27. Jahrgang | Nummer 15 | 15. Juli 2024

Den Frieden ausschreiben

von Stefan Weidner

Der Westen ist schizophren. Glauben wir unseren Politikern, will niemand in den russischen Ukraine-Krieg hineingezogen werden. Glauben wir den Umfragen, will das auch die deutsche Bevölkerung nicht. Selber kämpfen möchte in der Ukraine ohnehin niemand, nicht einmal die Ukrainer, die Gebliebenen ebenso wenig wie die Geflohenen. Wäre es anders, hätte die Ukraine keine Probleme, Soldaten zu rekrutieren. Und Deutschland zahlt den Ukrainern lieber hier Bürgergeld, als sie in den Krieg zurückzuschicken.

Schön ist sie, diese Menschlichkeit. Leider steht sie im Widerspruch zur sonstigen Ukrainepolitik. SPD, CDU, FDP und Grüne sagen allesamt, dass der Krieg jetzt nicht beendet werden kann; dass die Ukraine sich weiter wehren sollte; dass das Völkerrecht „unverbrüchlich“ ist; und dass man mit Putin ohnehin keinen Frieden schließen kann.

Wer dagegen nach Frieden oder Waffenstillstand ruft, wird öffentlich diskreditiert und beleidigt, wie zuletzt Rolf Mützenich, ein Abweichler in der SPD. Er hatte den vernünftigen Vorschlag gemacht, den Konflikt „einzufrieren“. Was für eine böse, gefährliche Idee, ließ das deutsche Ukraine-Kommentariat unisono verlauten.

Die zunehmenden Rufe nach einer Friedenslösung sind aus dem öffentlichen Diskurs bislang weitgehend herausgefiltert worden. Wenn aber so vernünftige wie gebotene Ansichten in Öffentlichkeit und Politik kein nennenswertes Echo mehr finden, darf man sich über die Entfremdung zwischen Politikern, Medien und Bevölkerung nicht wundern.

Nichts brauchen wir heute dringender als eine breit aufgestellte, lautstarke, selbstbewusste und kreative Friedensbewegung für die Ukraine. Eine Friedensbewegung, die weiß, dass sie angesichts der eingangs beschriebenen Lage nicht nur die humaneren Argumente auf ihrer Seite hat, sondern auch die Mehrheit der Menschen, vermutlich sogar eine Mehrheit von Ukrainern und Russen.

Eine Friedensbewegung, die sich vom medialen Boykott ihrer Ideen nicht frustrieren lässt, sondern, wenn es denn nicht anders geht, auch auf ihre eigenen Wege und Mittel, Kanäle und Parteien setzt. Wie groß das Bedürfnis danach ist, sehen wir am Erfolg des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) bei den Europawahlen und bald wohl auch bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland. Der Ukrainekonsens der Bundesregierung wackelt ebenfalls.

Der Vorschlag Alexander Dobrindts, arbeitslose Ukrainer zurückzuschicken, legt den Finger in die Wunde der Widersprüche. Man kann nicht Waffen liefern und zugleich Fahnenflucht fördern und finanzieren. Die einzig menschenwürdige Weise, aus diesem Dilemma herauszukommen, besteht darin, auf ein schnelles Ende der Kampfhandlungen zu drängen.

Keine Frage: Der Frieden wird einen Preis haben, und der wird hoch sein. Für viele im Westen und in der Ukraine wird das Ergebnis einer Niederlage gleichen. Na und? Die Niederlage in Afghanistan war peinlich, der Abzug überstürzt. Aber ich kenne keinen, der den Afghanistan-Einsatz vermisst. Auch eine Niederlage in der Ostukraine wird der Westen verkraften.

Was auch immer der Preis des Friedens sein wird, der Preis des Krieges ist höher. Wir müssen daher gar keine Pazifisten, Linke oder „Putinversteher“ werden, um den Frieden zu wollen. Es genügt, das zu sein, was auch unsere Regierung sein will, nämlich gute Haushälter, Kaufleute und Kapitalisten. Selbst ein kostspieliger Frieden ist besser und günstiger als ein endloser, nicht zu gewinnender Krieg.

Diese Einsicht liegt auch der Friedensinitiative zugrunde, die der deutsch-polnische Autor Stanislaw Strasburger am 15. Juli in dieser Zeitung [Berliner Zeitung] vorgeschlagen hat: Man sollte eine Friedenslösung für die Ukraine ausschreiben in der Art, wie man öffentlich relevante Großprojekte − Flughäfen, Museen und ähnliches − ausschreibt. Wer den überzeugendsten Vorschlag macht und ihn mit konkreten Entwürfen untermauert, erhält den Zuschlag. (Wortlaut des Beitrages siehe Blättchen 14/2024 – die Redaktion.)

Mit den Mitteln, die der Gewinner der Ausschreibung bekommt, wird der eingereichte Friedensplan realisiert. Das zur Verfügung stehende Geld soll der Höhe der europäischen Militärausgaben entsprechen. Im Jahr 2023 waren das 339 Milliarden Euro.

Es wäre in der Tat seltsam, wenn es nicht gelänge, mit diesen enormen Mitteln den Frieden gleichsam zu kaufen und die zerstörten und besetzten Gebiete in blühende Landschaften zu verwandeln. Sollte es ein bisschen teurer werden als geplant, wäre das nicht schlimm: So lief es bekanntlich auch im Fall des BER und der Hamburger Elbphilharmonie, beim Bahnhof Stuttgart 21 und der deutschen Wiedervereinigung.

Ich finde den Strasburger-Vorschlag genial, kühn und zugleich unfassbar poetisch. Er ist eigentlich eine künstlerische Intervention, politische Konzeptkunst, wie ein Joseph Beuys sie sich nicht besser hätte ausdenken können. Er ist von bestechender gedanklicher Konsequenz und spiegelt wunderbar ironisch die Megalomanie herkömmlicher Vorzeigeprojekte. Man könnte ihn augenzwinkernd nennen, wenn er nicht gleichzeitig völlig ernst gemeint wäre. Wenn es dabei nicht um Leben und Tod ginge, wenn er in seiner Dimension nicht geradezu brutal, ja eigentlich unvorstellbar wäre.

Ich halte es aber für möglich, diesen Vorschlag auf tatsächlich realisierbare Aspekte herunterzubrechen. Das Wichtigste, was Strasburger in die Diskussion einbringt, ist zunächst ein Paradigmenwechsel: Absolute Priorität hat bei ihm der Frieden, und nicht, dass die Ukraine verlorene Gebiete zurückerobert oder dass wir „kriegstüchtig“ werden und am Ende womöglich in der Lage sind, mitzuerobern.

Der Paradigmenwechsel erfordert die Bereitschaft zu Kompromissen. Das betrifft weltanschauliche, prinzipielle Fragen, etwa was Grenzverschiebungen betrifft, die Akzeptanz des Status Quo und der militärischen Realitäten. Der Paradigmenwechsel sagt: Frieden oder auch nur ein Einfrieren des Konflikts ist wichtiger als hehre Prinzipien und Völkerrecht. Das ist bitter, aber es ist auch wahr.

Dabei hilft es zu wissen, dass der Westen auch in vielen anderen Fällen vom Völkerrecht abrückt, wenn ihm das opportun scheint. Ein Beispiel ist die schier endlose Geduld mit der israelischen Siedlungspolitik, die den Palästinensern das Land für einen lebensfähigen Staat raubt. Auch Abspaltungsbewegungen hat der Westen unterstützt, wenn es ihm profitabel schien. 1991 setzte Helmut Kohl die Anerkennung Kroatiens durch und goss damit Öl in den beginnenden jugoslawischen Bürgerkrieg. Das Völkerrecht ist kein Argument gegen einen Kompromissfrieden, gleich wie unschön er ist.

Frieden, sagt der Paradigmenwechsel ferner, ist wichtiger als die Meinung des ukrainischen Präsidenten; wichtiger als der angebliche oder tatsächliche Willen der Ukrainer, den Krieg fortzusetzen. Der Westen versteckt sich gern hinter der Formel „Nothing about Ukraine without Ukraine“; was bedeutet, dass bezüglich der Ukraine nichts ohne die Ukraine entschieden werden soll.

Wir können aber nicht das ukrainische Militär finanzieren, es ausrüsten und gleichzeitig so tun, als hätten wir nicht das geringste Recht, mitzuentscheiden. Wir haben nicht nur das Recht, wir haben sogar die Pflicht dazu!

Jeder kluge Investor hält sich das Mitspracherecht bei einer Firma offen, in die er investiert. Großaktionäre können Vorstandsvorsitzende stürzen. Wolodymyr Selenskyjs Amtszeit als Präsident ist am 20. Mai abgelaufen. Neuwahlen gibt es nicht, vorgeblich wegen des Kriegsrechts. Zwar ermöglicht das Kriegsrecht, Wahlen aufzuschieben; aber es verbietet sie nicht. Gerade jetzt wäre es an der Zeit, die Ukrainer über ihre politische Zukunft entscheiden zu lassen. Auch die im Ausland lebenden.

Solange die Ukrainer nicht mit dem Stimmzettel abstimmen dürfen, werden sie weiterhin mit ihren Füßen abstimmen müssen, zumal die Wehrpflichtigen. Sie werden ins Ausland gehen oder einfach da bleiben, sie werden sich im Land verstecken, Wehruntauglichkeit vortäuschen oder sich anderweitig „drücken“. Lautete das Prinzip, „Nothing about Ukraine without the Ukrainians“, bezöge es sich also auf die Menschen statt auf den ukrainischen Staat, müsste der Krieg vermutlich sofort eingefroren und auf der Grundlage des Status Quo ein Kompromissfrieden gesucht werden.

Der Paradigmenwechsel fordert schließlich, die Fixierung auf Wladimir Putin aufzugeben und diejenigen, die Friedenslösungen anstreben, nicht als Opfer oder Agenten russischer Propaganda hinzustellen. Auch ich halte Putin für einen rücksichtslosen Diktator und traue ihm nicht. Doch für das Einfrieren des Konflikts müssen wir Putin nicht „trauen“ − wir müssen ihn nur vor einem „Wiederauftauen“ abschrecken. Für eine nachhaltige Friedenslösung wird man Sicherheitsgarantien verhandeln müssen. Deutschland kann sich da einbringen, wenn es sich traut.

Abgesehen davon ist die Performance der russischen Armee miserabel. Putin bettelt in Nordkorea um Munition und ist wirtschaftlich von China abhängig. Da die Russen ebenso wenig kämpfen wollen wie die Ukrainer, sammelt er seine Soldaten aus den Gefängnissen und in den armen Randgebieten seines Reiches ein. Vor einem derart heruntergekommenen Land sollte sich die Nato eigentlich nicht fürchten müssen.

Dennoch wird die Ukraine die besetzten Gebiete nicht zurückerobern können. Sie sollte daher die Größe und Weisheit besitzen, sie abzutreten. Danach werden wir gemeinsam mit der Ukraine dafür sorgen müssen, dass Osteuropa vor Russland sicher ist, wie teuer auch immer das sein mag.

 

Berliner Zeitung, 06./07.07.2024. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.