27. Jahrgang | Nummer 15 | 15. Juli 2024

Wege zum Politischen

von Ulrich Busch

Zwei Fragen hat der Autor seinem Buch als Leitfragen vorangestellt: „Wie können wir in krisenbehafteter Zeit unsere eigene Bürgerschaft stärken? Und welche Denkgewohnheiten können den Kompass unseres politischen Denkens justieren?“ Anders gefragt könnte dies auch heißen: Wie kommen wir aus der allgemeinen Lethargie und dem alltäglichen Konsumismus wieder heraus und finden zurück zu einem politischen Dasein? Und welche Vordenker bieten sich an, uns in unserem Nachdenken zur Seite zu stehen?

Die Antwort, die der Politikwissenschaftler und Professor für politische Bildung an der Universität Vechta, Karl-Heinz Breier, hierauf gibt, ist mehrschichtig: Erstens sei es angeraten, sich „eine innere Republik“ aufzubauen und auf diese Weise die äußere Republik, die Republik der Institutionen, mit Leben zu füllen. Zweitens wird vorgeschlagen, sich dafür den Rat von „Meisterdenkern“ einzuholen. Drittens wird geraten, sich dabei der Führung von Hannah Arendt als einer kundigen „Anwältin des Politischen“ zu überlassen. Denn ihrem „privilegierten Überblick“ könne man getrost vertrauen.

Welches sind nun aber die Experten, die der Autor den Lesern als geistige Mentoren empfiehlt? In der Hauptsache sind es sieben Philosophen, die im Buch als Vordenker einer republikanischen Haltung vorgestellt werden: Sokrates, Aristoteles, Machiavelli, Montesquieu, Rousseau, Tocqueville und schließlich Hannah Arendt selbst. Daneben tauchen im Text weitere Namen auf, zum Beispiel Cicero, Hobbes und Marx. Die vorgenommene Auswahl ist beeindruckend, aber sind das wirklich die Denker, die für das hier und heute von ausschlaggebender Bedeutung sind? Fehlt in dieser Aufzählung nicht Immanuel Kant? Und gibt es nicht andere Denker, die heutzutage das politische Denken weit mehr beeinflussen als Sokrates beziehungsweise Platon, Aristoteles, Machiavelli und andere Geistesgrößen vergangener Zeiten? Ich denke hier zum Beispiel an Michel Foucault, Theodor W. Adorno, Pierre Bourdieu oder Friedrich August von Hayek.

Ein anderer Einwand betrifft die jeweils vorgenommene Wertung der Meisterdenker. Es versteht sich von selbst, dass eine solche hier nur unter dem Aspekt des Politischen, genau genommen ihres Beitrags zur Herausbildung eines politischen Bewusstseins, erwartet werden kann. Also unter dem Aspekt der politischen Bildung. Aber selbst bei Berücksichtigung dieser Einschränkung erweist sich die vorgenommene Auswahl als nicht durchweg unproblematisch. So wird beispielsweise in Bezug auf Sokrates, der ja bekanntlich der Nachwelt nichts Schriftliches hinterlassen hat, hervorgehoben, dass unsere „uns auszeichnende Zugehörigkeit zur Welt“ eine „des Geistes“ sei. Nur des Geistes? Wie korrespondiert diese Aussage mit einem materialistischen Verständnis der Welt und der heutzutage überall zu findenden Betonung vitaler Körperlichkeit? Auch Aristoteles wird über Gebühr gelobt und unkritisch als ein Denker gefeiert, der unser Verfassungsdenken bis heute bestimmt. Der Autor meint sogar, dass „unsere gesamte Tradition europäisch-atlantischen Denkens“ nur deshalb lebe, „weil er gelebt hat“. Vielleicht. Aber wie erklärt es sich dann, dass heute trotzdem die Philosophie (Wissenschaft) zu einer Magd der Politik geworden ist und die Politik zu einer bloßen Funktion der Ökonomie. Wird doch bei Aristoteles das genaue Gegenteil postuliert!

In den Ausführungen zu Montesquieu wird konstatiert, dass dieser ein Republikaner war, „der erst noch zu verstehen und zu würdigen“ sei. Hannah Arendt habe bereits Wesentliches dazu beigetragen, es bedarf aber noch „ganz explizit der Erziehung zur Verfassung“, womit politische Bildung gemeint ist. Nicht viel anders steht es offenbar um Rousseau. Breier merkt dazu an, dass das von Rousseau entdeckte „egalitäre Gefühl des Mitleids“ seit dem späten 18. Jahrhundert als „authentische politische Tugend“ gelte und deshalb heute jede rechts- wie linkspopulistische Rhetorik vom „Volkswohl“ spreche und nicht vom Wohlergehen einer intakten Republik, worauf es letztlich aber ankomme. Im Unterschied zu Machiavelli oder Montesquieu gründete Rousseau sein politisches Denken auf die „Gefühlswelt“. Ob sich damit in unserer empathielosen Zeit noch viel anfangen lässt, darf bezweifelt werden.

Tocqueville gilt vor allem als Kritiker der realen Demokratie in den USA. Seiner Meinung nach ist es die „rein privatistische Lebensweise, die sich vom Öffentlichen fernhält“, welche die Demokratie untergräbt und die er wie Hannah Arendt als „Gift“ für eine Republik ansah. Demokratie war für Tocqueville ein weltgeschichtlicher Epochenbegriff. Arendt folgte ihm hierin und machte ihn damit zu einem Weggefährten bei ihrer Suche nach einer besseren Welt. Karl-Heinz Breier zeigt, dass ihre Selbstentdeckung „im In-between“ stattfand, im konkreten Sprechen und Handeln in der Welt. Ihr darin nachzueifern und sich ihre Interpretation der Vordenker von Demokratie und republikanischem Denken und Handeln anzueignen, sollte als „eine geistige Erfrischung“ genommen werden und könnte als solche jede Reise begleiten.

 

Karl-Heinz Breier: Hannah Arendt im Gepäck. Sieben Wege zum Politischen. Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 2024, 140 Seiten, 18,00 Euro.