27. Jahrgang | Nummer 15 | 15. Juli 2024

Atomwaffenmacht Deutschland

von Wolfgang Schwarz

Eine deutsche Atommacht würde

die freiheitlich-demokratische Staatenwelt stärken.

 

Christian Hacke

 

 

Nach der russischen Invasion in der Ukraine scheint es offensichtlich,

dass die bloße Existenz von Atomwaffen nicht ausreichte,

um den zerstörerischsten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg zu verhindern.

 

Matthew Evangelista,
International Security, 3/2024

 

 

Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden

ohne schöpferische Anstrengungen,

die der Größe der Bedrohung entsprechen.

 

Robert Schuman,

Erklärung vom 9. Mai 1950

 

Die erste TV-Debatte am 27. Juni zwischen US-Präsident Joe Biden und seinem Herausforderer bei den für November anstehenden Präsidentschaftswahlen war, so die ausnehmend zurückhaltende Bewertung der ZDF-Korrespondentin Claudia Bates, ein „Trauerspiel“. Dadurch, so legen aktuelle US-Umfragen nahe, sind die Aussichten, dass der nächste US-Präsident wieder Donald Trump heißen könnte, noch weiter angewachsen.

Das befeuert in NATO-Europa, hierzulande inklusive, die von Experten, Politikern und in den Leitmedien bereits während dessen erster Amtszeit geführten Debatten darüber, welche nachteiligen sicherheitspolitischen Konsequenzen aus Trumps Animositäten gegenüber der NATO und generell seinen erratischen Verhaltensweisen resultieren könnten. Im Zentrum dabei unter anderem immer wieder die Frage, was wäre, wenn Trump den atomaren Schutzschirm zurückzöge, also das seit 70 Jahren bestehende Versprechen, dass die USA bei einem Angriff auf NATO-Verbündete gegebenenfalls auch Kernwaffen zur Verteidigung einsetzen würden. Den Hintergrund dafür bildete im ersten Kalten Krieg das Menetekel eines möglichen militärischen Zusammenstoßes mit der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt und bildet heute die seit 2022 stark angewachsene Gefahr eines direkten Krieges mit Russland, der global stärksten Atommacht.

*

Exkurs: Unter westlichen Experten und Politikern bestehen – spätestens seit die UdSSR atomare Parität mit den USA erreicht hatte – Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit des amerikanischen Schutzschirmversprechens. (Zweifel, die in bester Vogel-Strauß-Manier nur äußerst selten öffentlich thematisiert werden.) Denn die Einlösung des Versprechens im Kriegsfall würde das US-Kernland vernichtenden atomaren Vergeltungsschlägen aussetzen. Rose Gottemoeller, während der Trump-Administration als stellvertretende Nato-Generalsekretärin tätig, jetzt an der Stanford University lehrend, hat das Dilemma der Verbündeten der USA jüngst folgendermaßen skizziert: Das Entscheidende sei, dass Europa, obwohl es seit sieben Jahrzehnten unter dem amerikanischen Nuklearschutzschirm lebe, nie zu 100 Prozent sicher gewesen sei, dass ein amerikanischer Präsident tatsächlich Atomwaffen einsetzen würde, wenn Europa es bräuchte. „Seit der Einführung der erweiterten nuklearen Abschreckung […] wurden immer wieder Fragen laut, ob die Vereinigten Staaten tatsächlich […] den Knopf drücken würden“, sagte sie. „Die Frage war immer: Würden die Vereinigten Staaten Paris und Berlin gegen New York eintauschen?“ Und die Welt ergänzte zutreffend: „Europa kennt die Antwort auf diese Frage bis heute nicht.“

*

Dass Frankreich und Großbritannien mit ihren vergleichsweise kleinen nationalen Kernwaffenarsenalen die Schutzschirmfunktion anstelle der USA übernehmen könnten oder gar wollten, ist im besten Falle ungewiss. Wie gerade erst wieder ein breit recherchierter Report der Welt („Im Stillen verhandeln Europas Diplomaten über das bislang Undenkbare“, online publiziert am 06.07.2024) in Erinnerung gerufen hat.

Aber – welche Alternativen gäbe es?

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine forderten die früheren deutschen Außenminister Joseph Fischer und Siegmar Gabriel eine Debatte über europäische Nuklearwaffen. Ähnlich äußerten sich (der inzwischen verstorbene) CDU-Grande Wolfgang Schäuble und der jetzige CDU-Vorsitzende Friedrich Merz. Für Rückenwind sorgten der Historiker Herfried Münkler sowie einschlägige Sicherheitsexperten.

Der deutsche Politikwissenschaftler Maximilian Terhalle, Gastprofessor an der London School of Economics, warf eine ganz eigene Idee für eine zügige Lösung in die Debatte – laut FAZ: „Erwerb von etwa 1000 zurzeit eingemotteten strategischen Nuklearwaffen aus den USA“. Und: „Weil Deutschland die ‚strategische Tiefe‘ für eine angriffssichere Stationierung fehle, sollten sie auch in anderen NATO-Staaten verteilt werden, etwa nach Schweden oder Finnland […].“ Da läge, so wäre zu ergänzen, die „angriffssichere Tiefe“ natürlich geradezu auf der Hand. Überdies meint Terhalle: „Trotz der logistischen Herausforderungen, etwa beim Silobau“ könnten „die Waffen schon ein bis zwei Jahre nach dem Erwerb einsatzbereit“ sein.

Hierzulande ventiliert wird seit Trumps erster Amtszeit überdies die Frage: Muss Deutschland sich nicht letztlich eigene Atomwaffen zulegen, wenn es künftig im Falle des Falles sicherheitspolitisch nicht im Regen stehen will?

Vorreiter in dieser Hinsicht, der bereits 2018 in einem Zeitungsbeitrag eine nationale nuklearen Bewaffnung Deutschlands ins Gespräch gebracht hat, ist Christian Hacke, emeritierter Politikwissenschaftler, lange Jahre an der Universität der Bundeswehr in Hamburg und zuletzt Lehrstuhlinhaber an der Universität Bonn. Kein abstruser Exot wie Terhalle. Ein anerkannter Fachmann.

Kürzlich hat Hacke seinen Standpunkt in einem ausführlichen Interview mit der Berliner Zeitung erneut dargelegt: „Wenn sich abzeichnet, dass der amerikanische Schutzschirm nicht mehr funktioniert, dann müssen wir folgerichtig die nationale Nuklearoption ins Auge fassen.“ Und im selben Gespräch wenig später etwas ausführlicher: „Wenn also die amerikanische Garantie weiter schwinden sollte und die europäischen Varianten sich als Glasperlenspiele entpuppen, dann müssen wir verschärft über eine deutsche Atomstreitmacht diskutieren.“ Welche positive Erwartung Hacke an eine entsprechende Entwicklung knüpft, bringt sein diesem Beitrag vorangestelltes Zitat auf den Punkt, das ebenfalls dem nämlichen Interview entstammt.

Also lassen wir uns als Gedankenspiel doch einfach mal darauf ein – Atomwaffenmacht Deutschland.

Zu bedenken für den Weg dahin wäre zunächst eine Reihe grundsätzlicher Fragen und Hindernisse, von denen die zentralen – aber selbst diese ohne Anspruch auf Vollständigkeit – hier kurz erörtert werden sollen.

Beginnen wir mit den völkerrechtlichen Aspekten. Deutschland ist Mitgliedsstaat des Atomwaffensperrvertrages (NPT), der die Weiterverbreitung von Kernwaffen verhindern soll und mit dem sich beigetretene Nichtkernwaffenstaaten gemäß Artikel II dazu verpflichtet haben, „Kernwaffen […] oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonstwie zu erwerben […]“.

Im Sinne dieses Artikels, also bei strenger Auslegung desselben, ist die BRD aber eigentlich nie ein NPT-Vollmitglied gewesen, denn bereits zum Zeitpunkt ihres Vertragsbeitrittes im Jahre 1969 gab es die sogenannte nukleare Teilhabe, die bis zum heutigen Tage darin besteht, dass die Bundeswehr Kampfbomber als Trägersysteme für den Einsatz amerikanischer Atombomben im Kriegsfall bereitstellt. Gerade werden für etliche Milliarden Euro US-Jets vom Typ F-35 beschafft, um diesem System weitere Existenzjahrzehnte zu sichern. Bereits 1994 hatte Matthias Küntzel das vereinigte Deutschland daher treffend als „optionale[…] Atommacht“ apostrophiert und im Rückblick festgestellt: „Auch im Bereich der nuklearen Proliferation [Weiterverbreitung von Atomwaffen – W.S.] ist die deutsche Politik kein Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.“ Was schließlich den NPT selbst anbetrifft, so kann man sich, wie das Beispiel Nordkorea gezeigt hat, durch förmlichen Austritt aus dem Vertrag gemäß dessen Artikel X gänzlich von dessen Fesseln befreien.

Manche Experten warnen zwar, dass ein offenes deutsches Streben nach Atomwaffen endgültig die Büchse der Pandora öffnen würde, weil dann weitere Aspiranten (Iran, Saudi-Arabien, die Türkei …) letzte noch vorhandene Hemmungen ablegen könnten. Doch damit müsste man gegebenenfalls leben. Das Argument als solches ist sowieso ein zwiespältiges. Als der NPT 1970 in Kraft trat, gab es fünf offizielle Atommächte (USA, Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und China) und eine inoffizielle (Israel), heute sind es bereits neun (plus Indien, Pakistan und Nordkorea).

Eine weitere völkerrechtliche Hürde stellt der „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ (Zwei-plus-Vier-Vertrag) von 1990 dar. Darin heißt es in Artikel 3: „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen Ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare […] Waffen. Sie erklären, daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird.“ Im Unterschied zum NPT enthält dieser Vertrag keine Austrittsklausel.

Experten sind allerdings der Auffassung, dass erst dieser Vertrag die Nachkriegszeit und die Zugriffsrechte der ehemaligen vier Alliierten auf Deutschland als Ganzes beendet hat, weil zuvor ein förmlicher Friedensvertrag zwischen den früheren Kriegsgegnern nie zustande gekommen war. Darüber hinaus sanktioniert das Abkommen die deutsche Vereinigung. Es sei daher höchst unklug, den Vertrag insgesamt (wie es in Russland bereits diskutiert worden ist) oder substantielle Einzelfestlegungen daraus infrage zu stellen und damit letztlich den ganzen Sack wieder aufzumachen. Bis hin zur Frage nach dem grundsätzlichen Umgang mit Reparationsforderungen, wie sie etwa aus Griechenland und Polen immer wieder gestellt werden.

Zugleich muss man allein wegen der russischen Vertragszugehörigkeit wohl ausschließen, dass dem Zwei-plus-Vier-Abkommen ein ähnliches Schicksal beschieden sein könnte wie dem ebenfalls völkerrechtlich verbindlichen chinesisch-ukrainischen „Vertrag über Freundschaft und Kooperation“ von 2013, in dem Peking sich verpflichtet hat, der Ukraine im Fall eines Angriffs auf ihre Souveränität beizustehen. Was China spätestens seit dem Februar 2022 ganz offensichtlich nicht tut. Aber niemand spricht darüber. Nicht einmal Kiew …

Vor diesem Gesamthintergrund erscheint es mir alles in allem nicht angeraten, die völkerrechtlichen Aspekte eines erneuten deutschen Strebens nach Atomwaffen* so nonchalant abzutun wie Christian Hacke im erwähnten Interview: „Das Argument, wir könnten das nicht stemmen, zieht nicht. Auch nicht, dass wir durch Verträge gebunden sind, also pacta sunt servanda.“

Hackes offensichtliche Überzeugung, dass Deutschland eine atomare Aufrüstung stemmen könnte, leitet zu einem weiteren Komplex über, dessen Details im Vorfeld von Weichenstellungen zu beleuchten ebenfalls sinnvoll wäre: ökonomisch-finanzielle Aspekte.

Die USA modernisieren bekanntlich gerade die gesamte Triade ihrer strategischen Kernwaffen (landgestützte Interkontinentalraketen, Träger-U-Boote für seegestützte Interkontinentalraketen und Langstreckenbomber). Einer etwas älteren Ausgabe des Spiegels zufolge soll das über eine Billion US-Dollar kosten. Die Summe dürfte inzwischen deutlich höher sein, legt man übliche Kostenentwicklungen bei großen westlichen Rüstungsprogrammen zugrunde. Natürlich könnte sich eine Atommacht Deutschland, statt eine nukleare Komplettabschreckung à la USA anzustreben, mit einer Minimalvariante à la Frankreich oder Großbritannien bescheiden, aber dass selbst dies mit einem Sondervermögen von lediglich 100 Milliarden Euro zu bewerkstelligen wäre, darf bezweifelt werden. Und die derzeitigen Streitereien in der Ampelkoalition um den nächsten Bundeshaushalt, aus dem der Verteidigungsminister für 2025 Mehrausgaben in Höhe von 6,7 Milliarden Euro gefordert hatte, zunächst aber nur 1,2 Milliarden bewilligt bekam, liefern womöglich nur einen milden Vorgeschmack darauf, welche innenpolitischen Auseinandersetzungen die Kosten einer atomaren Rüstung verursachen würden. (Andererseits könnte man damit aber gewiss gegenüber amerikanischen Partnern wie Elbridge Colby punkten, einst Trump-Berater, der, so die WELT, bei dessen erneutem Einzug ins Weiße Haus „einen hohen Posten übernehmen [könnte]“: „Trotz meiner großen Zuneigung für Deutschland macht mich das weniger verständnisvoll, wenn ich sehe, dass die deutsche Regierung viel weniger für Verteidigung ausgibt als wir, dafür aber eine allgemeine Krankenversicherung und großzügige Sozialleistungen […] finanziert.“) Auch das Kanzleramt, wusste die Welt zu berichten, verwies in der aktuellen Debatte „auf die enormen Kosten, die mit der Stärkung der nuklearen Abschreckung Europas verbunden wären. Viele Länder haben bereits jetzt Schwierigkeiten, die bestehenden Ausgabenziele der NATO zu erreichen.“

Besser sieht es, was das Stemmen anbetrifft, wahrscheinlich in technischer Hinsicht aus. Zwar verfügt Deutschland über keine Kapazitäten zur Urananreicherung, wie sie zur Herstellung entsprechender Sprengköpfe erforderlich wären, doch allein durch die jahrzehntelange zivile Nutzung der Kernenergie sollten sich genügend Tonnen Plutonium angesammelt haben, das sowohl direkt für Atombomben jenes Typs, wie ihn die USA am 9. August 1945 auf Nagasaki abgeworfen haben (Spaltmaterial: etwas über sechs Kilogramm, Sprengkraft: 21 Kilotonnen TNT), wie darüber hinaus zur Produktion von Zündern für Wasserstoffbomben mit weit höherer Sprengkraft Verwendung finden könnte.

Schließlich stellt sich noch die Frage, wie sich angesichts der Erfahrungen mit Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unsere Nachbarn und EU- sowie NATO-Partner zu einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr stellen würden. Wer annähme, dass Frankreich und Großbritannien, da selbst Atommächte, sich keine oder kaum Sorgen machen würden, der sei nur daran erinnert, wie die damaligen Staatschefs Mitterand und Thatcher 1989/90 auf die ersten Anzeichen einer deutschen Vereinigungsperspektive reagiert haben – öffentlich ohne Enthusiasmus und intern harsch ablehnend. Und vom derzeitigen polnischen Außenminister Sikorski ist zwar aus dem Jahre 2011, da hatte er das Amt schon einmal inne, das Bekenntnis überliefert: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit.“ Doch ob damit selbst deutsche Atomwaffen quasi abgesegnet wären, sollte besser im Vorhinein gecheckt werden. Damit Deutschland nicht am Ende des Tages statt nur von Freunden von allgemeinem Misstrauen umzingelt ist.

Ein letzter Aspekt, der in diesem Kontext erwähnt werden muss, ist die ebenso allgemeine wie unglaubliche Überlegenheit der NATO gegenüber Russland im Bereich der konventionellen Streitkräfte (siehe ausführlich Blättchen 15/2022). Gerade erst hat der bisherige NATO-Generalsekretär Stoltenberg laut Welt vom 14.06.2024 verkündet: „Wir haben heute 500.000 Soldaten in hoher Bereitschaft über alle Domänen (der Kriegsführung), […] deutlich mehr als das Ziel, das beim Gipfeltreffen in Madrid 2022 gesetzt wurde.“

Welchen Zugewinn an internationaler Sicherheit in und für Europa eine deutsche Atomstreitmacht da bringen sollte, erschließt sich nun wirklich nicht. Oder um es mit den Worten von Michael Rühle zu sagen, der über 30 Jahre bei der NATO tätig war und dessen Publizistik ihn als profunden Kenner in Sachen atomarer Abschreckung ausweist: „Wenn selbst ein Bündnis aus 32 Staaten, das Russland um ein Vielfaches überlegen ist, Moskau nicht von einem Angriff abhalten könnte, müsste dies eigentlich zu dem Schluss führen, dass Russland nach menschlichem Ermessen überhaupt nicht mehr abschreckbar ist. Eine Aufstockung der militärischen Fähigkeiten der NATO […] bliebe dann wirkungslos. Stattdessen müssten die Regierungen der Bündnisstaaten ihre Bürger auf einen unvermeidlichen Krieg einschwören.“

*

Aber von allem bisher Gesagten einmal abgesehen, würde die politische Führung des Landes in absehbarer Zeit die Anschaffung von Atomwaffen beschließen, in welcher sicherheitspolitischen Lage wäre Deutschland dann 25 bis 30 Jahre später. Denn solange würde der Aufbau entsprechender Fähigkeiten nach Auffassung eines hohen NATO-Beamten dauern, wie die Welt berichtet hat. (Diese Spanne wird durch die übliche Laufzeit von Großwaffenprogrammen im Bereich der NATO ohne Weiteres bestätigt.)

Was hätte Deutschland im Hinblick auf einen kriegerischen Konflikt mit Moskau hinzugewonnen? Vorausgesetzt die Zwischenjahrzehnte könnten ohne Krieg mit Russland über die Runden gebracht werden.

Deutschland wäre dann in der Lage, Russland für den Fall eines Angriffs oder gar eines Einsatzes von dessen Kernwaffen einen unakzeptablen Schaden durch nukleare Vergeltung in Aussicht zu stellen. Im Ausführungsfalle liefe dies auf einen wechselseitigen Atomkrieg hinaus, der mit großer Wahrscheinlichkeit zur Zerstörung all dessen führen würde, was zu verteidigen wäre. Das war es, was der konservative US-amerikanische Publizist Leon Wieseltier schon zu Beginn der 1980er Jahre vor Augen hatte, als er formulierte: „[…] Abschreckung ist wahrscheinlich das einzige politische Konzept, das total versagt, wenn es nur zu 99,9 Prozent erfolgreich ist.“

Und käme es nicht zur Ausführung, aber es bliebe bei anhaltender Feindschaft zwischen dem Westen und Russland, ergäbe sich ein Dauerzustand wie während des gesamten ersten Kalten Krieges – die Katastrophe kann jederzeit hereinbrechen, da die Mittel dafür einsatzbereit gehalten werden, und weil Feindschaft immer wieder mögliche Auslöser hervorbringt. Am Ende des ersten Kalten Krieges galt schließlich, was Robert McNamara, als US-Verteidigungsminister an der Kuba-Krise unmittelbar beteiligt, später zum Ausgang derselben gesagt hat: „Wir standen so nah am nuklearen Abgrund. Wir haben den Atomkrieg nicht durch kluges Management verhindert, wir hatten Glück.“

Und für eine derartige Perspektive Kurs auf eine Atommacht Deutschland nehmen? Die Frage stellen, heißt sie beantworten.

*

Aber – welche Alternative für das künftige Verhältnis zu Russland gäbe es dann?

Einen möglichen Anknüpfungspunkt liefert meines Erachtens die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen. Beide Staaten hatten seit Beginn des 19. Jahrhunderts vier ein ums andere Mal ausgreifendere Kriege gegeneinander geführt, von denen die beiden verheerendsten, der Erste und der Zweite Weltkrieg, von Deutschland ausgegangen waren. 1870 hatte zwar Frankreich angegriffen, war dazu aber durch Bismarck mittels der sogenannten Emser Depesche zielgerichtet animiert worden. Trotzdem nahmen führende Vertreter beider Länder bereits wenige Jahre nach 1945 und maßgeblich initiiert durch einen Vorschlag des damaligen französischen Außenministers Robert Schuman vom 9. Mai 1950 einen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Prozess in Angriff, um einen weiteren Krieg „nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich zu machen“. Das wurde der Auftakt zu einer grundsätzlichen und dauerhaften Entfeindung des beiderseitigen Verhältnisses, die zu anhaltender deutsch-französischer Kriegsverhütung geführt hat. Schon 1963 war mit dem Élysée-Vertrag der Grundstein für eine Freundschaft zwischen Deutschen und Franzosen und eine gemeinsame friedliche Zukunft gelegt. Die vorherige Erbfeindschaft, so eine Epoche lang die offizielle deutsche Diktion gegenüber Frankreich und praktisch nur ein schlecht kaschierendes Synonym für Todfeindschaft, war damit Geschichte …

Abgeschlossen am 8. Juli 2024.

 

PS: Nach Medienberichten haben die USA und Deutschland während des NATO-Gipfels in Washington (9. bis 11. Juli) in einem gemeinsamen Statement darüber informiert, dass ab 2026 erneut US-Marschflugkörper (Cruise Missiles) vom Typ Tomahawk in Deutschland stationiert werden. Die landgestützte Version dieses Trägersystems war auf der Grundlage des sogenannten NATO-Doppelbeschlusses von 1979 ab 1983 schon einmal auf (west-)deutschem Boden stationiert worden. (Die Verhinderung dieses Vorhabens war eines der Hauptziele der damaligen mächtigen internationalen Friedensbewegung, in der sich über Jahre hinweg Millionen von Menschen engagierten.) Seinerzeit waren die US-Cruise Missiles nuklear armiert (Sprengkraft: bis zu 150 Kilotonnen TNT) und hatten eine Reichweite von bis zu 2500 Kilometern.

Am 11. Juli betonte Bundesverteidigungsminister Pistorius in einem Interview mit Deutschlandradio, dass es sich nur um eine zeitweise US-Stationierung handeln werde und Deutschland daher perspektivisch selbst entsprechende Langstreckensysteme beschaffen müsse. Pistorius wörtlich: Die Stationierung sei „eine klare US-Entscheidung, die anerkennt, welche Bedeutung Langstreckensysteme haben. […] Gleichzeitig bedeutet das aber auch an uns, die Europäer und Deutschland allen voran, den Auftrag […], dass wir selber investieren in die Entwicklung und Beschaffung von derartigen Abstandswaffen. […], und diese temporäre Stationierung ab nächstes Jahr [sic!] wird uns genau die Zeit geben, die wir dafür brauchen.“

Dazu, welche Art von Sprengköpfen – konventionell oder nuklear – entsprechende deutsche Abstandswaffen in Zukunft tragen sollten, hüllte sich der Minister in Schweigen.

 

* – Bereits Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler, Hacke erinnerte in der Berliner Zeitung daran, sowie Franz Josef Strauß, der zeitweilige Verteidigungsminister in dessen Kabinett, hegten entsprechende Ambitionen. O-Ton Adenauer, 1958: „Der potenzielle Gegner der NATO ist die Sowjetunion, der Ostblock. Die Sowjetunion ist mit nuklearen Waffen und Raketen aufgerüstet. Wenn ein wichtiger Teil der NATO [die BRD – W.S.] nicht Waffen gleicher Stärke wie der potenzielle Gegner besitzt, ist sie [Wer? Die ganze NATO? – W.S.] bedeutungslos und zwecklos geworden.“