Öl- und Gasexporten und bewegt von einem Bedürfnis nach neuer Anerkennung und territorialer Revision.
Ähnliche konzeptionelle Bezugnahmen beobachtet der irische Historiker Brendan Simms in seinem im Oktober 2023 erschienenen Buch auch bezüglich Chinas: „Die Idee des Großraums scheint der VR China geradezu auf den Leib geschneidert“. Der Politologe Jiang Shigong bemüht dann auch Schmitts Theorie zur Rechtfertigung des autoritären Imperiums. Chinas Verhalten zeigt, dass Peking nicht nur geopolitischer Antipode Washingtons ist, sondern die amerikanische Weltordnung in ihren Grundfesten ablehnt und geltende Völkerrechtsprinzipien offen unterläuft. Das Konzept einer „asiatischen Renaissance“ und die Betonung chinesischer Werte in der internationalen Politik können als Versuch gesehen werden, eine kulturelle Hegemonie innerhalb eines asiatischen Großraums zu etablieren. Der chinesische Literaturwissenschaftler Wang Hui zeigt in seiner Geschichte des chinesischen Denkens die Grundlage eines modernen chinesischen Universalismus auf, in dem er ein dem westlichen Universalismus überlegenes Modell globaler Herrschaft sieht. Wang wirbt in der Tradition der Qing-Dynastie (1644–1911) für die Schaffung eines multiethnischen Imperiums, für eine globale Einheit der Staaten unter einem wohlwollenden kulturellen und ökonomischen Hegemonen; das könnte durchaus schmittianisch interpretiert werden.
In den USA wird Schmitts „Großraumdenken“ hauptsächlich in akademischen Kreisen der politischen Theorie und des Völkerrechts diskutiert. Es gibt keine klaren Hinweise darauf, dass dieses Konzept einen signifikanten Einfluss auf die aktuelle geopolitische Debatte in den USA hätte. Der Polit-Rambo Trump kommt auch ohne jedwedes „Theoretisieren“ aus.
Es bleibt eine Schlussfolgerung: Wie zwischen 1947 und 1990 befinden wir uns heute in einem Zustand eines „Kriegerischen Friedens“ (Raymond Aron). Er dürfte von einiger Dauer sein …, leider!
Schlagwörter: Carl Schmitt, China, Donald Trump, Geopolitik, Großraumdenken, Russland, Stephan Wohanka, USA


