Der Krieg ist Vater aller Dinge“ behauptete der Grieche Heraklit vor zweieinhalbtausend Jahren. Es sei dahingestellt, ob das wirklich für alle Dinge zutrifft, aber für die Staatsverschuldung stimmt es. Obwohl Fürsten, Könige und Kaiser oder auch Städte und Stadtstaaten Steuern und Abgaben erhoben und einen Staatsschatz für alle Fälle bildeten, wurden Kriege seit jeher mit Plünderungen oder Kontributionen, später mit Münzverschlechterungen und der Notenpresse, immer aber auch mit Krediten finanziert.
Und seit jeher wurde die Staatsverschuldung kontrovers diskutiert. Martin Luther schrieb darüber. Adam Smith widmete ihr ein Kapitel in seinem Hauptwerk. Vor reichlich 200 Jahren veröffentlichte David Ricardo seinen berühmten Artikel „Über das Anleihesystem“ in der Encyclopaedia Britannica. In jener Zeit war etwa die Hälfte aller Staaten Europas infolge der napoleonischen Kriege überschuldet, viele (darunter Preußen, Westfalen und Hessen) mussten ihren Bankrott eingestehen.
Ricardo erklärte, es mache keinen großen Unterschied, ob der Staatshaushalt mit Steuern oder geliehenem Geld finanziert würde, weil Kredite letztlich mit Steuereinnahmen zu tilgen seien. Er thematisierte weder das zeitliche Problem (Mehreinnahmen und -ausgaben heute und Rückzahlung später) noch die soziale Differenzierung, die dadurch entsteht, dass die Gläubiger mittels verzinslicher Kreditvergabe an den Staat ihr Kapital vermehren.
Karl Marx und Friedrich Engels, die auf die Bedeutung der Staatsschulden für die Entwicklung des Kapitalismus hingewiesen hatten, schrieben der Arbeiterklasse ins Stammbuch, „wenn die Demokraten die Regulierung der Staatsschulden verlangen, verlangen die Arbeiter den Staatsbankrott“, also die Einstellung des Schuldendienstes.
Der Schuldendisput ebbte auch im 20. Jahrhundert nicht ab. Ganz im Gegenteil, jetzt ging es erst so richtig los. Viele Bibliotheksregale füllten sich mit Literatur über das Für und Wider öffentlicher Schulden. Befeuert wurde die Diskussion vor allem durch John M. Keynes, der nach dem Kriegseintritt Großbritanniens angesichts seiner begrenzten Ressourcen Kreditaufnahme im Ausland für unumgänglich hielt. Den Schuldenerlass, den die Westalliierten der Bundesrepublik 1953 gewährten, hätte er zweifellos begrüßt, denn er war ein wichtiger Baustein zur Integration das BRD in das westliche Bündnis- und Wirtschaftssystem. Schon mit der von den USA organisierten Währungsreform von 1949 hatte der westdeutsche Staat seine innere Verschuldung faktisch beseitigt.
Nach der ersten deutschen Nachkriegskrise wurde1969 im Artikel 115 des Grundgesetzes festgelegt, die Kredite dürften die öffentlichen Investitionen nicht übersteigen. Ausnahmen seien zur Abwehr von Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und hinsichtlich von Sondervermögen des Bundes möglich. Obwohl der Eintrag im Grundgesetz einem Machtwort gleichkam, war die Diskussion keineswegs beendet. Was kann als öffentliche Investition angesehen werden? Wann liegt eine Gleichgewichtsstörung vor. Wofür dürfen Sondervermögen in welcher Höhe gebildet werden? Welche Form sollen die Kredite haben, wie sollen sie getilgt werden?
Als sich die Wirtschaftspolitik um 1980 von den durch Keynes inspirierten Auffassungen abwandte, begannen auch die Bemühungen, den Artikel 115 abzuschaffen oder zu reformieren. Die hohen Staatsausgaben für Soziales und die Infrastruktur waren den Vertretern des neuen, jetzt neoliberalen Mainstreams ein Dorn im Auge und sollten mittels einer Begrenzung der Kreditfinanzierung eingedämmt werden. Sozialausgaben seien sowieso viel zu hoch und viele öffentliche Projekte seien in Privathand besser aufgehoben. Es gelang zwar nicht, wie beabsichtigt, die Staatsquote zu senken, aber nachdem schon im Rahmen des europäischen Maastricht-Vertrages die Staatsdefizite und öffentliche Schulden strikt auf maximal 3 bzw. 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts begrenzt worden waren, war es 2009 auch in Deutschland soweit: Die schwarz-rote Regierung brachte eine Änderung des Grundgesetzes auf den Weg.
Der bisherige 115 wurde völlig umgeschrieben. Es trat die umgangssprachlich als Schuldenbremse bezeichnete Regelung in Kraft. Statt ihrer Bindung an die Investitionen wurden nun relativ strikte Grenzen für Defizite infolge konjunktureller Schwankungen und für die darüber hinaus gehende, sogenannte „strukturelle“ Verschuldung sowie für Notlagen festgelegt. Kritiker der Neuregelung wiesen schon damals darauf hin, dass, abgesehen von den rechnerischen Schwierigkeiten, konjunkturelle von strukturellen Verschuldungen zu unterschieden, den Regierungen ein völlig unnötiger Mühlstein im Hinblick auf die Finanzierung von Zukunftsaufgaben und für die Überwindung unkalkulierbarer Notfälle um den Hals gelegt wurde. Die Landesregierungen sind noch ärger dran; sie dürfen nur noch konjunkturell bedingte Kredite aufnehmen, eine strukturelle Verschuldung ist für sie nicht vorgesehen. Entsprechende Verfassungsänderungen wurden überall durchgedrückt.
Der Notfall ist nun seit ein paar Jahren zur Realität geworden. Der Lockdown, die Russland-Sanktionen und der Rüstungskurs haben zu einer extremen Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation geführt, die sich in den öffentlichen Haushalten niederschlägt. Darüber hinaus erfordert die klima- und energiepolitische Wende wohl mehr als die ursprünglich veranschlagten Mittel. Den finanzpolitischen Trick, die für die Bekämpfung der Corona-Krise geplanten Mittel einfach umzuwidmen, hat das Bundesverfassungsgericht voriges Jahr verboten. Was also bleibt, sind Sondervermögen, Kredite, die der Begrenzung durch den Artikel 115 des Grundgesetzes nicht unterliegen.
Obwohl auch andere Staaten ihre „Schuldenbremsen“ haben, ist Deutschland besonders restriktiv und viele Experten schütteln mit dem Kopf oder machen sich gar lustig. Der IWF-Chefökonom Pierre-Olivier Gourinchas konstatiert angesichts der Haushaltskrise: „Deutschland zahlt den Preis für seine sehr harte Schuldenbremse.“
Über die Lösung der haushaltspolitischen Verknotungen wird heiß diskutiert. Prinzipiell sind drei Wege und deren Kombinationen möglich.
Der FDP-Finanzminister Christian Lindner favorisiert natürlich Haushaltseinsparungen. In seinem grenzenlosen Vertrauen in Privatwirtschaft und die Märkte glaubt er, dadurch würde das Vertrauen in die Regierung gestärkt und die Leute würden wieder mehr Geld ausgeben und die Unternehmen wieder mehr investieren. Diese Leier ist von der FDP seit eh und je zu hören. Aber mittels Sparappellen ist eine Wirtschaft noch nie angekurbelt worden.
Der zweite Weg ist eine Steuererhöhung oder eine Sonderabgabe. Sie dürften freilich nicht die unteren Schichten treffen, die dann weiter ins soziale Abseits gerieten. Aber es gibt ein erhebliches Einkommensgefälle und eine enorme Vermögensdiskrepanz. Die Oberschichten und Hochvermögenden könnten durchaus mehr in den gemeinsamen Topf einzahlen. Für sie wurden in den zurückliegenden Jahrzehnten massive Steuererleichterungen gewährt, die nicht unerheblich zu gefährlichen Finanzblasen geführt haben, weil diese Mittel in viel zu geringem Ausmaß für Realinvestitionen verwendet wurden. Zudem wird seit 1997 faktisch keine Vermögensteuer mehr erhoben; ihre Wiedereinführung auf neuer Grundlage wäre auch verfassungsrechtlich geboten. Diesen Weg der Lösung der Haushaltskrise fasst die bestehende Regierung angesichts des FDP-Vetos überhaupt nicht ins Auge.
Der dritte Weg ist die Ausweitung der Kreditfinanzierung. Dazu müssten entweder die entsprechenden Artikel des Grundgesetzes aufgehoben oder reformiert werden. Oder es müsste in stärkerem Maße auf die Bildung von Sondervermögen, wie im Falle des 100-Milliarden-Bundeswehr-Sonderfonds zurückgegriffen werden. Natürlich ist das Defizitfinanzierung (deficit spending) , aber formal würde die Schuldenbremse nicht verletzt. Nicht wenige Wissenschaftler votieren für eine Reform der Schuldenbremse, entweder durch Rückkehr zu einer modifizierten Investitionsregel oder durch eine Flexibilisierung der bestehenden Restriktionen. Die Bundestags-Gruppe Die Linke hat jetzt einen Gesetzentwurf eingebracht, der auf den jüngsten Vorschlägen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beruht. Fürs Erste beinhalten sie die Einführung einer Übergangsphase für die Rückkehr zur Schuldenbremse, die Erhöhung der Defizitgrenze für die strukturelle Verschuldung und eine andere Berechnung von konjunktureller und struktureller Verschuldung, um die fiskalischen Spielräume zu erweitern. Die Vorschläge wurden in den Haushaltsausschuss verwiesen. Würden sie angenommen, was eher unwahrscheinlich ist, wäre das vielleicht kein Durchbruch, aber immerhin ein Anfang.
Die regierungsamtliche Ausrufung einer „Zeitenwende“ und die Zuspitzung der Haushaltsprobleme seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine scheinen Heraklit zu bestätigen: „Der Krieg ist Vater aller Dinge“. Ein anderer berühmter Sozialwissenschaftler, Joseph A. Schumpeter, veröffentlichte gegen Ende des Ersten Weltkriegs eine Broschüre über „Die Krise des Steuerstaates“. Der Bankrott eines alten Systems sei immer auch ein Bankrott seines Finanzsystems. Und er fügte hinzu, „wer die Botschaft der Finanzgeschichte zu hören versteht, der hört da deutlicher als irgendwo den Donner der Weltgeschichte.“ Lieber ein solcher Donner als ein Donner von Kanonen.
Schlagwörter: Grundgesetz, Jürgen Leibiger, Krieg, Schuldenbremse, Staatsschulden