27. Jahrgang | Nummer 14 | 1. Juli 2024

Warum nicht den Frieden finanzieren statt die Rüstungsindustrie?

von Stanisław (Stan) Strasburger

Wenn Putin […] gewinnt, dann sind wir in der Vorkriegszeit“, sagte Sigmar Gabriel Ende Mai dieses Jahres bei Sandra Maischberger. Damit ist er nicht der Erste. Bereits Ende März hatte Donald Tusk die Nachkriegszeit für beendet erklärt. In einem Interview mit der Welt und mehreren anderen europäischen Zeitungen fordert er, Europa müsse sein Kriegspotenzial stärken. Gleichzeitig fügte er hinzu, dass er niemandem Angst machen wolle.

Es fällt mir schwer zu glauben, dass er das nicht will. Schließlich ist der Begriff Vorkriegszeit eine eindeutige Anspielung auf die Zwischenkriegszeit. Nur wurde er erst im Nachhinein geprägt. Inzwischen erwecken solche Äußerungen den Eindruck, als wüsste man bereits, dass ein Krieg im Herzen Europas unvermeidlich sei. Ist dies unser Schicksal, in das wir uns fügen müssen? Ist es nicht vielmehr so, dass unsere Politiker, anstatt sich als Kassandra zu gebärden und den unvermeidlichen Krieg vorauszusagen, bei jeder Gelegenheit betonen sollten, dass sie alles tun, um dies zu verhindern und den Frieden zu sichern?

Die Einlösung des Versprechens „Nie wieder Krieg“ war doch der Grundstein des gemeinsamen Europas. Und die Meinungsumfragen lassen hier keinen Zweifel: Mehr als achtzig Prozent der Befragten in Polen wollen unter keinen Umständen in einen Krieg ziehen. In Deutschland und anderen EU-Ländern ist es ähnlich. Gibt in einer Demokratie nicht die Mehrheitsmeinung die Richtung der Politik vor?

Zumal das politische Leben in Europa scheinbar weitergeht wie bisher. Dass wir uns als Land, als Gesellschaft, als ganzer Kontinent auf eine im wahrsten Sinne des Wortes lebensbedrohliche Lage zubewegen, ist jenseits des Ad-hoc-Militarismus im Handeln europäischer Politiker kaum sichtbar.

Hinzu kommt, dass das Narrativ vom drohenden Krieg höchst selektiv ist. Die angestrebte Kriegstüchtigkeit eines Herrn Pistorius wird nicht von einer entsprechenden Aufklärungskampagne begleitet. Denn was genau bedeutet „kriegstüchtig“? Was wäre der menschliche Preis eines europäischen Krieges gegen Russland? Wieviele tausend Tote, Verletzte, Verstümmelte, Vergewaltigte, auf Generationen Traumatisierte würde er mit sich bringen? Was heißt da „tüchtig“? Darüber schweigt Herr Pistorius.

Wenn ich die Zeitungen von Vilnius über Warschau und Berlin bis Madrid nach Berichten aus der Ukraine durchblättere, sehe ich auch keine Bilder von blutigen Eingeweiden, die aus zerschossenen Bäuchen quellen, keine von Minen zerfetzten Beine, keine von Scharfschützen durchschossenen Köpfe. Vielmehr dominieren furchteinflößende Männer in sauberen Uniformen, die mit neuen Waffen posieren. Oder Politiker in feinem Zwirn, die viel reisen und viele glatte Worte sprechen. Diese Ästhetisierung des Krieges verzerrt sein wahres Wesen und täuscht unsere Wachsamkeit als Bürger.

Was folgt auf die Worte des polnischen Ministerpräsidenten? Nicht mehr zwei, sondern vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts gibt Polen für die sogenannte Verteidigung aus. Die heimische Rüstungsindustrie fährt Rekordgewinne ein. Ähnlich sieht es in Deutschland aus. Internationale Rüstungskonzerne verdienen sich auf Kosten der europäischen Steuerzahler eine goldene Nase. Und andere Industrien ziehen nach. Die von Tusk geplante Änderung des Baugesetzes, die den Bau von privaten Schutzräumen und Bunkern ohne Baugenehmigung erlaubt, wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit als ein viel besseres Geschäft erweisen als der lahmende Wohnungsbau in den polnischen Städten.

Krieg ist ein lukratives Geschäft – das ist nicht neu. Das war schon im Zweiten Weltkrieg so, in Vietnam, in Afghanistan, auf dem Balkan, im Irak und an vielen anderen Orten der Welt. Wo bleibt dabei das Wohl der Menschen? Diese Frage stellt sich heute akut, auch im Hinblick auf die Ukraine. Sind die Menschen dort wirklich bereit, sich bis auf den letzten Mann für die von Russland besetzten Gebiete töten oder verstümmeln zu lassen? Wenn dem so wäre, dann würden doch nicht Hunderttausende ukrainischer Wehrpflichtiger derzeit versuchen, sich außerhalb des Landes ein neues Leben aufzubauen.

Wenn es keinen Mangel an Freiwilligen für die Armee gäbe, müssten die ukrainischen diplomatischen Vertretungen nicht damit drohen, allen, die sich nicht in die Einberufungslisten eintragen lassen und sich de facto im Exil verstecken, konsularische Dienste zu verweigern. Werden sie demnächst von der Polizei der jeweiligen europäischen Länder gesucht und nach Kiew ausgeliefert?

Es fällt mir schwer zu glauben, dass Politiker wie Donald Tusk, immerhin gelernter Historiker, nicht wissen, was sie sagen. Angst ist ein Machtinstrument. Je mehr wir als Bürger Angst empfinden, desto schwieriger wird es für uns, die Politiker zu mobilisieren, damit sie nach Alternativen zu ihrer derzeitigen Politik suchen. Je mehr wir Angst haben, desto mehr handeln wir aus einer Kampf- oder Fluchtreaktion heraus. Für kritische Reflexion und souveränes Handeln bleibt kaum Raum.

Zu Beginn des neuen Europäischen Parlaments möchte ich eine EUtopische Alternative zum Militarismus vorschlagen. Eutopie ist das griechische Wort für einen guten Ort. Als eine Art politisches Denken und Handeln ermutigt EUtopie dazu, dass wir, die Bürgerinnen und Bürger Europas, unseren Handlungshorizont an unseren Träumen orientieren. So komplex die Situation auch sein mag, halten wir für einen Moment inne, verlassen den Krisenmanagementmodus und fragen uns: Was tun wir eigentlich? Wohin gehen wir? Welche Wege führen uns zum Ziel?

Wir träumen doch vom Frieden, oder? Das ist unser Ziel. Nun, ich glaube sogar, dass die große Mehrheit der europäischen Politiker ebenfalls vom Frieden träumt. Wir stehen sozusagen auf derselben Seite. Im dreihundertsten Geburtsjahr von Immanuel Kant, dem Verfasser der Abhandlung „Vom ewigen Frieden“, ist ein solcher Traum auch keine Schande und kein Grund, belächelt zu werden. Aber können wir wirklich Frieden erreichen, wenn wir Krieg prophezeien? Führen Wettrüsten und Waffenlieferungen zum Frieden?

Statt in einen dekadenten Fatalismus zu verfallen und mit höheren Militärausgaben auf die Tragödie eines Krieges zu warten, in dem sich wieder einmal einige wenige auf Kosten des Leidens der vielen bereichern, sollten wir konkret darüber nachdenken, wie wir Frieden schaffen können. Ich habe folgenden Vorschlag: Wenn Krieg ein Geschäft ist, dann kehren wir diese Logik um. Nehmen wir die zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel der Nato, als unsere Ressource. In der Größenordnung der Europäischen Union im Jahr 2023 sind das stolze 339 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das entspricht in etwa dem Bruttoinlandsprodukt eines Landes wie Dänemark und ist etwa hundertmal so viel wie die jährlichen Bruttobeiträge zum Haushalt der Vereinten Nationen.

Auf dieses Geld haben wir als Bürger ein Anrecht. Schließlich sind es unsere Steuergelder, die von demokratischen Politikern nur verwaltet werden. Letztlich können wir selbst entscheiden, ob es uns nicht besser dient, wenn es für etwas anderes als Rüstung ausgegeben wird.

Stellen wir uns diese 339 Milliarden Euro als EUtopischen Friedensfonds vor. Dieser Friedensfonds wäre völlig anderer Natur als die sogenannte Europäische Friedensfazilität (EPF). Die EPF trägt den Frieden nur im Namen. Tatsächlich dient sie der Finanzierung von militärischen Auslandseinsätzen der EU und ist insbesondere ein Instrument zur militärischen Unterstützung der Ukraine.

In welchem Sinne würde der EUtopische Friedensfonds seinem Namen gerecht? Mit dem Fonds würden wir uns ein Jahr Zeit verschaffen, um eine Ausschreibung zu organisieren, ähnlich wie sie für den Bau von Flughäfen oder Krankenhäusern durchgeführt wird. Die ausgeschriebene Summe würde an eine natürliche oder juristische Person vergeben, die in dieser Zeit einen dauerhaften Frieden zwischen Russland und der Ukraine aushandelt. Dies kann eine Einzelperson, eine Stiftung, ein Verein oder die Regierung eines Landes sein.

Nach Marshall Rosenberg, dem Begründer der gewaltfreien Kommunikation, kann jeder Konflikt gelöst werden, wenn beide Seiten bereit sind, einander zuzuhören. Und selbst wenn die Herren Selenskyj und Putin das Geld unter sich aufteilen wollen, wäre das von mir aus auch in Ordnung. Solange die Verhandlungen spätestens in einem Jahr abgeschlossen sind und es einen dauerhaften Frieden gibt.

Ich gehe jede Wette ein, dass es klappt.

Und wenn nicht, ist das Risiko gering. Wenn das Jahr erfolglos verstreicht, könnte das Geld wieder in die Rüstung fließen. Dann hätten wir es wenigstens ernsthaft versucht. Es könnte aber auch sein, dass bei diesem Versuch eine andere Idee für den Frieden entsteht.

Vor der Ausschreibung sollten natürlich die Details des EUtopischen Friedensfonds ausgearbeitet werden. Es könnten Experten herangezogen, Bürger konsultiert werden. Es könnte zum Beispiel festgelegt werden, dass ein Teil der 339 Milliarden innerhalb der Europäischen Union investiert werden muss. Etwa in dem Verhältnis, in dem das Geld in die Rüstungsindustrie innerhalb und außerhalb der EU geflossen wäre. Auf diese Weise würde das Geld aus dem Fonds in der europäischen Wirtschaft bleiben, aber eben nicht in der Rüstungsindustrie. Vielleicht wäre es sogar sinnvoll, die einzelnen Investitionen im Vorfeld genauer zu spezifizieren? Dann könnte sich herausstellen, dass die Vertreter der Branchen, die durch die Verteilung des Fonds neue Mittel erhalten, die Friedensbemühungen aktiv unterstützen. Sie sähen darin einfach ein Eigeninteresse.

Und wenn wir heute schon Überschüsse zur Verfügung stellen, die über das Zwei-Prozent-Ziel der Nato hinausgehen, könnten wir sie in den nächsten Jahren für den Wohnungsbau verwenden. Dann müsste auch die Bauindustrie nicht den nichtgebauten Bunkern nachtrauern, und die Städte Europas wären lebenswerter als heute. Denn kein Krieg ist unvermeidbar.

 

Berliner Zeitung (online), 15.06.2024. Übernahme mit freundlicher Zustimmung des Autors und des Verlages.