28. Jahrgang | Nummer 2 | 27. Januar 2025

„Der polnische Jude Dr. Löwenstein-Opoka“

von Jan Opal, Gniezno

Aus Budapest wurde Ribbentrop am 20. Mai 1944 gemeldet: „Der polnische Jude Dr. Löwenstein-Opoka war in der Placówka Wengry (Platzierung Ungarn) tätig und gleichzeitig der Kopf der im Entstehen begriffenen örtlichen Organisation der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS). Er stand mit der PPS im Generalgouvernement in regem Gedankenaustausch […]. Den Kds Budapest gelang es, die letzte in Budapest eingetroffene und für Löwenstein bestimmte Sendung zu erfassen, die der Kurier bei einer ungarischen Staatsangehörigen hinterließ, weil er von der Festnahme des L. erfahren hatte. In der Postsendung befand sich umfangreiches Nachrichtenmaterial über die angeblichen Zustände in den deutschen Konzentrationslagern im Generalgouvernement. Insbesondere ist auch über die Vorgänge im Lager Auschwitz eingehend berichtet worden. Aus dem Material muss geschlossen werden, dass die PPS über ein gut funktionierendes Nachrichtennetz auf dem in Rede stehenden Gebiet verfügt und in der Lage ist, eine genaue Statistik über die Zahl der Festnahmen, Zu- und Abgänge usw. zu führen. Dem Material ist u. a. eine umfangreiche Liste von Häftlingen beigefügt.“

Unterzeichnet wurde das Schriftstück von Edmund Veesenmayer, SS-Brigadeführer und seit 19. März 1944 „Bevollmächtigter des Großdeutschen Reichs“ in Ungarn, nachdem die Wehrmacht das Land besetzt hatte. Zu den zentralen Aufgaben des deutschen „Bevollmächtigten“ zählte die Deportation der ungarischen Juden nach Auschwitz. So meldete er Mitte Juni 1944 an Ribbentrop, dass seit Amtsantritt bislang rund 340.000 Juden „an das Reich abgeliefert“ worden seien, er rechnete mit der „endgültigen Bereinigung der Judenfrage“ in Ungarn.

Stanisław Löwenstein hatte in Budapest in der sogenannten Placówka „W“ gearbeitet, der Dienststelle „W“ (für Węgry, polnisch Ungarn), die als quasi diplomatische Einrichtung für die polnische Exilregierung in London funktionierte. Horthy-Ungarn hatte trotz des Drängens des deutschen Verbündeten die Dienststelle nicht angetastet, sondern immer erklärt, dass Ungarn schließlich Polen nicht den Krieg erklärt habe. Mit dem Einmarsch der Deutschen am 19. März 1944 änderte sich die Situation in Budapest indes schlagartig. Trotz Warnungen von ungarischer Seite verblieb die Leitung der polnischen Dienststelle in der ungarischen Hauptstadt, wurde aber gleich am ersten Tag des Einmarsches von den Deutschen festgesetzt. Die Untersuchungen zu Stanisław Löwenstein endeten im Mai 1944, er wurde nach Auschwitz deportiert und verlor dort sein Leben. Die Deutschen hatten in ihren Untersuchungen in Budapest herausgefunden, dass die Kontakte ins Generalgouvernement über Kraków liefen. Dort hatte Józef Cyrankiewicz – einer der führenden PPS-Köpfe im Widerstand im okkupierten Polen und später langjähriger Ministerpräsident der Volksrepublik Polen – ein Informationsnetz über die Situation in Auschwitz aufgebaut.

Stanisław Löwenstein war 1890 in Lemberg geboren worden, promovierte später als Historiker, wurde Mitglied der PPS. Der Vater Natan Löwenstein (1859–1929) war ein bekannter Rechtsanwalt, Mitglied im Reichsrat in Wien, 1919 Mitglied im Verfassungsgebenden Sejm in Warschau. Seinen letzten Prozess als Strafverteidiger führte er im Herbst 1925 in Lemberg: Ein junger jüdischer Unternehmer war des Mordanschlags gegen den polnischen Staatspräsidenten angeklagt. Der aufsehenerregende Prozess endete mit einem Freispruch, die Angelegenheit wird in der Literatur auch als polnische Dreyfus-Affäre bezeichnet. Der Großvater Bernard Löwenstein (1821–1889) war von 1863 bis zum Lebensende Rabbiner der Fortschrittlichen Synagoge in Lemberg; er war der ältere Bruder von Lina Löwenstein, der Mutter Rosa Luxemburgs.

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Rosa Luxemburg schrieb im November 1917 aus dem Gefängnis in Breslau im Zusammenhang mit einem anderen Massenverbrechen im 19. Jahrhundert an Sophie Liebknecht: „[…] und ich ballte die Fäuste vor Verzweiflung, nicht nur, dass solches möglich war, sondern dass das alles nicht gerächt, bestraft, vergolten worden ist.“

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Veesenmayer, Ribbentrops erster Mann in Budapest, hatte geprahlt, insgesamt 900.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportieren zu wollen, und Berlin deshalb vorgeschlagen, die tägliche Transportleistung zu verdoppeln. Die Deutschen erreichten von März bis Juli 1944 tatsächlich die schwindelerregende Zahl von einer halben Million Menschen, die mit Zügen nach Auschwitz verbracht worden waren, statistisch gerechnet jeden einzelnen Tag also 5000 Personen. Veesenmayer stellte sich im Mai 1945 bei Salzburg den amerikanischen Truppen, kam in Gefangenschaft, stand in Nürnberg im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess gegen führende Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes vor Gericht, wurde 1949 zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt, aber bereits 1951 auf freien Fuß gesetzt. Ganze sechseinhalb Jahre Freiheitsentzug für einen hohen Entscheidungsträger, der – um alle Umstände wissend – eine halbe Million Menschen nach Auschwitz in den Tod geschickt hatte. Veesenmayer starb im Dezember 1977 in Darmstadt.

Das Dokument über Stanisław Löwenstein befindet sich im Arolsen Archiv (Verfolgungsmaßnahmen Ungarn), hier zitiert nach: Rosa Luxemburg: Spurensuche. Dokumente und Zeugnisse einer jüdischen Familie. Herausgegeben von Krzysztof Pilawski und Holger Politt, Hamburg 2020. Dem Buch wurden auch die weiteren Angaben zu den Löwensteins entnommen.