In der politischen Debatte wird der Ukraine regelmäßig mehr oder weniger unverblümt nahegelegt, den russischen Krieg gegen sie zu beenden; also zu kapitulieren. Vor geraumer Zeit meinte man beispielsweise den Ukrainer raten zu sollen, sich doch zu ergeben und in eine „soziale Verteidigung“ überzugehen; in einen „klugen und gut organisierten zivilen Widerstand“. Heute heißt es, subtiler, perfide verklausuliert: „Mit jedem eroberten Quadratkilometer schwindet ihr (gemeint ist die Ukraine, nachdem ihre Truppen im Gebiet Kursk nach Russland einmarschiert sind – St. W.) Bonus des wehrlosen Verteidigers.“ So schrieb es Thomas Fasbender am 12. August in der Berliner Zeitung und fuhr fort: „Was geschieht, wenn der Kreml in scheinbar auswegloser Lage taktische Nuklearsprengköpfe gegen den Angreifer (sic!) auf russischem Territorium einsetzt?“
Die wohl bislang deutlichste – und ehrlichste! – Aufforderung an die Ukraine, aufzugeben, kam von Papst Franziskus; das Land solle den Mut haben, die „weiße Fahne“ zu hissen und ein Ende des Krieges mit Russland auszuhandeln: „Schämt euch nicht, zu verhandeln, bevor es noch schlimmer wird“, äußerte der Pontifex weiter. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Die ukrainische Menschenrechtsaktivistin Oleksandra Matwijtschuk erinnerte daran, was eine Kapitulation bedeute: „Folter, sexuelle Gewalt, zwangsweises Verschwinden, Ablehnung der eigenen Identität, Zwangsadoption der eigenen Kinder, Filtrationslager und Massengräber“ und weiter: „Die Besatzung ist nur eine andere Form des Krieges.“ Polens Außenminister Radosław Sikorski schrieb: „Wie wäre es, wenn man zum Ausgleich Putin ermutigt, den Mut zu haben, seine Armee aus der Ukraine abzuziehen? Dann würde sofort Frieden einkehren, ohne dass Verhandlungen nötig wären“. Ja, warum beendet Putin seinen Krieg nicht einfach?
Diese schlichte Frage kann natürlich sofort gekontert werden mit dem Hinweis auf die bekannten Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau im Februar/März 2022. Da sei man dem Frieden so nahe gewesen, nur habe eben Kiew nicht … Hier können nicht alle Volten der Gespräche nachgezeichnet werden, einiges kann aber doch erörtert werden.
Unter Vermittlung des belarussischen Präsidenten Lukaschenko begannen Gespräche am 28. Februar 2022. Russland stellte harte Bedingungen, sie liefen auf eine Kapitulation der Ukraine hinaus. Als sich die Lage an der Front für die russische Armee verschlechterte, schwächte Moskau seine Forderungen ab. Am 29. März trafen sich beide Parteien wieder, in Istanbul. Und, so schien es, erzielten einen Durchbruch: Sie hätten sich auf ein gemeinsames Kommuniqué mit dem Titel „Wichtigste Bestimmungen des Vertrags über die Sicherheitsgarantien für die Ukraine“ verständigt. Der damalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett teilte später mit, er habe 17 oder 18 Entwürfe des Abkommens gesehen; er schätzte die Chance auf einen Waffenstillstand auf 50 Prozent, wobei allerdings die besonders heiklen Themen noch ausstünden – die Frage, was mit den besetzten Gebieten passieren sollte und eventuelle Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Während der Entwurf vom 12. April klarstellte, dass die Garantiestaaten unabhängig entschieden, ob sie Kiew im Fall eines Angriffs auf die Ukraine zur Hilfe kämen, versuchten die Russen im Entwurf vom 15. April diesen entscheidenden Artikel umzudrehen, indem sie darauf beharrten, dass ein solcher Schritt nur „auf der Basis einer Entscheidung aller Garantiestaaten“ erfolge. Damit hätte der wahrscheinliche Invasor – Russland – ein Vetorecht gehabt.
Trotz dieser und anderer substanzieller Differenzen – so wollte die Ukraine in Friedenszeiten über 250.000 Soldaten verfügen, die Russland gestand ein Maximum von 85.000 zu – hieß es noch am 15. April, dass ein Vertrag innerhalb von zwei Wochen unterzeichnet werden würde. „Wir waren Mitte April sehr nahe, den Krieg mit einem Friedensschluss zu beenden“, sagte der ukrainische Verhandler Olexander Tschali im Dezember 2023. „Eine Woche nachdem Putin seine Aggression begonnen hatte, kam er zum Schluss, dass er einen riesigen Fehler begangen hatte, und versuchte alles Mögliche, um eine Vereinbarung mit der Ukraine zu schließen.“
Warum brachen die Gespräche trotzdem ab? Putin behauptete, die westlichen Mächte hätten sich eingemischt und das Abkommen platzen lassen, weil sie daran interessiert gewesen seien, Russland zu schwächen. Als Hintergründe dafür, dass der Westen die Haltung einnahm, die er einnahm, nannte Bennett zwei Gründe: Zum einen das russische Kriegsverbrechen in Butscha und zum anderen habe der „russische“ Präzedenzfall für eine mögliche chinesische Invasion in Taiwan eine Rolle gespielt.
Ergänzend dazu gibt es Aussagen Beteiligter – wie die von Dawyd Arachamija, später Leiter der ukrainischen Delegation. Im November 2023 sagte er auf die Frage, warum die Ukraine der Neutralität und dem Verzicht auf einen NATO-Beitritt nicht zugestimmt habe: Erstens „hätte zunächst die Verfassung geändert werden müssen. Unser Weg in die NATO ist in der Verfassung festgeschrieben. Zweitens hatte man kein Vertrauen in die Russen. Wir könnten nicht etwas unterschreiben, uns zurückziehen, alle würden sich entspannen, und dann würden sie noch besser vorbereitet einmarschieren – denn sie waren in der Tat unvorbereitet auf einen solchen Widerstand. Deshalb hätten wir diesen Weg nur dann beschreiten können, wenn absolute Sicherheit besteht, dass so etwas nicht wieder passiert. Eine solche Gewissheit gibt es nicht.“ Arachamija zufolge hatte die Delegation nicht einmal das Recht, etwas zu unterschreiben – dies konnte nur bei einem Treffen zwischen Selenski und Putin geschehen. Alles in allem: Die Ukraine sei nicht bereit gewesen zu unterzeichnen.
Nochmals – warum beendet Putin seinen Krieg nicht einfach? Russland scheint ebenso wenig wie die Ukraine in der Lage, das Blatt militärisch zu wenden. Lange schon hat sich die düstere Erkenntnis breit gemacht, dass der Krieg nicht bald enden werde. Während auf der Hand liegt, warum die Ukraine diesen Krieg weiterführt, sind Putins Intentionen unklar; auch läuft er ein gewisses Risiko zu verlieren, was er bereits erobert hat. Warum nimmt er das in Kauf? Wie Studien zeigen, tragen Kriege häufig dazu bei, die Macht autokratischer Herrscher zu festigen; die mit einem Krieg verbundenen Risiken sind geringer als die Risiken eines anschließenden Friedens. Die Fortsetzung des Krieges liegt so nicht in Russlands, wohl aber in Putins Interesse.
Dieser Krieg ist für ihn zur wichtigsten politischen und ökonomischen Ressource geworden. Er ist zur ultimativen Rechtfertigung für innenpolitische Probleme geworden (von denen einige durch den Krieg erst verursacht wurden) und zur bequemen Ausrede gegenüber der Bevölkerung. Wirtschaftliche Schwierigkeiten – Verarmung gewisser Schichten, indirekte Rentenkürzung, hohe Inflation, Fachkräftemangel – werden auf westliche Sanktionen und Notwendigkeiten „für die Front“ geschoben. Solange der Krieg andauert, muss sich Putin nicht mit innenpolitischen Problemen auseinandersetzen, sondern kann kritische Meinungen unterdrücken, indem er die „Kriegskarte“ spielt. Eine chauvinistische Rhetorik trägt das ihre dazu bei, die Bevölkerung hinter dem Krieg zu versammeln. Jedoch ist Putins Sicherheitsversprechen an „seine“ Bevölkerung durch den Kursker Vorstoß der Ukraine hinfällig.
Anfangs des Krieges waren russische Eliten noch desillusioniert, wie sich Mikhail Zygar im April dieses Jahres im Spiegel erinnerte: „… leider ist Russland […] in den Pranken von Arschlöchern gelandet, die sich zu irgendwelchen seltsamen Narrativen aus dem 19. Jahrhundert bekennen.“ Heute dagegen glaubten sie, dass Russland den Krieg gewinnt. „Zwar verließen viele das Land, aber denjenigen, die blieben, kann Putin die Fortsetzung des Krieges als seine und damit ihre eigene Garantie des Machterhalts verkaufen“; ohne ihn wäre ihre Position gefährdet.
Auch sieht Putin den Ukrainekrieg als Frontlinie seines Kampfes gegen westliche Expansion und die globale Dominanz der USA; er ist von Belang bei der Durchsetzung russischer Interessen auf internationaler Bühne. Es gibt aber auch gänzlich andere Überlegungen: Russische Strategen halten Verhandlungen mit dem wiedergewählten Trump über „Einflusssphären“ zwischen Russland und den USA für möglich. Für Putin optimal: Der Krieg in der Ukraine – in der russischen Sphäre – wird siegreich beendet, die Sanktionen werden aufgehoben alles kehrt zur Normalität zurück …
Putin kann seinen Krieg auf absehbare Zeit nicht beenden. Und so laufen alle noch so gut gemeinten Appelle, Verhandlungen aufzunehmen, bedauerlicherweise ins Leere.
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