27. Jahrgang | Nummer 26 | 16. Dezember 2024

China – Das Reich, das wieder in die Mitte der Welt rückt

von Dieter Segert

Kein Land hat sich in den letzten 100 Jahren so schnell von der Peripherie ins Zentrum der Welt bewegt wie China seit dem Beginn der Reformen Deng Xiaopings Ende 1978. Knapp 50 Jahre später hat das Land bereits einen weiteren Wendepunkt durchschritten. 2012 bezeichnete Xi Jinping den Wiederaufstieg seines Landes als Verwirklichung des „chinesischen Traums“. 2022, auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei gerade zum dritten Mal an die Spitze der Partei gewählt, erklärte er, China sehe sich von Feinden umzingelt.

Mit dieser Einschätzung, so die Wiener Sinologieprofessorin Susanne Weigelin-Schwiedrzig in ihrem Buch „China und die Neuordnung der Welt“, sollte legitimiert werden, dass die Macht zur Entscheidung über die Entwicklungsrichtung des Landes in den Händen des Generalsekretärs der KP und Präsidenten Chinas konzentriert und die politische Kontrolle der Gesellschaft durch den Staat verstärkt wurde. „China bereitet sich auf einen Krieg vor“, schreibt die Sinologin, allerdings nicht in dem Sinne, dass das Land aktiv ein militärisches Abenteuer sucht, sondern dass der weitere friedliche Aufstieg des Landes vom Westen, besonders der alten Hegemonialmacht USA, blockiert wird und ein Krieg um Taiwan droht.

Die erste Hälfte des Buches beschäftigt sich, ausgehend von einer Position des „Realismus“, einer wichtigen Schule der Politikwissenschaft, mit dem Verhältnis Chinas zum Krieg in der Ukraine und dem Dreiecksverhältnis von China, den USA und Russland. Die Vertreter des „Realismus“ gehen davon aus, dass Staaten jeweils ihre eigenen Interessen verfolgen und nur in diesem Rahmen, nicht unabhängig davon, Moral und Werte eine Rolle spielen. Man bezeichnet das auch als Geopolitik.

Das internationale System wird als prinzipiell anarchisch, nicht dauerhaft zu ordnen, angesehen, in ihm kämpfen die Staaten ums Überleben und je nach ihrer Größe und wirtschaftlichen beziehungsweise militärischen Stärke können sie ihre Interessen durchsetzen. Es gibt in diesem System Staaten, die auf Grundlage ihrer überragenden Macht eine Position der Hegemonie erobern und eine zeitweilige Ordnung durchsetzen. Diese Hegemonialmacht ist aber nicht von Dauer. So entstand nach der Niederwerfung Napoleons ein britisches 19. Jahrhundert. Nach 1945 herrschte die Pax Americana. Gegenwärtig erleben wir den Kampf zwischen den USA und China um die globale Hegemonie. Zeiten des Wechsels der Hegemonialmacht sind häufig von Kriegen begleitet.

In der Debatte über den Ukraine-Konflikt spielen die Auffassungen eines Vertreters der Schule des Realismus eine besondere Rolle, die von John Mearsheimer. Weigelin-Schwiedrzig zitiert in ihrem Buch häufig einen anderen „Realisten“, den früheren Sicherheitsberater der Präsidenten Nixon und Ford, Henry Kissinger.

Zunächst erläutert die Autorin die Stellung Chinas zum Ukraine-Krieg und bezeichnet sie als „mittlere Position“. China verhält sich gegenüber Russland und der Ukraine neutral. Hier wird etwas deutlich, was in unserer Medienöffentlichkeit fast untergeht: Die Beziehungen zwischen China und der Ukraine sind traditionell gut. Das Land war für die „neue Seidenstraße“ eine wichtige Brücke in die EU-Staaten. Es gab eine umfangreiche Kooperation bei wichtigen Rüstungsprojekten Chinas, etwa beim Kauf seines ersten Flugzeugträgers oder beim Bau eines Großraumflugzeugs. Wie bekannt sind auch die Beziehungen zu Russland nach dem Ende des Kalten Kriegs gut. Aber China ist gegen eine Eskalation der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, deshalb ist es auch gegen einen Einsatz von Atomwaffen und für einen schnellen Waffenstillstand.

Diese „mittlere Position“ äußert sich darin, dass China in seinem 12-Punkte-Friedensplan einerseits die Erhaltung der territorialen Integrität der Ukraine unterstützt, andererseits aber auch für die Berücksichtigung der legitimen Sicherheitsinteressen Russlands eintritt. Außerdem ist China für ein Verbot einseitiger Sanktionen und für das ausschließliche Recht des UN-Sicherheitsrates, solche Sanktionen zu verhängen. Es war, so wird der Standpunkt der chinesischen Führung im Buch referiert, der russische Kardinalfehler, sich in einen Krieg hineindrängen zu lassen. Das gelte es im Falle des Taiwan-Konflikts unbedingt zu vermeiden.

Das Buch macht deutlich, dass der während der ersten Präsidentschaft Donald Trumps begonnene Handelskrieg, der unter Joe Biden 2022 mit dem „Chip Act“ fortgesetzt wurde, China noch stärker an die Seite Russlands drängt. Die Kooperation mit den USA, die Chinas Position viele Jahre seit der Normalisierung der bilateralen politischen Beziehungen bestimmte, ist beendet worden. Die diese Politik bisher tragenden amerikafreundlichen Kräfte in der chinesischen Parteiführung, wie der Ministerpräsident Li Keqiang, wurden 2023 entmachtet. Die Politik der USA, die sich zunehmend darauf richtete, China zu isolieren, führte zur Vertiefung der wirtschaftlichen Allianz mit Russland, wobei die chinesischen Überkapazitäten die Modernisierung der russischen Wirtschaft voranbringen könnten. Bekannt ist auch, dass China in diesem Bündnis seinen Energiehunger besser, preiswerter, befriedigen kann.

Im zweiten Teil handelt das Buch von den anstehenden Entscheidungen „Europas“ (der EU-Mitgliedsstaaten), auf die Seite welcher der miteinander kämpfenden Hegemonialmächte USA und China sich die EU stellen sollte. Dabei sind, ganz im Sinne der Schule des Realismus, die Interessen der jeweils handelnden Seiten entscheidend. Die müssen politisch genau bestimmt werden. Die Interessen der EU-Staaten sind von denen der beiden globalen Hegemonialmächte unterschieden. Wirtschaftlich haben die EU-Staaten eine wesentlich engere Verflechtung mit China als die USA. Weigelin-Schwiedrzig sieht hier folgendes Dilemma: „[…] schlagen sich die EU-Staaten auf die Seite der USA, verlieren sie die wirtschaftlichen Vorteile einer Zusammenarbeit mit China und Russland, schlagen sie sich auf die Seite Chinas, verlieren sie den militärischen Schutz der USA“. Die Autorin meint, die EU-Staaten sollten sich ein Beispiel an den Staaten Ost- und Südostasiens nehmen, etwa an der Politik Japans oder Indiens, die sie durch die folgenden zwei Positionen charakterisiert: Sowohl eine enge militärische Zusammenarbeit mit den USA als auch die Sicherung einer strategischen Autonomie bei der Gestaltung der eigenen Beziehungen zu China.

Ihr Vorschlag für die Gestaltung der außenpolitischen Strategie der EU-Staaten – auf Grundlage der Theorie der „realistischen Schule“ – lautet folgendermaßen: Ausgangspunkt müsse die Anerkennung der realen Machtverteilung sein. „Europa spielt nicht die Rolle einer den USA gleichgestellten Großmacht, sondern die einer Mittelmacht, der es darum gehen muss, dass sie in einer zukünftigen Weltordnung nicht auf Dauer als Vasallenstaat der USA eingeordnet wird.“ „Europa“ sollte vermeiden, als „Beiboot zum Tanker USA“ wahrgenommen werden. Erst von einer Position der strategischen Autonomie aus könnte die EU eine Vermittlerrolle im Konflikt um Taiwan einnehmen und alles tun, um dessen verhängnisvolle militärische Lösung zu vermeiden.

Der von Weigelin-Schwiedrzig vorgeschlagenen vermittelnden Rolle der EU-Staaten im heraufgezogenen Hegemonialkonflikt zwischen den USA und China, die den Frieden zu sichern zum Ziel hat, steht eine von Kriegslogik diktierten Auffassung zur Rolle der EU gegenüber, die – wie German-Foreign-Policy.com referiert – kürzlich in der Zeitschrift Internationale Politik von Max Bergmann entwickelt worden ist. Während Weigelin-Schwiedrzig der Diplomatie eine größere Rolle geben möchte, stellt Bergmann die militärische Rüstung und Unterstützung der USA in einem künftigen kriegerischen Konflikt im „Indo-Pazifik“ ins Zentrum seiner Vorschläge.

Die Sympathie des Rezensenten liegt dabei natürlich auf Seiten des Vorschlags der Wiener Kollegin.

Susanne Weigelin-Schwiedrzig: China und die Neuordnung der Welt. Brandstätter-Verlag, Wien 2023, 216 Seiten, 22,00 Euro.