27. Jahrgang | Nummer 22 | 21. Oktober 2024

Ostdeutschland: Labor einer düsteren Zukunft?

von Ulrich Busch

Im Jahr 2019 legte der renommierte Historiker und Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk mit dem Buch „Die Übernahme“ eine in Ost und West viel beachtete Gesamtdarstellung der deutschen Vereinigung vor. Jetzt legte er nach und veröffentlichte unter dem Titel „Freiheitsschock“ eine problemorientierte, persönlich gehaltene Ergänzung.

Obwohl keine Autobiographie im eigentlichen Sinne, vermittelt das Buch doch viele Einblicke in das Leben des Autors, in sein Fühlen und Denken und erzählt auf diese Weise „eine andere Geschichte Ostdeutschlands“ als die, die wir aus offiziellen Verlautbarungen und aus Büchern von Historikern kennen. Erst recht aber eine gänzlich andere, als die Menschen in Ostdeutschland sie gewöhnlich erzählen und wie sie von geschätzten und gefeierten Autorinnen und Autoren wie Dirk Oschmann, Katja Hoyer, Christina Morina und Steffen Mau derzeit medienwirksam verbreitet wird.

Die Geschichte, die Kowalczuk in seinem Essay erzählt, beruht auf seiner persönlichen Wahrnehmung und einer sehr eigenwilligen Interpretation historischer Tatsachen. Das Wort, das in dem Buch am meisten vorkommt, ist folgerichtig das Personalpronomen Ich. Auf diese Weise werden statistische Daten ignoriert und historische Fakten zu nebensächlichen Größen. Was dagegen zählt, ist die persönliche Sicht des Autors auf die Dinge. Zudem, so der Autor, habe vieles von dem, was wir heute in Ostdeutschland hören und sehen, „nichts mit Fakten zu tun“, sondern mit irrationalen „Gefühlslagen“, mit „Emotionen“. Und „Emotionen verbinden, Statistiken sind kalt“. Und letztlich seien ja auch Emotionen nichts anderes als „Fakten“. – Soweit zu der im Buch praktizierten Methode und zum Umgang des Autors mit Daten.

Kowalczuk beschreibt sein Anliegen als einen Versuch „jenseits von schwer verstehbaren aktuellen Zahlen … nachzufragen, ob die Spaltung der Gesellschaft in Ostdeutschland überhaupt ein neues Phänomen“ sei und „welche Gründe es für Phänomene wie Antiamerikanismus, Nähe zum Kreml, zu Wagenknecht, zur AfD oder den ungezügelten Hass in den Sozialen Medien und auf Demonstrationen geben könnte“. Die Frage bezieht sich auf die aktuelle Situation. Die Antwort aber verweist auf die DDR.

Es sei frustrierend zu beobachten, so Kowalczuk, dass Tag für Tag in den Medien eine DDR gefeierte werde, die es so nie gegeben hat. Der Autor schreibt dagegen an: „polemisch, scharf kompromisslos“! Seine Kritik mag in einigen Fällen berechtigt sein, sie führt letztlich aber zu einem DDR-Bild, das nicht weniger verkehrt ist als jenes, das er gerade bekämpft. Bei der Lektüre der entsprechenden Passagen schlägt dem Leser ein Hass auf die DDR und alles damit im Zusammenhang stehende entgegen, wie man ihn bisher selten erlebt hat. Der Autor zieht alle Register der Totalitarismus-Theorie, um zu beweisen, dass die „Diktatursozialisierungserfahrungen“ der NS-Zeit nicht nur das Leben in der DDR geprägt haben, sondern die DDR vielmehr hieran nahtlos angeknüpft hat, so dass jene sich im Osten Deutschlands bis heute „vererbt“ haben. Wagenknecht und die Erfolge der AfD seien nun die Folgen.

Dabei ist es höchst bemerkenswert, dass er nicht nur die AfD als gesichert rechtsradikal, rechtsextremistisch und in Teilen als „faschistisch“ einstuft, sondern auch dem BSW von Sahra Wagenknecht unterstellt, eine „profaschistische Politik“ zu betreiben. Er schreibt: „Das BSW ist programmatisch eine Schwesterpartei der AfD. Die Unterschiede schlagen weniger stark zu Buche als die Gemeinsamkeiten. Wer Wagenknecht wählt, kann auch AfD wählen, es läuft auf das Gleiche hinaus.“

Ausgehend von dieser skandalösen Gleichsetzung einer linksliberalen Partei mit einer rechtsextremen Partei, ihrer Programmatik und Politik erscheint es nur konsequent, wenn der Verfasser das ostdeutscher Wahlvolk analog behandelt. Bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg haben jeweils rund die Hälfte der Wähler rechtsextremistische Parteien, das BSW oder die Partei Die Linke gewählt. Da in Umfragen sogar zwei Drittel der Befragten äußerten, sich durchaus vorstellen zu können, die AfD, die Linkspartei oder das BSW zu wählen, schlussfolgert Kowalczuk, im Osten stehe heute ein Wählerpotential für autoritäre, antiwestliche und kremlnahe Parteien von „deutlich über zwei Dritteln“ bereit. Es folgt eine undifferenzierte Klassifizierung der AfD- und der BSW-Wähler als „Nazis“ beziehungsweise Kommunisten. „Wer Nazis wählt, ist … selbst ein Nazi. Wer Kommunisten wählt, ist … auch ein Kommunist.“ – So einfach ist das für Kowalczuk!

Diese Aussagen passen zu der schon früher heftig debattierten Auffassung des Autors, wonach die Revolution von 1989 allein das Werk einer kleinen Minderheit politisch Engagierter, der Bürgerrechtler, gewesen sei, während die große Masse der Ostdeutschen hieran keinen Anteil hätte. Sie hätten sich die Freiheit und die staatliche Einheit nicht erkämpft, sondern sie „geschenkt“ bekommen und achteten sie daher nicht. Der Autor geht dann sogar noch einen Schritt weiter, indem er schreibt, dass die Ostdeutschen mit der Einheit Deutschlands etwas bekommen hätten, das sie gar nicht haben wollten, nämlich Demokratie und Freiheit. Was sie wollten, war die westdeutsche Währung, die D-Mark, westlichen Konsum, Reisefreiheit und privates Wohlergehen. Der „Sprung in die Freiheit“ aber habe sie überfordert. Kowalczuk spricht deshalb in Bezug auf 1989/90 von einem „Freiheitsschock“, von dem sich die Mehrheit der Bevölkerung bis heute nicht erholt habe. Hinzu kam dann nach 1990, eigentlich schon mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990, noch ein „Transformationsschock“. Da verwundere es nicht, wenn vergessen wird, dass die DDR nichts anderes war als „das größte Freiluftgefängnis in Europa nach 1945“. Heute aber rede man sich die DDR „schön“ und sehne sich zurück, nicht unbedingt nach der DDR, aber nach einem autoritären Staat. Er nennt diese Sehnsucht „Ostdeutschtümelei“ und erblickt hierin eine mögliche Vorstufe zu einer Diktatur. Ostdeutschland erscheint in dieser zutiefst pessimistischen Perspektive als „eine Art Labor der Globalisierung, einer möglichen Zukunft, ja, einer möglichen düsteren Zukunft …“, die es politisch zu verhindern gelte.

Aber wie? Nach den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg stellt sich diese Frage mehr denn je. Und die Ratlosigkeit ist groß.

Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute. München 2004, C. H. Beck, 240 Seiten.