27. Jahrgang | Nummer 9 | 22. April 2024

Die DDR vor und nach 1990

von Ulrich Busch

Was war die DDR? Ein Regime „kommunistischer Gewaltherrschaft“, wie die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur behauptet, ein Gemeinwesen des „rohen Kommunismus“, wie der Philosoph Peter Ruben meint, oder der gescheiterte Versuch des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft, wie die meisten DDR-Historiker annehmen? Von der Antwort auf diese Frage hängt die Einordnung der DDR in die deutsche Geschichte ab, ihre Wertung als „Kollaborationsregime auf Basis eines Okkupationskommunismus“ (Hans-Ulrich Wehler), ihre Deutung als bloße „Fußnote in der Weltgeschichte“ (Stefan Heym) oder ihre Fassung als realsozialistisches Experiment, als „Sozialismusversuch“ und Vorboten eines „besseren Deutschlands“ (Stefan Bollinger).

Diese und weitere Fragen waren Gegenstand einer Tagung des Vereins Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg Stiftung Berlin am 26. Oktober 2021. Inzwischen liegt die Publikation zu dieser Tagung vor. In ihr sind die Vorträge, ergänzende Diskussionsangebote sowie die Podiumsbeiträge dokumentiert. Dabei fällt sofort eine „Schieflage“ ins Auge: Von den 15 Autoren weisen 13 eine DDR-Biografie auf und nur zwei eine West-Sozialisation.

Im einleitenden Referat betont Stefan Bollinger, dass die DDR „mehrheitlich für die Medien und die seröse Wissenschaft ein abgeschlossenes Kapitel einer unliebsamen Geschichte“ sei. Nichtsdestotrotz lasse eine Durchsicht einschlägiger Arbeiten hierzu bislang Darstellungen zur „gemeinsamen Geschichte“ von DDR und BRD vermissen. Auch wurde die Geschichte der DDR bisher fast nur in „der Sprache der Sieger erzählt und verbreitet“, was für alternativ Denkende eine Herausforderung darstelle. Zudem werde heute kaum mehr bestritten, dass „die DDR-Gesellschaft als Sozialisationszusammenhang und zeitgeschichtlicher Erfahrungswert“ den Staat DDR überdauert hat: „Die DDR ist noch da.“ Obwohl es eine Masse an Veröffentlichungen über die DDR gibt, so Bollinger, sei den Forschern bislang offenbar „die letzte Klarheit dieses Gesellschaftswesens“ verborgen geblieben. Insofern sei es legitim, sich mehr als 30 Jahre nach dem Untergang der DDR als Staat weiter mit der DDR als Gesellschaft und als sozialhistorischem Experiment zu beschäftigen. Die wechselseitige Geschichte beider deutscher Staaten, so der Autor, sei in ihrer Verflochtenheit und Differenziertheit bei Weitem „nicht ausgeforscht“. Vielmehr stelle sie eine Herausforderung für die Zukunft dar. Der Aufsatz enthält viele kluge Einsichten und zutreffende Feststellungen. Da der Autor jedoch teilweise auf eine Interpunktion verzichtet, stellt die Lektüre für den Leser mitunter eine nicht unerhebliche Herausforderung dar.

Es folgt der überarbeitete Nachdruck eines bereits zuvor veröffentlichten Aufsatzes von Mario Keßler über „akademische Westemigranten in der DDR“. Ein interessanter Text, womit jedoch der inhaltlich bestimmte Lesepfad unterbrochen wird.

Mit dem sich hieran anschließenden Aufsatz von Jürgen Hofmann über die DDR als „Teil der deutschen Nationalgeschichte“ wird der Anschluss an den Eingangstext aber wieder hergestellt. Hofmann zeigt sehr klar, dass mit der 1990 getroffenen Entscheidung über die Art und Weise der Vereinigung („Anschluss statt Wiedervereinigung“) die Richtung für die weitere Entwicklung vorgegeben worden sei. Und damit auch die heute beklagte Unterrepräsentation der Ostdeutschen in der bundesdeutschen Politik und Gesellschaft. Ferner arbeitet er heraus, dass der „diskriminierende Blick auf die DDR“ eine lange Vorgeschichte und insbesondere der Antikommunismus von Anfang an zu „den konstitutiven Faktoren der Bundesrepublik“ gehört habe. Im Unterschied zu offiziellen Verlautbarungen betont er die anhaltenden ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Unterschiede zwischen Ost und West, worin sich die „vorangegangene Desintegration“ bestätige. In der Vereinigungspolitik der zurückliegenden Jahre seien, so der Autor, „neue Quellen für Desintegration“ hinzugekommen, was in Bezug auf die Zukunftsaussichten wenig optimistisch stimme.

Einen originellen und sich auch sprachlich von den Texten der Historiker positiv abhebenden Beitrag hat die Kultursoziologin Yana Milev geliefert, indem sie gegen die Praxis der kolonialistischen Einvernahme der DDR im Zuge der deutschen Vereinigung anschreibt. In ihrem Text thematisiert sie „die gesellschaftspolitischen und kulturellen Verwerfungen und Beschädigungen, mit denen DDR-Sozialisierte ab 1990 konfrontiert wurden“, als „Dritte Schuld“. Die „Erste Schuld“ sei der „deutsch-faschistischen Überfall auf die Sowjetunion von 1941“, die „Zweite Schuld“ die Wiedereingliederung der Nazi-Eliten in die Bundesrepublik. Nach der „Einverleibung der DDR“, ihrer „als ‚Wiedervereinigung‘ getarnten Annexion“, folge nun, so die Autorin, die „rückwirkende Kriminalisierung der DDR“ als „Dritte Schuld“. Milev zitiert zahlreiche Quellen, verirrt sich mitunter aber im Begriffsdschungel. Zum Beispiel, wenn sie in Bezug auf die DDR von einer „Nation“ spricht und die DDR-Sozialisierten als „einstiges ‚Volk‘“ oder „Exil-Ostdeutsche“ bezeichnet. Die Vereinigungs- und Integrationspolitik der Bundesregierung kritisiert sie als „Assimilationspolitik des Westens im Osten“, als „Ostrazismus“. Sie deutet sie damit als Variante des Neo-Rassismus und verwendet diesen Terminus zur Benennung „gesellschaftlicher Exklusions-Vorgänge“. Man kann diese Begriffsbildungen als Zuspitzung und bewusste Provokation ansehen und sie als solche tolerieren. Allgemeine Akzeptanz aber wird die Autorin damit nicht erreichen.

Im zweiten Teil sind die Podiumsbeiträge abgedruckt. Dabei stechen die Texte von Peter Brandt, Siegfried Prokop und Thomas Kacza hervor. Brandt zeigt, wie „eine Sicht von außen“ hilfreich sein kann, ein Phänomen wie die DDR auch nach deren Untergang besser zu verstehen. Prokop erinnert an eine Textstelle bei Gerhard Zwerenz und die Bezugnahme auf eine Äußerung von Wolfgang Harich über das Fraktionsverbot in der SED. Er verfolgte die Debatten dazu bis Ende der 1970er Jahre, als Fritz Behrens Zwerenz kontaktierte und ihn darum bat, ihm bei der Findung eines Verlags für seine Studien behilflich zu sein. Die Studien erschienen erst 1992 im Akademie-Verlag unter dem Titel „Abschied von der sozialen Utopie“. Ursprünglich enthielt der Titel ein Fragezeichen. Die „zeitgeistbeflissene Streichung“ desselben sei, so Prokop, eine Verfälschung der Intention von Behrens. Kacza wiederum befasst sich mit der DDR als dem „Versuch“, eine „andere Gesellschaft“ zu schaffen. Er gelangt dabei zu dem Schluss, das DDR-System habe insgesamt „keine tragfähige alternative gesellschaftliche Entwicklungsrichtung“ verkörpert, aber doch einige Voraussetzungen dafür enthalten.

Abschließend fasst Bollinger wesentliche Aussagen der Diskussion zusammen. Sein Fazit: Der „große Boom der DDR-Geschichtsschreibung“ ist vorbei, „das Ringen um Interpretationen und Inhalte“ aber halte an.

 

Stefan Bollinger (Hrsg.): Die DDR in der gesamtdeutschen Geschichte. Vertane Chance – Sackgasse – Nachwirkungen. Edition Bodoni, Buskow bei Neuruppin 2023, 204 Seiten, 18,00 Euro.